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Tanzsäle

Nicht viel später, Ende Oktober, die kaiserliche Dampfyacht ›L'Aigle‹, mit Eugenie und grossem Gefolge war schon in Konstantinopel, der ersten Station auf der Fahrt zur Suezkanaleröffnung, der Grossherr nahte auf roter und goldener Barke, der Yildiz-Kiosk aus Tausendundeiner Nacht nahm die Märchenkaiserin auf, – Ende Oktober brach mit dramatischer Wucht die Politik in die Brüsseler Klausur des Laternenmannes Rochefort ein. Das war zu erwarten und wurde erwartet, nicht nur vom hämischen Figaro, sondern von aller Welt. Der volkstümlichste Name der Staatsfeindschaft, die Losung der Strasse, der schon bewährte Taktschlag des Massentritts war ja nicht die Wirkung einer Friedhofslegende, einer toten Seele, die in mühseligem Auferstehungsprozess mobilisiert werden musste, sondern kam von einem Mann, der da war und auch als Person in Bereitschaft stand. Dass es mit der Fernwirkung auf die Dauer nicht getan sei und dass er aufgerufen würde, musste auch Rochefort erwarten. Als zu ihm der Redakteur einer extrem radikalen Zeitung kam und ihm im Namen des Volkes von Paris die Kandidatur für die fällige Ersatzwahl des ersten Wahlkreises antrug, nahm er sofort an, ganz wie ein Ungeduldiger. Aber ungeduldig war er nicht, sondern nur vorbereitet und entschieden, nach langem Kampf mit seiner Scheuheit: seiner mönchischen Angst vor der Öffentlichkeit. Warum war er denn nicht glücklich, der unfasslich Erfolgreiche? Weil es ein zuerst vicekaiserlich und dann gar kaiserlich autorisierter Erfolg war, er konnte es drehen und wenden, wie er es wollte, – weil er mit Keule und Stilett einen Gegner anfiel, der ihm souverän den Rücken kehrte und, sich endlich umdrehend, die Arme kreuzte, damit der Wegelagerer entlaufe. Der Pamphletist, unritterlich von Beruf, ritterlich von Geburt, wollte endlich Gefahr haben, er wollte endlich gefährdet, nicht nur gefährlich sein. Gefahr war schon, die Grenze zu überschreiten. Beide dachten daran, der Aufgerufene und der Aufrufer, und beide rechneten mit der Gefahr, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Vor Feignies, der Grenzstation, fragte der Redakteur: »Und wenn Sie verhaftet werden?«

»Dann werde ich heute abend schwerlich im »Grand Salon« sprechen können«, antwortete Rochefort und musterte den andern.

»Das wäre …«, meinte der Redakteur und lachte schnell.

»Das wäre grossartig, nicht wahr?, das wäre die wirksamste Art, mich einzuführen.«

»Es wäre von der Regierung eine grosse Dummheit«, sagte der andere trocken.

Fällt der Ruhm auf ein Gesicht, wie es Rochefort hat, so ist es leichtes Tun für die Polizei.

Der Zug hielt, in den Ohren sauste noch der Räderlärm, nein, bis in die Ohren klopfte das Herz.

Der Grenzkommissar sah das Gesicht und fragte nicht einmal, wer es sei; er stellte fest: »Sie sind Herr Rochefort.«

»Jawohl.«

»Bitte folgen Sie mir. Es liegt gegen Sie seit September vorigen Jahres ein Haftbefehl vor.«

Es war zwölf Uhr mittags. Der Kommissar telegraphierte an den Präfekten, der Präfekt an den Innenminister, und der Minister ging in die Tuilerien. Der Innenminister telegraphierte dann an den Präfekten, der Präfekt an den Grenzkommissar. So wurde es acht Uhr abends. Der Gefangene sass noch immer im Bahnhofsbuffet. Er hätte auch ins Städtchen gehen können. Er hätte auch entfliehen können. »Auf ausdrücklichen Befehl Seiner Majestät«, fügte der Kommissar respektvoll seiner Mitteilung hinzu; »in zwanzig Minuten haben Sie den Nachtzug nach Paris, Herr Graf.«

Rochefort sah nicht aus, als sei er glücklich.

