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Mexiko ist unerwünscht. Wer den Kaiser erzürnen will, wer das Kaiserreich erzürnen will, braucht nur das Wort auszusprechen.
Der wolkenlose Augusttag drückte auf Saint Cloud, als sei es vor dem Gewitter. Es war ein gereizter, geladener und aufgestocherter Tag, der sich für den Sommerprunk von Himmel, Park und Schloss nicht schickte. Aber auch der Herr, der kranke Herr, welcher im Kern der unleidlichen Unruhe hockte, war so regelwidrig wie der Tag, so gegen alle sanfte Übung und höfliche Gewohnheit. Er hatte die Vichy-Kur, die so notwendig war wie noch nie, unterbrechen müssen und war nach Paris zurückgekehrt, genauer gesagt: er war nach Saint Cloud transportiert worden. Und Benedetti war aus Berlin gekommen, der deprimierte Zeuge bismarckischer Entwicklung vom Spieler zum Gewinner, zum harten Gewinner, zu einem Sieger von der gleichen bodenlosen Offenheit, wie er es als Tributar des Glücks gewesen war. Zu alledem, zu Benedettis drückendem Bericht, zu dem gereizten Gerenne der herbeigepfiffenen Staatswürdenträger und hohen Militärs und zu der Schmerzenslast des Körpers kam noch dies, das gänzlich Unerwünschte, das beinahe lächerlich Unzeitgemässe – und es erschien in der peinlichsten Form.
Eugenie war unverrichteter Sache aus Paris zurückgekommen, erschöpft, nervös und demütig. Denn sie war die Fee des mexikanischen Kaiserreichs und wünschte nun, sie wäre es nicht. Es war ein böses Märchen geworden und hatte vieles verschuldet: und vor fünf Wochen, in jener schlimmen Nacht nach dem abgebrochenen Ministerrat und den unbeschlossenen Dekreten, redete sie sich ein, dass es auch Biarritz verschuldet habe und Sadowa und die Konzession auf das Ende, weil es schuld ist an des Kaisers Misstrauen gegen den Rat der Fee; und jetzt wurde es noch ein todtrauriges Märchen. »Sie kommt, sie fährt nicht nach Belgien, sie kommt auf jeden Fall, auch uneingeladen; und empfängst du sie nicht, so wird sie bei dir eindringen; denn sie glaubt auch nicht, dass du krank bist. Sie ist sehr seltsam, sehr seltsam …«
Die Trommeln wirbelten. Der Kaiserliche Prinz, zehnjährig jetzt, stand scheu und schön im Schlosshof, hinter ihm öffnete sich die Gasse der Ehrenkompagnie, er stand fein und klein vor den baumlanger Kaisergardisten mit den Bärenmützen, er trug ein weisses Uniförmchen und um den Hals einen mexikanischen Orden. Denn es kam die Kaiserin von Mexiko.
Die vierspännige Equipage mit Bereitern rollte auf dem breiten Parkweg heran und hielt vor Loulou, der den Schlag öffnete und artig die schwarzbehandschuhte Hand der Dame erfasste. Eine junge Frau von sechsundzwanzig Jahren stieg aus und sah mit ruckweisen Bewegungen des Kopfes um sich; dann erst beugte sie sich zu dem Knaben herab, nannte ihn »Liebling«, musterte ihn aber sonderbar, so dass Loulou vor dem nahen, ganz weissen Gesicht etwas Angst verspürte oder vor den Augen, die ihn anschauten und dabei doch nicht stillstanden. So schloss er erschrocken die Augen und hielt den Kopf steif; als sie ihn plötzlich an sich drückte und doch nur flüchtig auf die Stirn küsste. Dann führte er sie an der reglosen und schwitzenden Ehrenkompagnie vorbei. Sie grüsste mit kleinen Rucken des Kopfes und dann grüsste sie den Himmel. Loulou schaute verwundert empor. »Meine Fahne«, sagte sie, und auch Loulou grüsste die mexikanische Flagge, die vom Schlossturm hing. Charlotte trug ein schwarzes Kleid und eine schwarze Spitzenmantille, trotz der Hitze; denn sie war die Kaiserin von Mexiko.
