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Nun führte doch, beinahe mit dem Neujahrsglockenschlag des Jahres 1870, der Oberst ohne Regiment das Regiment. Aber sieh, er trug nicht mehr die alte und abgegriffene Spruchmünze des nagelneuen Deputierten Rochefort: Herr Emile Ollivier, so lange zwischen Himmel und Erde schwebend, war mächtig gewachsen, stand auf festem Boden und reichte bis zum Olymp, er war Regierungsoberst mit Fug und Recht und zog auf sich den edelsten Gegensatz zum Spott und den schönsten Zusatz zu einem öffentlichen Namen: die allgemeine Hoffnung. Noch niemals in den zwanzig Jahren der Zeitrechnung wurde eine Regierung nach einem Mann benannt, der nicht einmal den offiziellen Titel eines Ministerpräsidenten besass und nur Justizminister war: jetzt nannte man das Gremium der allgemeinen Hoffnung, welches der einstige Oppositions-Magister zusammengestellt hatte, das Ministerium Ollivier. Es hiess auch: das Ministerium der Ehrenmänner, und man meinte es nichts spöttisch, man spottet nicht der Hoffnung.
Das Jahrzehnt, das jetzt anhebt, wird also das demokratische sein, das volkskaiserliche; denn Ollivier, der Mann des Volks, wurde von dem seltsamen Kaiser berufen, heimlich und verschwörerisch wie immer, und die grossartige Staatsreformation, die seine Aufgabe ist und in die er sich mit der alten Heftigkeit seiner Oppositionszeit stürzt, mit dem alten Anstand des Herzens und auch mit der alten heimlichen Herzensangst vor der eigenen Geschwindigkeit, – das Ziel einer Demokratie, die an Vernunft, Achtung des Individuums, Duldsamkeit, an Umfang der bürgerlichen Freiheiten die britische Staatsform übertrifft, ist also auch das Ziel des Kaisers. Hoffnung und Bereitschaft zur Mitarbeit, die bis in die Reihen der gemässigten Republikaner gingen, galten auch dem Staatschef, der Napoleon hiess und Kaiser war, dem müden, alten, kranken Mann, hiess es, dem stillen zähen Mitgänger der Zeit und seltsam hartnäckigen Erfüller des Reformversprechens, wie man sieht, einen nicht geheuren Mann, wie es auch sei. Und man sagt, er sehe immer jünger aus, man sagt aber auch, er werde immer kränker und seine Verjüngung sei Schminke, – auch die Staatsverjüngung? So raunen doch nur die gestrigen Freunde, heute Olliviers schlimme Feinde, die auf der Rechten sitzen, und die gestrigen Paladine, die im Senat sitzen und aus dem Luxembourgpalais die Autoritätsbastei gegen das Palais Bourbon zu machen bestrebt sind, – ja, und der schlimmste Feind sitzt in den Tuilerien und ist eine Frau, die Fremde. Der friedliche und fortschrittliche Bürger aber, der die Universalkritik der letzten Jahre anerkennt, nicht aber die Barrikade, der Bürger der beispielhaft schönen und glücklichen Stadt sieht, dass der Kaiser nicht nur die Ordnung, sondern auch die Freiheit garantiert, mit der Regierung der demokratischen Ehrenmänner: der Bürger will nicht mehr, er kann sich nichts Besseres wünschen.