 

Der erste Pariser Wahlkreis umfasste Belleville, La Villette, La Chapelle und Montmartre. Im »Grand Salon«, einem Tanzsaal auf La Chapelle, wartete die Masse auf den Mann, mit dessen Namen sie schon auf die Strasse gegangen war. Der Saal war laut, die Stunde des versprochenen und leidenschaftlich erwarteten Auftritts längst vorüber: wo bleibt Rochefort? Die Citoyens, die auf dem Musikpodium am präsidentiellen Tisch sassen, gestikulierten aufgeregt, ja, sie zeigten ihre Unruhe so ausdrücklich, dass der Saal garnicht anders konnte, als immer unruhiger zu werden. Zwischen der Versammlung und ihrer Leitung wurde die Unruhe wie ein Ball hin und her geworfen, schon bildete sich eine Methode der gegenseitigen Ansteckung mit Unruhe von so unmittelbarer und sich steigernder Wirkung heraus, dass das Ende der Szene nicht mehr recht abzuschätzen war. Nur der überwachende Polizeikommissar, der ebenfalls auf dem Podium sass, aber im ziemlichen Abstand vom Vorstandstisch und in geziemender Verlassenheit, spielte in vollkommener Ruhe und Gleichgültigkeit mit seinem Imperial oder mit seinem Bandelier oder einfach mit den korrekt behandschuhten Fingern.

Der Lärm war schon so gross, dass die Worte, die ein paar Redner in den Saal schleuderten, spurlos untergingen: obwohl sie doch nicht beschwichtigen, sondern aufpeitschende Zweifel am Schicksal Rocheforts verkünden wollten. Ob nun das artikulierte Gebrüll, das sich dann über dem Getöse erhob, der thematische Schrei also, die Worte: »Verhaftet!«, »Gefängnis!«, »Erschossen!«, vom Präsidium ausging oder aus dem Saal selber entstand, war ungewiss. Und jetzt kam doch ein grosser Auftritt. Auf dem Musikpodium stand plötzlich ein Mann, nicht Rochefort, aber doch sein Begleiter, wie der Saal sofort wusste, der Citoyen, der als Mitglied des Exekutivkomitees nach Brüssel geschickt wurde, um dem Verbannten Wunsch und Willen des Volkes mitzuteilen und ihn zu holen, – aber wie sah der Abgesandte des Volks aus! Fahl, mitgenommen, verschwitzt, mit wilden Haaren, atemlos, wie ein Marathonläufer, ja, ganz so, als sei er von Brüssel bis Paris gelaufen, einer fürchterlichen Gefahr, einem ungeheuren Unrecht entlaufen und zugleich ihr Bote, – es war eine starke Leistung. Er hob beide Hände in die Luft und riss die Augen auf: der Saal war totenstill im Nu. Der Unglücksbote schrie mit letzter Kraft: »Rochefort gefangen! – an der Grenze verhaftet!« Möglicherweise schrie er noch mehr, am Pult hängend wie ein Schiffbrüchiger, den Mund öffnend und schliessend. Aber der grosse Wutchor hatte schon seinen Part übernommen, der Saal erbebte. Der einsame Polizeikommissar schob mit gekreuzten Armen die Hände unter die Achsel und sah aufmerksam in die Luft oder zur Saaldecke, so als rechnete er kalten Bluts mit Einsturzgefahr. Der Läufer mit der Hiobsbotschaft stand jetzt am Vorstandstisch, man drückte ihm die Hand, – und dann begann der Vorsitzende die Glocke zu schwingen, so lange und so dringlich, bis er vernehmlich war und die wichtige und bewundernswerte Erklärung des anwesenden Gegenkandidaten und ursprünglich vorgesehenen Diskussionsredners aus dem feindlichen Lager ankündigte. Das feindliche Lager war schon die Gruppe Gambetta, so jakobinisch war der »Grand Salon«, so rot, so links: doch wenn der Vorsitzende sogar für die Gambettisten, Bourgeois doch, Worte des Lobes fand, in diesem Augenblick, so musste man sie anhören. Der Gegenkandidat stand schon auf der Tribüne und erklärte mit starker und bewegter Stimme, dass es nunmehr seine und seiner beiden Fraktionsfreunde selbstverständliche Pflicht sei, ihre Kandidaturen zurückzuziehen, aus Respekt vor Rochefort, als Antwort auf das Unrecht, das ihm und dem Volk angetan wurde, als Antwort auf das Attentat gegen das Allgemeine Wahlrecht. Der Gegenkandidat empfing den stärksten Applaus seiner politischen Laufbahn. Der überwachende Kommissar sah auf die Uhr; es war schon spät und das Ende noch nicht abzusehen.