Rechts und links auf der Treppe, die zu den Privaträumen des Kaisers führten, standen die silbernen Erzengel der Cent-Gardes. Charlotte sah nicht in den blanken Spiegel der Kürasse, wie es alle Frauen taten, die hier oder über die grosse Tuilerientreppe den Aufstieg wagten und schön sein wollten: sie überflog, auf jeder Stufe mit ruckweiser Bewegung nach rechts und links schauend, die bärtigen Gesichter unter den Rossschweifhelmen, lauter Kaisergesichter. Sie hatte noch böse Augen, als sie, im ersten Stock angelangt, von Loulou losgelassen und von Eugenie empfangen wurde. Die beiden Kaiserinnen umarmten sich, und Eugenie flüsterte an Charlottens Wange: »Es geht ihm nicht gut, bitte möglichste Rücksicht …« Eugenie fuhr zurück; denn Charlotte lachte auf.
Der Kaiser erhob sich sehr mühsam, Charlotte sah ihm misstrauisch zu; denn sie glaubte ihm nicht die Krankheit und die Gesichtsfarbe, die noch im gedämpft durch die Sonnenrouleaus einfallenden und milden Licht des Raums grellgelbe Haut, die geschwollenen Lider und dicken Säcke, die zwischen sich die Augen begruben, sie glaubte ihm nicht, dass seine Schranzen, Ordonnanzen und Equipagen durch ein Versehen an einem falschen Bahnhof zu ihrem Empfang bereit standen, als sie vorgestern vormittags in Paris ankam; sie glaubte ihm nicht, dass, als sie in St. Nazaire landete, keine Mexiko-Fahne im Hafenort aufzutreiben war und kein Präfekt und keine Ehrentruppe und dass man sie in Frankreich mit nichts anderem bewillkommnen konnte als mit dem Worte Sadowa. Das Wort bedeutete nur ein Unglück mehr, und da alles Unglück von dem kam, dem sie nichts glaubte, kam auch Sadowa durch ihn.
Eugenie hatte Angst, die Kaiserin von Mexiko möchte wieder lachen, und redete hastig dies und das, vom heissen Wetter und vom artigen Loulou, und dann bat sie den Gast, es sich bequem zu machen. Der Kaiser sass schon wieder, hob das Kinn und sah mit leerem Lächeln in die Luft. Charlotte ordnete, steif sitzend, ihr schwarzes Kleid, sah noch einen Augenblick in starrer Haltung auf den Kaiser und hob dann mit einem Ruck die Hand. Eugenie schwieg erschrocken, der Kaiser wandte das Gesicht langsam dem Gast zu, betrachtete die gebieterisch erhobene Hand, dann das junge, hübsche, heftige Gesicht, das schöne, braune Haar und schliesslich die Augen, die nicht stillstanden.
»Sire«, brach Charlotte los und ihre Hand zerrte Schriftstücke aus dem schwarzen Seidenbeutel, »ich bin gekommen, übers Meer zu Ihnen, um unsere Sache zu retten. Und unsre Sache ist Ihre Sache. Da – hier – das ist ein Handschreiben vom Kaiser, von Max, und da sind politische, administrative, finanzielle Situationsberichte – doch dies später, später … Majestät, ich flehe Sie an, lassen Sie nicht räumen, rufen Sie nur Bazaine ab, der kein Freund ist von uns und Mexiko, lassen Sie die Truppen in Mexiko, bis zur vollständigen Pazifizierung, ich flehe Sie an! Ich beschwöre Sie, verlassen Sie uns nicht, verlassen Sie nicht Ihre eigene Sache! Denken Sie an die furchtbare Lage des Kaisers, von Max, ich beschwöre Sie!«
Sie hatte ein helle, harte Kinderstimme, sie beschwor und flehte und bat, den Worten nach, aber sie forderte und drohte, dem Ton nach. Sie hatte unablässig wandernde Augen, ermüdende Augen. Der Kaiser sah fort. Wo sind das Mitleid und sein gutes Herz? Der schwere Tag liegt drauf. Das höchst fatale Mexiko liegt drauf. Was sie jetzt über die Situation sagt, hell und hart und hastig, weiss er besser; was sie an Unglücksdaten nennt, ist überholt, von neuem Unglück, und die grossen Zusammenhänge kennt sie nicht. Washington ist ja nach dem Ausbruch des Deutsches Krieges zum diplomatischen Angriff übergegangen. Räumung, das Monroe-Postulat der Union, bedeutet nun schon zweierlei: Evakuation der französischen Truppen und Abdankung des Österreichers, – dahinter steht das Ultimatum und hinter dem Ultimatum die Uniontruppen, in Texas massiert. Auch noch Krieg mit USA, nach Sadowa? Es ist leider zum Lachen, hübsche, kleine, arme, belgische Mexikanerin. Soll man es ihr alles sagen? Soll man ihr sagen, dass immer mehr Provinzen und Städte dem Indianer Juarez gehören, schon wieder mehr, als sie weiss, nun auch Tampico, – und dass Bazaine sich nicht mehr rühren wird, sondern »konzentriert« und die Order hat, bis zum Anfang 1867 die Räumung beendet zu haben, als äussersten Termin?