Nicht Rochefort also ist der schlimmste Feind des neuen Obersten, dem er so lange und so böse heimgeleuchtet hatte. Nun, was hatte es denn viel geschadet? Und diese gleiche Frage ist es ja auch, mit der die echte Duldsamkeit, die überlegene nämlich, den neuen Deputierten ziemlich unschädlich machen kann. Es war fast, als habe man den demagogischen Trick des Zusatzes, der Klammer, des Zeichens gelernt: man setzte einfach hinter Rochefort ein Fragezeichen. Es bedeutet: was hat er denn viel geschadet, schaut man von der Höhe des jungen Jahres 70 auf das verschwelende Laternenfeuerwerk, und was kann er heute schaden? Das Fragezeichen, das ihm und seinem Ruhm angehängt wird, ist ironisch, und Ironie ist das schlimmste für einen Demagogen, der sich so deutlich für den neuen Camille Desmoulins ausgegeben hat. Ja, es war fast, als bekomme der Unversöhnlichste der Unversöhnlichen die Geister, die er nicht nur rief, sondern auch erfand, nicht mehr los und als klebten sie an ihm wie Kletten, die tausend Geister der Laterne. Er blieb der Laternenmann, im Grunde ein harmloses Wort, ein zahmer Beruf, in Verbindung mit seinem übertriebenen Gesicht aber und der Vorortrevolution, die in seinem Namen und seinem Zeichen bis zur Sinnlosigkeit geprobt worden war, wurde er zu einem recht amüsanten Sinnbild der neusten Donquixoterie. Mit Laternen gepanzert, griff er den neuen Regierungsobersten, die neue Politik und auch den alten Kaiser heftig an, und da seine Redelanze die kürzeste war, die unzulänglichste, die im Hause der Meisterrhetoren je bemerkt worden war, wurden seine Auftritte und Anritte gleichsam zu parlamentarischen Lustbarkeiten, zumal wenn Minister Ollivier, ein Grossmeister des Wortes, ihn aus dem Sattel zu heben beliebte. Und da der Laternenmann zu klug war, ein zu guter und gewandter Schriftsteller, um die Dürftigkeit seines Sprachstils nicht zu erkennen, machte er aus der Not eine Tugend und sich, den Sprechschüler, zum enfant terrible des Hauses.
»Was machen Sie sich nur für fürchterliche Mühe, Herr Deputierter, Ihnen tut doch Ruhe und Erholung so gut, was schinden Sie sich mit Ihrer Opposition gegen den Kaiser?«
»Verzeihung«, antwortete Rochefort, »ich bin es, dem der Kaiser opponiert. Er verweigert mir alles, was ich von ihm verlange.«
»Aber Sie haben doch bisher noch garnichts von ihm verlangt.«
»Nochmals Verzeihung«, entgegnete Rochefort, der Witzbold, »ich habe von ihm verlangt, dass er abgehe, und er bleibt trotzdem.«
So lachte man viel mit ihm und bedachte zugleich, wie sich vor Sessionsbeginn der Schreckensmann der Laterne um die Vereidigung drückte, die er bei Annahme der Kandidatur wohlweislich nicht zu verweigern erklärte: er fehlte einfach bei dem Akt im Thronsaal der Tuilerien, und als der Zeremonienmeister zweimal seinen Namen rief, winkte der Kaiser lächelnd ab und liess ihn durch das Netz schlüpfen: und alle lächelten, die Höflinge, die Parlamentarier, die Lakaien. Was schadet es schon viel?
Gewiss, er war nicht allein Deputierter, laternenroter Harlekin der Kammer, sondern auch Publizist, er hatte nun eine eigene Tageszeitung, und sie hiess nicht »Die Laterne«, die ihren Zweck erfüllt hatte und ihn wohl auch selber blendete, sondern »Die Marseillaise«, ein Blatt von äusserster Angriffswut. Denn es ging dem arrivierten Rochefort nicht gut, und wenn die Kammer über seine Luftstösse, Windmühlenangriffe und jähzornigen Witze lachte, krümmte er sich unter den Magenkrämpfen, so setzte ihm der Zorn zu. Aber er konnte schreiben, er führte die mörderischste Feder der Öffentlichkeit, die Feder rächte in der »Marseillaise« die Person, mit der man in der Kammer Schindluder trieb. Doch was schadet sie, was wird sie schaden? Das Fragezeichen hängt ja dem Namen an, und der Name macht die Feder. Es gab die »Marseillaise« und eine stattliche Reihe extremer Blätter. Die neue Toleranz liess sie zu und verlangte nicht einmal mehr fünf Centimes für die Schimpffreiheit. Sie mögen schreiben, was sie wollen, sie mögen brüllen und toben, Schaum vor dem Mund: im Raum der vollkommenen Freiheit kann es auch den Paroxysmus geben, so lange es Menschen gibt, die für derlei Geld übrig haben: überschlägt er sich in Einem Fall, schlägt er nämlich über die Politik hinaus, deren Feld weit genug ist, dem Strafgesetz ins Gesicht, dann wird der Staat die Gesellschaft schützen. Doch ausser diesem Abschwung ins Verbrecherische ist alles erlaubt. – Und wer singt die »Marseillaise«, die man in Gottes Namen ruhig singen kann, wo hört man sie, trotz der Posaunen der Laternen-Nachfolge? Das Blatt hat eine hohe Auflage – wie lange noch? –, aber man singt nicht mit. Die Zeithoffnung ist furchtbar stark.