Rochefort kam nach Mitternacht auf dem Nordbahnhof an, müde und bedrückt. Ein übernächtiger Bahnhof ist bedrückend; doch jetzt gilt wenigstens kein Ruhm und kein berühmtes Gesicht, jetzt will jeder schlafen. Rochefort warf sich in eine übernächtige Droschke und verlangte jenes Hotel in der Rue Montmartre, das durch den Orsiniprozess bekannt geworden ist. Dem Kutscher aber war es gleichgültig, er nickte müde und trieb das müde Pferd an. Doch schon an der Kreuzung der Rue de La Fayette und des Boulevard Magenta, jüngste der Ruhmesstrassen, gab es eine Stockung, – um diese Stunde? Rochefort fuhr in die Höhe. Von rechts, von Norden her kam sein Name anmarschiert, taktscharf und trittfest: Roche-fort! Roche-fort!, hinter der beschlagenen Fensterscheibe des Wagens zog eine dunkle dichte Masse auf, eine wandelnde Menschenmauer, einige mit Laternen, und die leuchteten dann ein paar Rücken aus dem Haufen, »Roche-fort! Roche-fort!«, und plötzlich wider den Takt: »Heraus mit Rochefort! Rochefort in Freiheit!«

Rochefort drückte sich in den schwarzen Wagenraum hinein, so als hätte man ihn entdecken können. Ihm brannte das Gesicht.

 

Diese Nacht schützte ihn noch vor seinem Namen, schenkte ihm ein gottverlassenes Hotelzimmer und einen bleiernen Schlaf. Der Tag dann lieferte ihn aus.

Das Wahlkomitee, dem der Ehrliche die Umstände jener achtstündigen Erholungspause im Bahnhofsbuffet von Feignies und seine Ankunft schon in vergangener Nacht mitteilte, war klug genug, die Namensmeute erst in den Nachmittagsstunden loszulassen und dadurch nicht nur das Märtyrertum für die Wählerschaft ein wenig zu strecken, sondern auch die Enthaftung als Folge des überaus vernehmlichen und wirksamen Volkszorns hinzustellen. Mit den zweihundert Menschen, die plötzlich vor dem Hotel auf der Rue Montmartre standen und schrien, schlug die erste Welle der öffentlichen Leidenschaft an ihm hoch. Er stand noch einen Augenblick im Hintergrund des dumpfen und dunklen Zimmers, im Schutz des privaten Lebens, der Klausur: dann riss er sich los und trat ans Fenster.

Zuerst war es wie bei einem Zirkus, der durch öffentlichen Umzug und billige Schaustellung seiner Attraktionen für das Unternehmen und den regen Besuch der Abendvorführung warb – der chinesische Riese Tschang-Wu-Po, altes und dankbares Gleichnis aus der Parabelzeit vor der Laternenzeit, mochte so durch die Strassen gefahren werden, im offenen Wagen barhaupt stehend, eskortiert vom Spruchchor, von Spruchbändern, Plakaten und Laternenmännern –, eine vielhundertköpfige Propagandakolonne, die den Verkehr lähmte, wo auch immer im Osten und Norden der Stadt sie auftauchte. Wäre nicht im Leben Henri Rocheforts die Parabel vom Clown immer wieder aufgetaucht oder das Witzboldhafte gar das Zerrbild des Daseins und der Schlagschatten der hageren Figur, so hätte vielleicht die öffentliche Leidenschaft, ihre grosse Forderung und ihr grosser Jubel, ihn betäuben oder betäubend glücklich machen können: es wäre sehr menschlich gewesen. Doch der Umhergefahrene sah aus wie ein Menschenfresser, keinesfalls glücklich, viel eher so, wie sich die Strasse ihren Unversöhnlichen vorstellte und wohl auch wünschte; denn so hiess er: der Unversöhnliche, so war sein Wahl-Titel, nicht etwa Désiré.

Doch die Propagandafahrt war immer noch ein Tanz auf den Wellen, eine stürmische Segelbootpartie, wo man Spritzer abbekam, hin und her geschüttelt wurde bis zur Übelkeit, aber nicht ins Wasser fiel. Man hatte immer noch den Wagen für sich, das Wrack des privaten Lebens, die Planke zwischen sich und dem wilden Element. Als der Abend kam und der Fiaker vor dem Versammlungslokal in der Rue Doudeauville hielt, wieder einem Tanzsaal, und als Rochefort aussteigen musste – es half ihm nichts mehr –, schlug die Springflut über ihm zusammen.