»Ich bin sehr traurig, Madame, sehr traurig. Aber ich kann nichts tun, es hängt nicht von mir ab, sondern von der Entwicklung der Dinge, und die Ereignisse, Madame, sind stärker geworden als mein Herzenswunsch, Ihnen noch weiter zu helfen. Ich bin sehr traurig.«
Das sagt, immer wieder, ein kranker und traurig ausschauender Mann, sie mag es glauben oder nicht.
»Sire, widerrufen Sie die Räumung!« Sie wiederholt es immerzu, das macht müde. Man hat »nein« gesagt und »leider unmöglich«, man hat den Kopf geschüttelt und schliesslich bleibt man still und schliesst die Augen. »Sire, Sie haben dem Kaiser doch versprochen, ihn niemals zu verlassen, Sie haben doch Gerechtigkeitsgefühl, Sie können uns doch nicht in den Abgrund stossen, Sie haben doch eine Ehre!«
Eugenie musste einschreiten. »Liebe Charlotte, ich bitte Sie, Sie sind überreizt …« Die Kaiserin von Mexiko hob gebieterisch die Hand. Eugenie sah ängstlich zu ihrem Mann. Der Kaiser rührte sich nicht. – Vielleicht schläft er, dachte sie. Charlotte sprach von der ungeheuren Macht eines, der ein Vierzigmillionenvolk beherrscht, von dem Kaiser von Europa, dem Schiedsrichter von Europa, der nicht gut das Recht habe, zu behaupten, er könne nichts mehr tun für Mexiko, – sie sprach immerzu, hell, hart und hastig, es war gewiss – man brauchte nicht mehr hinzusehen –, dass ihre Augen hin und her zu laufen nicht aufhörten, das macht müde, und die Dauerstimme rückt allmählich in die Ferne. –
Ja, Bismarck hat von Krieg gesprochen, klipp und klar, vor vier Tagen in der Wilhelmstrasse, und dem klugen, kleinen Benedetti steckte der Schrecken über die Unterredung noch zu Saint Cloud in den Gliedern. Wie konnte man auch so unpsychologisch sein, dem Sieger in seiner grossen Stunde die Quittung für die wohlwollende Neutralität vorzulegen, für das sanfte Gewährenlassen auch nach Sadowa, für die freundliche Bewilligung der grosspreussischen Hegemonie über Deutschland und des Hinauswurfs Österreichs aus Deutschland, – wie konnte man just in Nikolsburg zum ersten Mal den Kompensationsmund auftun und das linke Rheinufer mit Mainz fordern? Benedetti hat sich zunächst geweigert, die Forderung im ungünstigsten Augenblick vorzubringen, und hat es erst auf ausdrücklichen Befehl seines Chefs getan. Der Chef war noch immer Herr Drouyn de Lhuys, und wie kam es, dass er plötzlich, nach dem Verfall seiner Dekrete, ins andere Extrem sprang? Wollte er von der entschiedenen Politik retten, was noch zu retten war, oder wollte er, das Abschiedsgesuch in der Tasche, die Neutralitätspolitik ad absurdum führen? Denn der Kaiser war es nicht, der den sinnlosen Zeitpunkt für die Kompensationsforderung veranlasste – Benedetti hat es hier in diesem Zimmer hören können –, der Kaiser war in Vichy und sehr krank, ohne jedes Kompensationsinteresse – Benedetti mag es glauben oder nicht, der Aussenminister mag endlich gehen –, der Kaiser will wegen Mainz keinen Krieg gegen das geeinte Deutschland, er wollte ja vor fünf Wochen nicht einmal die Demonstration gegen das einsame Preussen, das sich fern in Böhmen festgebissen hatte – ach, vielleicht war es ein grosser Fehler! –, er denkt nicht an Mainz, an keinen deutschen Quadratmeter, das ist vorbei, der siegreiche Reisige ist nicht dankbar, nicht auf eigene Kosten, vielleicht aber auf fremde: daran denkt jetzt der Kaiser. Denn was hat Bismarck ausser der Drohung, alle Truppen an den Rhein zu werfen, zum kleinen Benedetti gesagt? ›Vielleicht kann man andere Wege finden …‹