Der schlaue Kaiser also brauchte nur den Zylinderhut des britischen Gentleman aufzusetzen und einen zum öffentlichen Ehrenmann avancierten Linksparlamentarier neben sich hinzustellen, – und alles ist gut, alles war umsonst, alle glauben dem Verwandlungskünstler, der doch schon so viel Kopfbedeckungen trug: den kleinen Querhut, den Parade-Längshut, das allgemeine Käppi – und immer doch auch die Krone, auf die es ihm ankommt? Alles war umsonst oder Spuk oder Groteske der Rebellion, mit dem Clown Rochefort als Protagonisten?
Der Herausgeber der »Marseillaise« kämpfte um den Ernst, ganz so wie einst der Präsident Louis Napoleon: Rochefort wusste es und wollte den Ernst mit allen Mitteln erobern, mit allen Mitteln. Die Gefahr war und die Hoffnung der starken Feinde, dass er sich schon ausgeschrien hatte oder dass man auf die gemach gewohnte Schreierei nicht mehr recht hinhörte. Die schlimmste Gefahr war, dass es sich wiederholte und langweilig wurde, aus Stoffmangel.
Einer wenigstens aus dem Lager der Feinde war da, der in diesen bedenklichen Tagen der beruhigten Stürme auf die Ausfälle des Publizisten mit einem Ausfall antwortete: eine entlegene und zugleich auch beunruhigende Figur, ein Prinz zwar, aber ein verlorener Sohn der Dynastie, ein nicht grundlos bei Seite gelassener. Er hiess Pierre Bonaparte und war der dritte Sohn Luciens, ein Abenteurer, ein verhinderter Kondottiere und grosser Raufbold, der überall aufgetaucht war und mitgemacht hatte, wo in der Welt gerauft wurde: im Rom von Achtundvierzig, im Südamerika des Bolivar, im Orient, auch in der zweiten französischen Republik; denn dieser jähzornige Korse war Tyrannenhasser, – bis der Vetter Kaiser wurde. Von da ab hielt er sich loyal, empfing sein Teilchen von der Zivilliste, den Titel »Hoheit« und die kaiserliche Verachtung, die ihn vom Hof ausschloss. Pierre mit dem schwarzen Bart und der herkulischen Gestalt, mit Stirn, Nase und Augen des grossen Onkels, nahm sich plötzlich der Familienlegende an, auf seine Weise, indem er in einem korsischen Regierungsorgan das korsische radikale Blatt, welches von einem »Marseillaise«-Redakteur bedient wurde, mit Hieb und Stoss bedachte und den Pariser Urheber der Napoleonskritik einen Lumpen, Feigling und Judas nannte. Als nun Rochefort selber mit Lust und Liebe in den Streit eingriff, froh über jeden neuen Stoff, und sich auf diesen obskuren Bonaparte stürzte, zeigte es sich bald, dass der alte Landsknecht damit gerechnet hatte, ja dass er es auf Rochefort abgesehen hatte und dass die Verteidigung der napoleonischen Legende wohl nur das Mittel war, um den Pamphletisten vor die Klinge zu bekommen oder vor die Pistole. Er antwortete an die Adresse Rocheforts mit einer öffentlichen Herausforderung von einer Schärfe des Hiebs und zugleich auch der Ironie, gleich als ob er gewusst hätte, wie unmöglich es in diesem Augenblick einem öffentlichen Namen, einem um die Ernsthaftigkeit seiner Wirkung kämpfenden Politiker gewesen wäre, sich mit einem Clownsprung vor dem Duell zu retten.