Was war er für ein Volksrepräsentant, der scheue Mensch, der nur eines noch mehr fürchtete als die körperliche Berührung: das öffentliche Reden? Seine eckige Person, verurteilt, Anstoss zu nehmen, wundgestossen von der Zeit, nun aber siegreich sie durchstossend, hatte jetzt den Triumph zu erfahren, der schlimmer war als der schlimmste Alptraum; denn er war körperlich, die Körperliebe der öffentlichen Leidenschaft. Der Ruhm war für ihn kein Polster geworden, wahrhaftig nicht, und was er gestern erlebte, die Travestie der gesuchten Gefahr, hatte den Ruhm noch fadenscheiniger und noch schamloser gemacht. So geriet er nackt und schamlos in die öffentliche Umarmung und stiess sich furchtbar an ihr. Ach, er brauchte nicht auszusteigen, die Meute riss ihn aus dem Wagen, und es war gut, dass sie brüllte: so versackte die Qual des Liebesweges durch den Saal, der Umarmungen, Küsse, zermalmenden Händedrücke, des Anhauchs stinkenden Atems, des Ruches von Fusel, Tabak, ungelüftetem Elend schliesslich doch im Getöse der Besinnungslosigkeit. So verloren zu guter Letzt die Beine den Boden: der Geschundene merkte kaum, dass er nun schwebte und auf dem zärtlichen Untier zum Podium ritt, mit den Händen sich festkrallend in struppigem Kopfhaar.

Als er auf die Beine gestellt wurde und die Leiber endlich von ihm abflossen, sah er sich neben dem Rednerpult. Es war jetzt also der Augenblick da, vor dem er Angst hatte, eine schmerzhaft im Magen sitzende Angst, die mit ihm mit durch die Massenleidenschaft geschleift wurde. Jetzt musste er reden. Sein Hemdkragen war verknittert, die Krawatte gelöst, der Jackenkragen aufgestülpt, – so wollte ihn die Menge reden hören, so mit dem unversöhnlichen Gesicht. Aber er konnte doch nur schreiben, nicht reden. Er konnte nur scharf und klug am Caféhaustisch oder am Redaktionstisch sprechen, wenn ein paar Freunde oder Feinde dabei waren, es verschlug ihm schon das Wort, wenn fremde Menschen hinzutraten, es hätte ihm die Kehle zugedrückt, müsste er stehend sprechen. Jetzt stand er vor dreitausend Menschen, vor einem Saal, dessen Wände dem verwirrten Blick ins Endlose davonliefen. Das schlug sich auf den Magen, er verzog das Gesicht vor Schmerz. Warum waren sie mit einemmal so still, warum brüllten sie nicht weiter? – »Meine Freunde!«, schrie er, – ach, er hatte eine schartige Stimme, und wenn sie, gänzlich ungeübt, zur grössten Lautstärke gelangen wollte, stach sie borstig die Kehle und schlug um, kaum dass sie das Wort aus dem Mund warf. Er hustete. »Ich bin gerührt!«, krächzte er und schlug jähzornig mit der Faust aufs Pult. Ein solcher Jubel brach los, dass er Zeit genug hatte, um die Kehle zu besänftigen und auch um zur Besinnung zu kommen. Dies war die Besinnung: man forderte nichts von ihm als seine Gegenwart, man hatte seinen Namen, seinen Körper und seinen Laut, man fragte nicht nach dem Sinn oder gar nach dem Geist. Der Zeitkritiker wurde kritiklos hingenommen, sinnlos, kopflos, aufgenommen vom grossen Rausch. – »Citoyens!«, schrie der Unversöhnliche mit der Miss-Stimme: man brüllte vor Lust. Er warf ihnen ein paar Satzbrocken hin, ein paar Schlagworte, Hassworte, Hetzworte, – sie frassen alles, sie hörten nicht hin, sie bejubelten seine Mundbewegung; und hätte er auch den Kaiser leben lassen, es gäbe Ovationen. Rochefort sah aus wie ein Menschenfresser.

Im Hotel wartete auf ihn der Chefredakteur. »Herr Rochefort«, sagte er und überreichte ihm ein dickes Kouvert, »die Gratulation ersparen Sie mir. Sie haben Bewunderung nicht mehr nötig. Hier sind dreissigtausend Francs, die Sie noch aus unserem Konsortialgeschäft zu bekommen haben. Sie haben auch Geld nicht nötig, aber ich möchte reinen Tisch haben. Ich gehe nämlich zur Opposition über, mit fliegenden Fahnen. Ich werde Sie bekämpfen, nicht weil Sie der neue Désiré sind, sondern weil Sie sich unversöhnlich nennen, aber doch bereits sich mit Ihrer demagogischen Lächerlichkeit ausgesöhnt haben. Auch der erste Désiré war ein schlechter Debütant und seine Jungfernrede hatte Ähnlichkeit mit der Ihren, so wie seine ganze politische Auftrittskomödie der Ihren nicht übel glich. Aber jetzt hört die Parallele auf: der versöhnliche Louis Napoleon hat sich in den Ernst hineinkartätscht, doch der unversöhnliche Rochefort wird der kaiserlich konzessionierte Laternenanzünder bleiben, auch als Abgeordneter. Das Lebenslicht wird er dem Kaiserreich also nicht ausblasen.«

»Sie mögen sich irren«, sagte Rochefort abgespannt.