»Sire, widerrufen Sie die Räumung, im Interesse Ihrer Dynastie, nicht nur der unseren!«
»Das Interesse der Dynastie«, sagte Eugenie sanft verweisend, »ist nicht vom Interesse des Volkes zu trennen, und das Volk, Charlotte, drängt auf die Räumung.«
»Gott aber«, rief Charlotte und streckte den Arm in die Höhe, »Gott dort oben will es nicht! Im Namen Gottes …«
Plötzlich brach die Klirrstimme ab, wie zersprungen. Der Kaiser hob den Kopf. Ein Lakai kam mit eisgekühlter Orangeade. Der Kaiser musste nun doch lächeln, so sehr entsetzte der Tabletträger in Galauniform den Gast. Nun ja, es war ein kleiner Regiefehler, ein angenehmer kleiner Regiefehler, vielleicht die barmherzige Missetat des Hofmarschalls; denn diese Kassandra hatte eine durchdringende Stimme.
»Was will der da?«, fragte Charlotte, sonderbar aufgebracht, und ihre unermüdlichen Augen umliefen den Kaiser, »was freuen sich Eure Majestät?«
»Auf die Orangeade«, sagte der Kaiser.
»Hier, meine Liebe«, sagte Eugenie und brachte ihr das Glas mit dem roten Saft.
»Nein«, flüsterte Charlotte, beugte sich zurück und liess den Kaiser nicht los mit dem Blick.
»Aber so nehmen Sie doch, mein Kind«, bat Eugenie, »so trinken Sie doch, Sie müssen doch Durst haben bei dieser Hitze, Sie sprechen nun doch schon anderthalb Stunden …«
»Nein,« sagte Charlotte mit enger Kehle, »ich habe keinen Durst, ich habe ja auch keine Hoffnung.«
Eugenie streichelte erschüttert ihre Hand. »Jetzt trinken Sie einen Schluck, Liebste, der Kaiser wird tun, was er vermag.« Sie sah zum Kaiser hinüber, ihm mit den Augen winkend. Charlotte nahm das Glas, und es zitterte in ihrer Hand. Sie führte es an die Lippen und tat, als nähme sie einen Schluck, sie stellte es auf das Tischchen neben sich.
Der Kaiser sagte: »Ich werde mich also noch einmal mit den zuständigen Ministern beraten und Ihnen dann meine Entscheidung sagen, Madame.«
»Auch ich,« sprach Charlotte leise, so als habe sie die Stimme verloren, »auch ich werde mit den Ministern sprechen, ich werde sie bekehren, ich kämpfe ja gegen das Böse.«
»Gut«, sagte der Kaiser, »versuchen Sie es. – Und jetzt wollen wir nicht mehr davon sprechen.«
Charlotte stand auf. »Aber Sie bleiben doch, Liebe?«, fragte Eugenie überrascht, »Sie essen doch hier mit uns, – es ist doch Galatafel zu Ihren Ehren …«
»Nein«, sagte Charlotte, »ich habe keinen Hunger, ich habe auch keine Zeit, ich habe zu kämpfen.« Sie liess sich nicht bereden, sie sah aufmerksam zu, wie sich der Kaiser mühselig aus dem Sessel arbeitete.
Auf der Treppe, zwischen den Kaisergesichtern der Cent-Gardes, streifte sie die Mantille wie Scheuklappen seitlich vor, mit der Hand aber machte sie das Schutzzeichen gegen den bösen Blick, den kleinen Finger und den Zeigefinger wie kleine Hörner ausstreckend.