So kam es, dass am 10. Januar der Abgeordnete Rochefort, dessen sehr erschwerte Aufgabe es war, für die Unruhe des öffentlichen Lebens zu sorgen, nicht ohne Unruhe des Herzens auf seinem Oppositionsplatz in der Kammer sass, sehr viel stiller doch, als es die Versammlung von ihm gewohnt war. Und es sprach doch gerade Gambetta, der andere grosse Unversöhnliche, über den Fall der beiden Soldaten, die wegen Teilnahme an radikalen Volksversammlungen nach Algier versetzt wurden, – neuer Unruhstoff. Doch Rochefort war nicht aufmerksam. Um die Mittagsstunde waren die Zeugen nach Auteuil gefahren, zum Prinzen Pierre, oder vielmehr die beiden Zeugenpaare; denn auch der Korsenkorrespondent der »Marseillaise« hatte sich zu schlagen und möglichst als erster, weil er zuerst beleidigt wurde: man konnte also zum mindesten das Vorduell abwarten. Rochefort war weder feige noch ein ungeübter Duellant; aber die zahlreichen Renkontres seines akademischen und publizistischen Lebens waren Ehrenhändel, die nach gültigem Kodex mit Schramme oder Stichlein abgetan werden konnten: man wollte einander nicht ans Leben. Dieser bärtige Bravo aber, der Bonaparte hiess und sogar auch Napoleon, wollte ihm ans Leben, er wollte auf die ehrbarste Art den Feind des Hauses aus der Welt schaffen; und da er auf diese Weise bereits etliche Leute aus dem Weg geräumt hatte und geradezu ein korsischer Scharfschütze, ein Duellkorsar sein sollte, mochte es ans Ziel gelangen. – Wie seltsam, fuhr es dem unruhigen Rochefort durch den Sinn, dass selbst die Deklassierten und Verfemten der sonderbaren Familie sich für das kaiserliche Oberhaupt einsetzen! Neulich war es das Leon-Gespenst, einmal ein verhinderter Kaisermörder, der den Kaiser seinen Vetter nennt und ihn, den Anticäsar Rochefort, niederreden wollte, – er kam allerdings nicht dazu; heute ist es ein anderer, deutlicherer Kaiservetter, einmal sein heftigster Gegner auf der gleichen linken Seite des Parlaments, auf der Rochefort sass, und er will den Laternenmann aus der Linken hinaus, aus der Welt hinaus schiessen, um des Cäsars willen, der seiner nicht achtet – welche hartnäckige Dankbarkeit! –, und der legitime Cousin hat bessere Aussichten als der illegitime. – Sollte das der Ernst sein, zu dem ich hindränge?, fragte sich Rochefort, dieser feudale Heldentod, blutigster Rochefort-Witz?