»Möglich«, meinte der Chefredakteur, »aber unwahrscheinlich, dass eine Revolutionstravestie Revolution macht. Und wenn es wirklich geschieht, weiss ich nicht recht, was Sie dabei für eine Rolle spielen werden, denn dann wird es doch ernst. Ich also glaube nicht daran und habe von den Spässen genug; und obwohl der Kammer ein ganz linker und linkischer, wortkarger, also wirksamer Witzbold fehlt und ihr ganz gut tut, und obwohl Ihre Wahl so sicher ist, wie es nur je die Wahl des guten Louis Napoleon war, wird der Figaro schreiben, dass Sie ein unmöglicher Volksrepräsentant sind. Es schadet Ihnen ja nichts.«

Dies schrieb der »Figaro«, folgende Schilderung von der Wahlrede des Unversöhnlichen: »Er erscheint am Pult: Hoch Rochefort! Er giesst sich ein Glas Wasser ein: Hoch Rochefort! Er trinkt es aus: Hoch Rochefort! Er schneuzt sich: Hoch Rochefort! Er verlässt die Rednertribüne: Hoch Rochefort!«

 

Die schönste Kaiserin, auf der Estrade vom Khediven und Ferdinand de Lesseps, dem Kanalerbauer, empfangen, sass neben Franz Joseph. Es war drei Uhr. In ihrem Blick war die Reede von Port-Said mit hunderten beflaggten Schiffen aller Nationen. Der Mufti sang zum Meer hin das Lob Allahs und des Propheten, der Bischof von Alexandrien das Lob Gottes. Dann hielt der apostolische Protonotar, kaiserliche Almosenier, Kaplan der Tuilerien und Beichtvater der Kaiserin die grosse Weihrede. Das war Monsignore Bauer, einer von denen, welchen die Laterne heimleuchtete und als Zündstoff benutzte. Aber er wird nicht verbrannt, er wird auch nicht aufgehängt werden: er ist viel zu geschickt und gehört der Zeit viel zu innig an. Einmal war er, noch ungetauft, Achtundvierziger Revolutionär in Budapest, dann war er auch, in Frankreich mit einem Mal, Maler, Handlungsreisender und Photograph. Plötzlich war er Karmelitermönch, also getauft, schon war er ein berühmter Kanzelredner, schon trug ihn seine wunderschöne Stimme, seine zugleich samtene und metallische und plötzlich auch aufreizend hämmernde Stimme in die Tuilerien, – und er war elegant wie ein Abbé der Régence, die violette Soutane war sehr auf die zierliche Taille gearbeitet, der überaus breitrandige und geschweifte Hut beschattete das weisse, weiche, ironische Gesicht, er trug kurze Samthosen, lange lila Strümpfe und Schnallenschuhe, oder auch wundervoll gearbeitete weiche Reitstiefel mit Sporen, es kam ihm nicht darauf an, er ritt ja auch oder kutschierte einen Pony wagen in Saint Cloud und hatte immer zwei riesige russische Windhunde um sich, sie warteten vor der Kapelle, wenn er die Messe las. Die Kaiserin schätzte ihn sehr; denn er war klug, fromm und grosszügig, ein vollkommener Prediger, ein Meister in der Kunst, aus Geldsammlungen für wohltätige Zwecke eine Art Zwangssteuer zu machen, ohne dass die reichen Leute vor ihm wegliefen, und er war nicht einmal ein Intrigant. Er hatte durch seinen eigenen Gestaltwandel gelernt, dass man der jeweiligen Daseinsform keinen übertriebenen Wert, sondern gleichsam nur den Tageskurs einräumen soll, und hielt seine violette Würdentracht wohl für die hübscheste, aber nicht für die letzte seines amüsanten Lebens. So wird er sie auch recht bald wieder ausziehen, im Zug einer umkrempelnden Zeit, und weltliche Kleider anlegen, ausgezeichnet sitzende Anzüge vom besten Schneider, Frack mit stumpfem Chapeau claque für die Abende, grauen Gehrock mit grauem Zylinder für Longchamps, er wird immer genügend Geld haben, um eine Jahresloge in der Oper mieten zu können, und schliesslich mit siebzig Jahren eine junge Schauspielerin heiraten. Jetzt war er vierzig und hielt angesichts seiner Kaiserin und der Grossen dieser Erde die Weihrede zur Eröffnung des Suezkanals. Seine schöne Stimme fand schöne Worte von der feierlichen Stunde, der feierlichsten eine dieses Jahrhunderts, von dem grossen Fest der Menschheit, die mit Kreuz und Halbmond das erfüllte Wunder grüsst, den Friedensschnitt zwischen Afrika und Asien, den Triumph der Stunde und der Zukunft. Dann segnete er mit grossartiger Geste den neuen Weg der Schiffahrt, Kanal zweier Welten.