Als der Wagen aus dem Parktor von Saint Cloud herausgerollt war, flüsterte sie ihrer zierlich hässlichen mexikanischen Hofdame zu: »Er hat mich vergiften wollen …« Señora del Barrio schlägt gläubig das Kreuz. Charlotte weint vor sich hin.
Zwei Tage später war sie wieder in Saint Cloud, doch inoffiziell, in aller Heimlichkeit, wie sie verlangte, ohne Cent-Gardes auf der Treppe, ohne Erfrischungstrank. Die drei sassen im gleichen Zimmer, auf den gleichen Sesseln, und Charlotte bat, flehte und beschwor mit klirrender Kinderstimme; sie hatte ihre Stimme wiedergefunden, scheinbar sogar auch die Hoffnung; denn sie hatte, wie sie behauptete, in heftigem Kampf mit dem Bösen die Minister der drei in Betracht kommenden Ressorts: des Krieges, der Finanzen und des Äussern bekehrt. Nun, das war so kindlich und ermüdend wie ihre Stimme, und die Minister, ohne Herrn Drouyn de Lhuys, der endlich sein Entlassungsgesuch abgegeben hatte, befanden sich im Nebenraum, sozusagen auf der Hilfsbühne, für den voraussehbaren Fall, dass sich die Kaiserin von Mexiko von neuem exaltiere. Dann sollte unverzüglich der Szenenwechsel stattfinden, um den Kaiser zu schonen.
»Sie fahren von hier aus gewiss in die Heimat, Madame?«, fragte der Kaiser unerwartet in einer Atempause; er schien es heute mit der Ablenkung versuchen zu wollen.
Sie sah misstrauisch auf und rückte mit dem Kopf hin und her, sie war heute noch fahriger und getriebener als vorgestern. »Meine Heimat ist Mexiko, und ich fahre …«
»Ich meine Belgien«, unterbrach der Kaiser.
»Ich fahre nicht nach Belgien, sowenig wie nach Wien«, fuhr sie auf, »ich habe es Leopold und Franz-Joseph telegraphiert und auch den Grund angegeben: weil sie uns im Stich lassen, weil …«
»Sie wollen nicht nach Brüssel, Madame, Sie wollen nicht einmal den Bruder als König sehen? Ich würde die Gelegenheit nicht verpassen.«
»Mein Bruder ist jetzt König«, rief Charlotte; »aber er denkt weder königlich noch brüderlich, nur mein Vater dachte königlich und väterlich und hätte mich nicht verlassen, – doch mein Bruder ist so froh, sieht er mich nicht, so froh wie Eure Majestät …«
»Aber Liebste«, warf Eugenie ein und erwog den Szenenwechsel.
»Alles verlässt uns, alle verlassen uns!«, rief Charlotte und riss am Verschluss ihres seidenen Beutels, und beide, Eugenie und der Kaiser, wussten, dass neue Dokumente, Belege, Memorials zum Vorschein kommen: der Kaiser wandte den Kopf ab. Eugenie wollte aufstehen; aber Charlotte hielt sie mit ihrer gebieterischen Handbewegung auf dem Platz und rief: »Alle können uns verlassen, weil sie keine Verpflichtung haben ausserhalb des ungeschriebenen Anstands des Herzens, und den besitzen sie ja nicht. Aber Sie, Sire, Sie können uns nicht verlassen, weil Sie geschrieben und unterschrieben haben – hier, da …« Sie zerrte Schriftstücke aus dem Beutel. »Der Kaiser der Franzosen unterschrieb den Vertrag vom März 1864, in dessen geheimem Teil der Satz steht: ›die Hilfe Frankreichs wird dem neuen Reich niemals fehlen, was auch immer für Vorfälle sich in Europa ereignen.‹ Der Kaiser der Franzosen schrieb an den Erzherzog Max Mitte März 1864 nach London einen Brief, in dem diese beiden Sätze stehen: ›Ich bitte Sie, stets auf meine Freundschaft zu zählen. Sie können sicher sein, dass Ihnen meine Unterstützung bei der Erfüllung der Aufgabe, die Sie mit so viel Mut auf sich nehmen, nicht fehlen wird.‹ Der Kaiser der Franzosen sandte am 28. März 1864, als Max wegen des notwendigen Verzichtes auf die österreichischen Nachfolgerechte noch im letzten Augenblick von Mexiko zurücktreten will, nach Miramar ein Telegramm, in dem dieser Satz steht: ›Eure kaiserliche Hoheit sind mit Ihrer Ehre mir, Mexiko und den Anleihezeichnern gegenüber verpflichtet.‹ Der Kaiser der Franzosen schrieb am gleichen Tag an Max einen Brief, in dem dieser unvergessliche Satz zu lesen ist: ›Was würden Sie wohl von mir denken, wollte ich, wenn Sie schon in Mexiko sind, auf einmal sagen, dass ich die Bedingungen nicht mehr erfüllen kann, die ich mit meiner Unterschrift bekräftigt habe.‹« Charlotte stand auf. »Haben Sie bemerkt, Sire, dass ich alle Zitate auswendig gesprochen habe? Wollen Sie sie nachlesen im Original, falls Sie sie vergessen haben?« Sie reichte ihm die Papiere; doch plötzlich riss sie die Hand wieder zurück und stopfte die Blätter in den Beutel: der Kaiser hatte sich doch nicht gerührt.