Ein Huissier kam den Seitengang entlang. »Herr Abgeordneter Rochefort, Sie werden von zwei Herren dringend zu sprechen gewünscht.«
Rochefort sprang auf, das Herz klopfte heftig, – so schnell? dachte er, so eilig hat er es mit dem Schiessen? – Er eilte hinaus. Gambetta donnerte gegen die Regierungsbank der Ehrenmänner: »Zwischen der Republik von 1848 und der Republik der Zukunft seid ihr nur eine Brücke, und wir werden sie überschreiten, diese Brücke!«
Ja, die beiden aufgeregten Herren im Vestibül waren die Rochefort-Zeugen, zwei seiner Zeitungsredakteure. »Rochefort! Denken Sie! Es ist schrecklich! Es ist toll! Der Prinz hat den kleinen Noir erschossen!« Das war nun nicht recht zu begreifen; denn Victor Noir, ein hübscher kräftiger Junge von einundzwanzig Jahren, Redaktionsvolontär bei der »Marseillaise«, war doch auch nur Zeuge und zwar von der vorgeschobenen Duellpartie des Korsika-Korrespondenten. Wie ist es möglich? – Weil Pierre Bonaparte nichts von dem Korrespondenten wissen wollte, nichts vom kleinen Noir, nichts vom anderen Zeugen namens Fonvielle: er wollte Rocheforts Zeugen, die doch die zweite Partie bildeten und eine halbe Stunde später kamen, – ja, und da war der kleine Noir schon tot. Wie es kam? Es war nicht ganz klar. Pierre wollte Rochefort vor die Pistole, der kleine Noir, in der erstaunlichsten Stunde seines Lebens, Zeuge gegen einen Prinzen, drängte ihm den Forderungsbrief des Korrespondenten auf, »Rochefort!«, schrie der Prinz, »ich schlage mich mit Rochefort, nicht mit seinen Manövern!« Aber er schlug doch auch den kleinen Noir ins Gesicht, und dann war schon die Pistole in seiner Hand und der kleine Noir hatte die Kugel in der Brust. Allerdings, nach einer anderen und, unter uns, wahrscheinlicheren Version war es der kleine Noir, der Pierre Bonaparte ins Gesicht schlug – grösster Augenblick des Lebens: Schlag in ein Prinzengesicht –; aber die Kugel sass ihm dann in der Brust, er stolperte noch die Treppe hinunter und auf der Strasse sackte er zusammen, der hübsche junge Victor Noir, mit richtigem Namen Iwan Salmon. Und der andere Zeuge, Fonvielle, zog die Pistole – etwas seltsamer Komment: alle hatten Pistolen in der Tasche, auch Noir, er kam nur nicht mehr dazu, an seine Pistole zu denken –, und der Prinz schoss auch auf Fonvielle, dessen Waffe noch nicht gespannt war, aber er fehlte oder wollte fehlen, der Scharfschütze, und Fonvielle entkam.
»Also Mord!«, rief Rochefort, »Mord und Mordversuch!« Er schloss die Augen und zeigte die Zähne, und es sah aus, als wollte er lachen. – »Einen Wagen!«, rief er, schon auf der Freitreppe.
Am nächsten Morgen erschien die »Marseillaise« mit Trauerrand, in riesigen Lettern die Überschrift:
MORD, BEGANGEN VOM PRINZEN PIERRE-NAPOLEON
BONAPARTE AN VICTOR NOIR.
MORDVERSUCH, BEGANGEN VOM PRINZEN
PIERRE-NAPOLEON BONAPARTE AN ULRICH
DE FONVIELLE.
Darunter stand:
Ich hatte die Schwäche, zu glauben, dass ein Bonaparte etwas anderes sein könne als ein Mörder!
Ich wagte mir einzubilden, dass in dieser Familie, wo Mord und Meucheltat Tradition und Gewohnheit sind, ein ritterliches Duell möglich sei, – und heute beklagen wir unsern armen lieben Freund Victor Noir, ermordet durch den Banditen Pierre-Napoleon Bonaparte.
Jetzt sind es achtzehn Jahre, dass Frankreich in den blutbefleckten Händen dieser Strauchdiebe ist, die – nicht zufrieden, die Republikaner auf der Strasse niederzukartätschen – sie in ihre schmutzigen Fallen locken, um sie zu Hause abzuschlachten.
Volk Frankreichs, findest du nicht, dass es endlich und endgültig genug sei?«
Die Unruhe war zurückerobert, die Beschlagnahme der Trauernummer musste zu spät erfolgen, der Aufruf war bereits gehört. Die Massen marschierten nach Neuilly zum Noir-Begräbnis. Doch noch andere Massen marschierten auf: Truppen. Auch der Ernst war erobert worden. Denn es war der Aufruf zur Revolution gewesen, Rochefort hatte die Brücken hinter sich abgebrannt, schon lag im Büro der Kammer die Forderung des Generalstaatsanwalts, die Immunität des Abgeordneten Rochefort aufzuheben, – der Laternenmann war zum Fackelträger geworden, man sieht die rote Flamme und hört auf den Brandruf, man marschiert, – es marschieren aber auch Truppen. Dies ist der Ernst.