Es war der 16. November. Der Kaiser hatte morgens aus Paris telegraphiert: »Wir erwarten hier das Resultat der Wahlen, die auf jeden Fall schlecht sein werden; ob Peter oder Paul, die Kandidaten sind alle übel. Wir umarmen dich zärtlich.« Der weisse Pompadour, in dem auch das Telegramm war, lag in ihrem Schoss.

Die Kaiserin Eugenie fuhr auf ihrer weissen Dampfyacht hinter dem ägyptischen Aviso als erste in den Suezkanal ein, gefolgt von achtzig Fahrzeugen aller Nationen, darunter fünfzig Kriegsschiffen. Die Salutschüsse donnerten.

Der Beifall donnerte, als Rochefort im Wahlversammlungssaal erschien, eigentlich einem Tanzsaal. Er dankte mit ein paar Worten, es ging schon besser; denn er wusste ja, dass es gleichgültig sei, was er redete, und dass er nur da zu sein brauchte. Er wurde zum Ehrenpräsidenten gewählt, das war nun üblich so. Die Diskussion ging weiter, es betraf die Institution der Ehe, die abzuschaffen sei. Ein Revolutionsveteran von grossem Ruf, jener Schuhmachermeister, der das Grab Baudins entdeckt hatte, gab die bejubelte Parole aus: die wahre Ehe des Mannes von Ehre ist das Konkubinat. Jetzt gab der Vorsitzende einem Diskussionsredner das Wort, einem Citoyen Leon, man kannte ihn nicht. Am Rednerpult erschien eine seltsame Figur in einem altmodischen Rock mit Vatermördern und mächtigem Plastron; aber nicht die Tracht war es, die den Saal erheiterte, sondern der Kopf, das alte, verwüstete, bartlose Gesicht des abgesetzten Kriegsgotts mit Stirnsträhne und vorgebürstetem Schläfenhaar. Man rief sofort: »Vive l'Empereur!« Der Alte schlug mit überraschend kräftiger Stimme durch das Gelächter hindurch: »Ja, ich bin der Sohn des Kaisers …« Aber da wurde die Heiterkeit der Versammlung so lärmend – »Hoch Napoleon II.!« –, dass man ihn nicht mehr verstand, und schon auch zogen ihn zwei Ordnungsmänner von der Rednertribüne.

»Da haben Sie ja Ihren Liebling aus der Dynastie«, sagte ein junger Mann mit einem Kalmückengesicht und hängendem Schnurrbart zu Rochefort, neben dem er sass. Rochefort antwortete nicht, er lachte auch nicht. Der Alte mit dem Kaisergesicht erwies sich als unerwartet kräftig: nun zogen ihn schon vier Mann. »Ich muss sprechen!«, schrie er, »Redefreiheit! Rotzjungen, als ihr noch die Hosen vollmachtet, war ich schon Sozialist, aber religiös, aber religiös! Und ich habe hier das Gotteswort zu verteidigen …«

»Hoch Napoleon II.!«, tobte der Saal. Dann war der Alte quer über das Podium geschleift und durch den Notausgang gedrängt. Rochefort, der Ehrenpräsident, sah nicht aus, als fühle er sich am Platze.

Es wurde zur Abstimmung hinsichtlich der Regelung der Ehefrage geschritten; denn Abstimmung muss sein. Die unlösbare Ehe wurde verworfen, natürlich. Aber siehe, auch die Ehescheidung wurde verworfen. Spass muss sein: es wurde auch das Konkubinat verworfen. Der Saal donnerte im grossen Gelächter: »Zölibat! Allgemeine Zölibatpflicht!«

Der überwachende Polizeikommissar, isoliert, aber teilnahmsvoll, schlug sich vor Vergnügen auf die strammen Schenkel.