Er dachte: ob auch sie davon sprechen wird, die Dokumente in allen Weltsprachen zu veröffentlichen?
Eugenie war dunkelrot geworden. Er sah es nicht, es wäre für ihn ein seltener Anblick gewesen. Sie stand auf und sagte heiser: »Warum quälen Sie uns so furchtbar, Charlotte …«
»Haben Sie dies alles vergessen?«, schrie Charlotte ganz hoch und rückte mit dem Kopf hin und her, »wissen Sie nicht mehr, wie Ihre Unterschrift aussieht?«
Sie schreit wie ein Kind im Traum, dachte der Kaiser. Eugenie winkte ihm mit den Augen. Er sagte: »Morgen ist der entscheidende Ministerrat, unter dem Vorsitz der Kaiserin. Ich will die Herren also garnicht beeinflussen, Madame, ausserdem fühle ich mich schlecht.«
»Wenn Sie die Herren«, setzte Eugenie hastig hinzu »noch einmal sprechen wollen, liebe Freundin: sie sind nebenan.«
»Ich will, ich will!«, rief Charlotte, »ich habe sie zu fragen, ob sie seine Unterschrift kennen und noch anderes, noch anderes.. Sie liess sich hinausführen und flüsterte in Eugenies Ohr: »Es nützt ihm nichts – ich rieche das Böse in der Luft, das kann ich –, er soll nichts Böses tun inzwischen, ich merk's …«
»Aber er will ja nur schlafen«, begütigte Eugenie. Charlotte lachte auf.
Der Kaiser sah ihnen nach, den traurigen Kopf schüttelnd. Dann griff er auf das Tischchen, das neben dem Sessel stand, und nahm sich eine Zigarette. Er wartete einen Augenblick, die Zigarette zwischen den Lippen: doch es war keiner da, der ihm Feuer reichte, und er zündete sie sich selber an. Er starrte dem Rauch nach und griff nach dem Schreibblock, der auf dem Tischchen lag. Mit dem goldenen Bleistift schrieb er fadendünne, eilige, hin und wieder unterstrichene Zeilen: »Belgien nur politischer Begriff. Belgische Nationalität existiert nicht. Mit Preussen diesen wesentlichen Punkt fixieren. Doppelter Vorteil: 1) Preussen kompromittiert, 2) Preussen versichert, dass Kompensation strikt ausserhalb rheinischen Gebiets. Bei englischem Einspruch: Antwerpen Freie Stadt. Geheimvertrag: 1) N anerkennt Nachkriegs-Grosspreussen. 2) W verspricht, Erwerb Luxemburgs zu erleichtern. 3) N widersetzt sich nicht gesamtdeutschem Bund unter Preussen ohne Österreich. 4) W verspricht Waffenhilfe für den Fall, dass N in Belgien einrückt, und Zustimmung zur Annexion. 5) N und W Schutz und Trutz-Bündnis.«
Er hob den Kopf. Charlottens Traumgeschrei drang durch die Wand: »... Mexiko-Anleihe! Was ist mit der Differenz des Nennwerts und der Auszahlung, – wo ist die Differenz? Eure Bankiers und Spekulanten haben geschwindelt und gestohlen, gestohlen, gestohlen! Und ich will die Taschen kennen lernen, die sich mit Gold gefüllt haben, mit Mexiko-Gold …«
Mein Bruder Morny schläft ganz ruhig dabei, dachte der Kaiser und hielt sich die Ohren zu.