Aber man hat zwischen Ernst und Wahnwitz zu unterscheiden, und es ist nicht der Wahnwitz, den Rochefort will, – es geht ihm nicht gut. Er ist schon lange nicht mehr der Links-Äusserste, er ist es gerade noch im Parlament, und das rechnet nicht für die Extremen: im nicht mehr sinnvollen Spiel des Umsprungs zu immer linkerer Gesinnung, im Reihum des immer noch röteren Flügelmannes war die anarchistische Reihe zu seiner Linken schon stattlich angewachsen, und diese jungen Schreier nun schwenkten gegen ihn ein, Wahnwitz gegen Ernst. – Ja, es war der Aufruf zur Revolution und der kleine Victor Noir das brauchbare Feldgeschrei. Aber sein Begräbnis darf nichts anderes sein als Demonstration und Kräfteschau, Mobilmachung und Aufmarsch, doch nicht schon die Erhebung. Man muss planmässig arbeiten, die neuen Querverbindungen mit der Internationale und den Kampfkomitees, die durch das ganze Land gehen, wirken lassen, mit Teilstreiks und dann mit dem Generalstreik eine grosse Kampffront schaffen, die Strafverfolgung Rocheforts, die Aufhebung seiner Immunität, den Mordprozess propagandistisch ausnutzen, vor allem die Armee und die Polizei zersetzen – und dann erst losschlagen. Doch die jungen Schreier wollen mit Waffen unter dem Rock zum Noir-Begräbnis kommen und mit der Leiche Paris erobern. – Es marschieren aber auch Truppen auf und besetzen alle strategischen Punkte der Stadt – das ist jetzt leicht im neuen Paris –, sie lassen die Noir-Trauernden ganz in Ruhe, sie lassen selbst Neuilly unberührt – die Masse, so will es die Regierung, soll ihr Noir-Begräbnis haben, in aller Freiheit –, doch in den Champs-Elysées sind Gardeschützen massiert …
Die Menge umlagerte das Totenhaus und liess Rochefort leben. Der sah nicht aus, als ob es ihn freute; er stand bei dem noch leeren Totenwagen und musste debattieren, ganz so wie gestern abend und bis spät in die Nacht. Die Wilden waren zur Stelle, ihr Führer war jener junge Mensch, der schon mit einer Pistole auf den Friedhof von Montmartre gekommen war, um nach dem toten Baudin mitzusuchen, und seitdem ein finstres Ansehen genoss, zum revolutionären Würdenträger aufgestiegen, für die Kampfverwendbarkeit von toten Seelen gleichsam spezialisiert, Stratege der Kirchhöfe: er kam mit seinen Leuten, um den toten Victor Noir nicht auf den Gemeindefriedhof von Neuilly zu lassen, sondern quer durch Paris zu zerren, von Westen nach Osten, vom Triumph-Bogen zum Père-Lachaise, als Pflug der Revolution. Das war der Wahnwitz, und nun stand er schreiend vor dem Totenhaus. Ringsum stand der Ernst in jeder Form, als Trauer, Ingrimm, Respekt vor dem harten Schicksal, – im Osten, in der Ausfallallee der Stadt Paris, als gewaltige Drohung: und hier sind die Schreier mit dem Postulat der blutigen Narretei, hier am düsteren Totenwagen zwingen sie ihn, Rochefort, zu Rede und Antwort, warum es in die Richtung gehen soll, in der die schwarzbehangenen Pferde schon stehen, zum Friedhof Neuilly, nicht zum Père-Lachaise: Weil in Neuilly die Familiengruft ist, weil es der Wunsch der Familie ist, weil ein Katafalk keine Barrikade ist, weil es Wahnwitz ist, den Truppenkordon der Champs-Elysées durchbrechen zu wollen, weil es verbrecherischer Wahnsinn ist, die Masse der Leidtragenden oder Demonstranten oder wie man sie nennen will, Tausende und Abertausende, vor die Chassepots und Mitrailleusen der aufgezogenen Elitetruppen zu schleifen! Rochefort war grau vor Wut, er schrie mit seiner schartigen Stimme und musste viel husten und der Magen zog sich schmerzhaft zusammen, – der Kirchhofstratege aber hatte eine Trompetenstimme: »Siegen oder Sterben!«, schmetterte er, »Achtundvierzig begann mit einem Kadaver, wir haben Victor Noir!« Die Masse schrie: »Hoch Rochefort!« Rochefort weinte vor Wut.