Rochefort riss böse am Kinnbärtchen. »Offenbach«, sagte er, »platzte vor Neid, wäre er hier.«

»Offenbach«, sagte neben ihm der Kalmück, »ist allgegenwärtig.«

Ein Ordnungsmann trat heran, vor Lachen schief. »Citoyen Rochefort«, lachte er, »eine Botschaft von Napoleon II.!«, und er präsentierte auf der flachen Hand wie auf einer Schale die Visitenkarte. Dort stand gedruckt: Le Comte Leon, darüber ein Krönchen, aber Krönchen und Comte waren mit Bleistift ausgestrichen, darüber stand geschrieben: »Citoyen« und darunter: »bittet den Volksrepräsentanten Rochefort in dringlichster Angelegenheit um eine Unterredung.«

Rochefort lachte kurz auf und zeigte die Karte dem Kalmücken. Der sagte: »Grafen, die sich ausstreichen, haben meine Sympathie.«

»Auch wenn dann nur ein armer Narr übrig bleibt, lieber Georges Clémenceau?«

»Justament.«

»Dann müssen auch Sie bei den Narren dabei sein.« –

Neben dem Podium war ein fensterloser Raum, in dem eine mächtige Pauke stand, sonst nichts. An der Mauer lehnten zusammengeklappte Notenständer. Der Ordnungsmann stellte einen von ihnen auf und steckte zwei brennende Kerzen in die Halter neben dem Gestänge.

Leon trat ein, verbeugte sich und schritt sofort zum Notenpult, so als sei es der für ihn bestimmte Ort. Der weiche und unruhige Kerzenschein machte aus seinem verfallenen Gesicht ein grossartiges Kaiserantlitz. Da stand der erste Napoleon als alter Mann, ein Kaiserspuk. Rochefort blieb hinter der Pauke, der Kalmück an der Wand.

»Herr Volksrepräsentant«, sagte Leon, »ich danke Ihnen sehr …«

»Nennen Sie mich bitte Rochefort und sagen Sie mir unumwunden, was Sie zu mir führt.«

»Ich schätze, Herr Rochefort, Sie sind vierzig …«

»Ungefähr, lieber Herr, aber ich habe nicht sehr viel Zeit, begreiflicherweise.«

»Ich bin fast ein Menschenalter älter, Herr Rochefort, ich habe also noch weniger Zeit. – Ich wollte mir mit meiner Schätzung nur bestätigen, dass Sie den Propheten Coëssin nicht mehr gekannt haben können.«

»Wen?«

»Als Sie noch ein Kind waren, lehrte dieser wunderbare Mann und grosse Christ und nahm mich auf in seine geistliche Familie. So bin ich ein Sohn des Kaisers Napoleon und zugleich ein Sohn des Propheten Coëssin …«

»Hören Sie«, unterbrach Rochefort, »so geht es ja nun nicht …«

»Lassen Sie ihn doch reden, Rochefort«, sprach aus dem Hintergrund der junge Doktor Clémenceau, eben niedergelassener Arzt auf Montmartre.

»Ich danke Ihnen, mein unbekannter Herr«, sprach Leon in den Hintergrund und verneigte sich. »Sie erlauben mir zu sagen, was ich durch meinen grossen Vater Coëssin geworden bin: nämlich christlicher Sozialist. Darum eben handelt es sich.«

»Schön und gut«, meinte Rochefort, »ich sehe aber keinen rechten Zusammenhang …«

»Hier ist der Zusammenhang, Herr Rochefort. Als Sie noch ein Kind waren, wollte ich meinen Vetter Louis Napoleon zu London im Duell töten. Doch Gott hat es nicht zugelassen. Als Sie noch ein Jüngling waren, lud ich die Pistole, um den Prinzpräsidenten am Ausgang des Elysée-Palastes zur Marigny zu erschiessen. Aber Gott band mir die Hände, auf dass mir die Augen aufgehen.«

Ein armer Narr, dachte Rochefort; doch ihm war nicht wohl zu Mute. Ihm war nicht wohl in seiner Haut, schon lange nicht. »Aber, lieber Herr, ich begreife Sie immer noch nicht recht, – was soll ich denn mit Ihrer Beichte anfangen?«

»Das ist keine Beichte, Herr Rochefort«, sagte Leon würdig, »und Sie sind kein Beichtvater. Das ist der Nachweis meiner Berechtigung zu reden und des grossen Unrechts, dass man mich nicht hatte reden lassen.« Er hob die Arme. »Die Blinden! Die Blinden! Sie tappen blind ins Meer von Blut und stehen doch auf grüner Aue! Sie lästern Gott, der sie geliebt hat zwanzig Jahre und sie segnete und ihnen den Mann schenkte, der durch Sünde und Irrtum hindurchgegangen ist und jetzt, gerade jetzt, vor der schönen Pforte steht, wie mein Vater Coëssin sie sah, und sie schon aufstösst in das christliche und soziale Reich! Ja, Citoyen, ich, der Sohn des Propheten, dem die Augen aufgegangen sind, wollte den Blinden die Augen öffnen und ihnen den sozialen Kaiser zeigen!«