Der Ministerrat beschloss einstimmig, die Liquidation des mexikanischen Unternehmen beschleunigt durchzuführen und sich im Interesse der Dynastie, die nicht zur öffentlichen Meinung in Gegensatz gebracht werden dürfe, an der mexikanischen Staatsform zu desinteressieren. Charlotte zeigte eine sonderbare Taktik: sie liess sich die Entscheidung nicht sagen, sie liess keinen der Herren, die sie im Namen des Kaisers informieren wollten, zu Wort kommen oder sie empfing sie nicht. So fuhr der Kaiser schliesslich selber zu ihr ins Grand Hotel; er hatte genug, er wollte Schluss machen. Es war der 19. August, er wollte nach Vichy zurück, er war sehr gereizt, Bismarck hatte vor zwei Tagen mit Benedetti den Entwurf zum Geheimpakt ganz freundlich besprochen, dem Botschafter kleine Korrekturen diktiert, den Akt in die Tasche gesteckt und den Ton gewechselt: ob der Kaiser etwa Preussen und England auseinanderbringen wollte? So wusste der Kaiser, dass der belgische Geheimpakt tot sei, noch vor der Geburt, aber begraben in der Tasche des Feindes, als corpus delicti für gelegentliche Ausstellung, also leider noch übel verwendbar. Er war sehr gereizt, die belgische Charlotte hatte rote Flecken auf Wangen und Stirn und beschwor ihn, für Mexiko die Legislative einzuberufen. »Hören Sie mich an, Madame …« Sie beschwor ihn, sich für Mexiko in einem Aufruf an die Nation zu wenden. »Darf ich sprechen, Madame …«
»Gibt es denn Glück für jene, Sire, die furchtbar rasch altern oder furchtbar rasch sterben auf dem Thron Frankreichs …« Der Kaiser schwieg betroffen. Auch das Weisse ihrer Augen war durchblutet. »Also retten Sie Ihr Glück, Majestät, widerrufen Sie …«
»Madame«, unterbrach der Kaiser mit starker Stimme, »ich habe Ihnen zu sagen …«
»Sie sollen es nicht sagen!«, wimmerte sie, »es ist ja Ihr eigenes Unglück, das Sie aussprechen …«
»Mein Unglück ist meine Sache, Madame, und soll Sie nicht bekümmern. Aber was Sie bekümmert – es wäre gut, wenn Sie sich da keine Illusionen mehr machten …«
»Sie auch nicht!«, schrie Charlotte, »machen Sie sich auch keine Illusionen mehr …«
Der Kaiser kehrte sich um und ging hinaus. Er ging schwer am Stock, er watete am Stock hinaus.
Charlotte schrie, wie ein Kind aus dem Traum, gegen das geschmeichelte Bild des Kaisers, das an der Wand des Hotelsalons hing: »Und wenn tausend Jahre vollendet sind, wird der Satanas los werden aus seinem Gefängnis. Und wird ausgehen, zu verführen die Heiden an den vier Enden der Erde, den Gog und Magog …«
Sie kannte das zwanzigste Kapitel der Offenbarung St. Johannis auswendig wie die Mexiko-Briefe des Kaisers. Sie war nicht allein im Kampf gegen das Böse.
»Und es fiel das Feuer von Gott aus dem Himmel und verzehrte sie …«
Auf dem Gang vor dem Fürstenzimmer sammelten sich Hotelgäste und das Personal an und hörten erschrocken zu.
Der Wahnsinn der Kaiserin von Mexiko brach Ende September vollends aus, als sie in Rom war und vergeblich Pio Nono um Intervention bei Napoleon bat, plötzlich vor dem Heiligen Vater auf die Knie sank und ihn bat, sie vor den Giftmischern des Teufels zu schützen, Giftmischer waren alle Menschen draussen, sie war nicht mehr aus dem Vatikan zu bringen, sie ass nichts und tobte, schliesslich kam man mit der Zwangsjacke. Man brachte sie nach Schloss Miramar, von wo das Mexiko-Märchen seinen Ausgang genommen hatte.