Jetzt wurde der Sarg aus dem Haus getragen, und alle Hüte flogen von den Köpfen.
Als dann die Pferde anzogen, liefen der Wilde und sein Adjutant, ein junger Mensch mit vorgetriebenem Kinn, nach vorne, Rochefort lief ihnen nach und schrie: »Nein Nein!« Die Beiden griffen den Pferden in die Zügel und zerrten sie herum. »Nach Paris! Umkehren!«, trompetete der Wilde, »nach Paris!« Leichenmänner, Rochefort-Gardisten, der entrüstete Bruder des Toten mit zwei handfesten Vettern stürzten sich auf die Pferde und zerrten sie wieder in die alte Richtung, der Leichenkutscher stand auf, beugte sich vor und knallte die Peitsche dem jungen Mann mit dem Felsenkinn um die Ohren. Der aber schüttelte sich nur, liess die Zügel nicht los und brüllte wie ein Stier: »Nach Paris! Wir haben Bomben!« Jetzt liefen Leute von allen Seiten herbei; es war ungewiss, welcher Richtung sie zu Hilfe eilten.
Rochefort war es, als stiesse ein Finger vom Magen zum Herz. Die Welt drehte sich, das schwarze Sargtuch schwirrte auf und verhüllte auch sie.
Als er wieder zu sich kam, sass er in einem ratternden Fiaker, neben sich den jungen Arzt von Montmartre, den mit dem Kalmückengesicht.
»Wohin haben sie den kleinen Noir …«, fragte Rochefort sofort, noch mit dumpfem Schädel.
»Neuilly hat über Paris gesiegt, dank Ihrer Ohnmacht«, sagte Doktor Clémenceau, und seine Schlitzaugen wurden noch schmäler; das war so viel wie ein Lächeln; »Ihre Ohnmacht war wirkungsvoll, Rochefort, Sie sollten sich diese Wirkung für die Zukunft merken.«
Die beiden Männer standen sonderbar zu einander, Rochefort liebte den Arzt nicht, und Clémenceau verachtete wohl den Pamphletisten, aber nicht mehr als alle andern, vielleicht sogar weniger. Möglicherweise schätzte er die Flamme in der abgegriffenen und wohlfeil gewordenen Laterne. Rochefort schätzte den unergründlichen, unerbittlichen und Abstand heischenden Ernst des jungen Mannes, der zu den stillen Hassern gehörte, vor sechs Jahren schon mit Gefängnis bestraft, wegen seines Kaiserhasses, dann vier Jahre in Amerika, um zu lernen, nicht Revolution, sondern Therapie.
»Sie glauben also«, fragte Rochefort, »dass alles umsonst ist?«
»Nichts ist umsonst, Rochefort, heute wurde Offenbach schon um ein Haar tragisch, fürchterlich falsch natürlich. Warten Sie nur.«
»In der Ohnmacht, ja? Die werdet ihr bald haben, wenn ich eingesperrt bin, und hoffentlich ausnutzen.«
»Ja, Rochefort, lassen Sie sich einsperren, warten Sie nur.«
»Worauf denn, um Gotteswillen?«
»Auf die Zeit, Rochefort, nicht auf Ihre Zeit. Auf die echte Tragödie.«
»Wie lange denn, um Gottes willen?«
»So lange der Atem reicht. Das ist lange, wenn man will. Und wenn man mit aller Kraft will, wird es viel kürzer sein, als der Atem reicht.«
Der alte böse Gedanke tauchte auf, vielleicht aufgescheucht von diesem jungen bösen Menschen und seiner backenknockigen Wahrhaftigkeit. Nicht die kleinen, nicht die aus zweiter Hand, die Revolutionstravestiten des zweiten, des nachgemachten Kaiserreichs: der grosse Brandstifter wird es sein, das ewige Urbild der Vernichtung.