»So«, sagte Rochefort, »und jetzt wollen Sie wenigstens mir die Augen öffnen, ja?«

»Nein«, antwortete Leon, »Sie haben die Augen offen, Sie sehen das Meer von Blut, Sie mögen es mit Gott abmachen oder mit Ihrem Gewissen, da Sie ja Gott leugnen. Sie sollen mir nur glauben, dass ich den Mut gehabt hätte, zu den Blinden so zu sprechen, wie ich zu Ihnen gesprochen habe.«

»Ob ich es glaube oder nicht, Herr Leon, was haben Sie davon? Und was in aller Welt ist nun endlich die so sehr dringliche Angelegenheit, die Sie mit mir zu verhandeln haben?«

»Dass Sie mir glauben, Herr Rochefort, und es …« Leon stockte und senkte den Kopf auf die Brust, » … und es unter Umständen bezeugen«, schloss er demütig.

»Bezeugen?«, fragte Rochefort.

Leon kam hinter dem Notenständer hervor, und sein Gesicht erlosch. »Wenn Sie ein Herz hätten …«, sagte er leise und stöhnte. »Ich will tun, als hätten Sie ein Herz, vielleicht rührt es Gott dann an. Ich wollte den Präsidenten Louis Napoleon töten und gab Ruhe, weil mir der Kaiser Louis Napoleon eine Pension gab. Da war ich noch in der Hölle, mein Leben lief durch viele Höllen, dann ging es bergan, zehntausend Francs jährlich, achtzehn Jahre lang, dann gingen mir die Augen auf, aber niemals durfte ich zum Kaiser, um ihm zu danken. Achtzehn Jahre lang, jetzt sind sie alle undankbar und bedrohen ihn, und ich wollte mich heute vor ihn hinstellen, dass er es in der Zeitung lese und sich freue und die Verachtung von mir abhebe. Aber ihr habt mich nicht sprechen lassen, und wenn die Polizei morgen meldet, dass ich habe bei euch sprechen wollen, und niemand weiss und bezeugen kann, was ich habe sprechen wollen, – dann, ja, dann wird mir die Pension gestrichen. Ich bin bald fünfundsechzig.«

»Keine Sorge, Herr Leon«, sagte Rochefort und hustete verlegen; er wollte ihm sogar die Hand geben, aber das tat er denn doch nicht, die Hand irrte ab und streifte die Pauke und es gab ein dumpfes dunkles Dröhnen.

 

Paris hat zwei Gesichter: am Abend des Wahltags ist Opernball, es ist auch Empfang in den Tuilerien. Als der triumphale Wahlsieg Rocheforts bekannt wurde, zogen die von Belleville und Montmartre mit Laternen auf die Strasse – denn dem Laternenmann wird kein Fackelzug dargebracht – mit Rochefort-Ruf und im Rochefort-Takt, man kannte es schon. Die Stadt ist gross, sie lässt ihre Gesichter nicht ineinander fliessen. Die Masken strömen über die grosse Treppe des Opernhauses, durch die Luft schwingt ein Walzer von Strauss; aber es ist noch der Beginn, man ist noch nicht warm, – auf La Villette ist man schon heiss und heiser von Marsch und Schrei: die Stadt vermischt es nicht. Es ist die Zeit der grossen Treppen, wenn man hoch kommen will, geht es grosse Treppen hinauf, und die wichtigste Treppe ist von Cent-Gardes flankiert, die so gross sind, dass Ihre Brustpanzer den vielen schönen Frauen, die hoch streben, als Spiegel dienen, ohne dass sie sich zu bücken brauchen. Aber der Kaiser ist heute von Parlamentariern umringt, möglicherweise ist die Kaiserzeit für die Frauen schon vorbei, obgleich er jünger aussieht oder doch wieder dunkle Haare und eine zähe feine Röte auf den morschen Wangen hat. Der Kaiser ist von liberalen Abgeordneten belagert, man sieht ihn kaum mehr an seinem Kaminplatz, er ist von der ehemaligen Opposition gleichsam zugedeckt, so lieben sie ihn jetzt. Aber es ist auch Neugierde bei. Hat er schon mit Ollivier gesprochen, hat er ihn schon heimlich berufen, kommt das Kabinett Ollivier? Alle sind da, aber nicht Ollivier, und in einer Woche beginnt die Session. Ollivier ist noch immer in Saint-Tropez. Nun, er war schon beim Kaiser, schon im Oktober, man weiss es nur nicht, und von dem sanften und müden Kaiser werdet ihr es nicht erfahren. Aber ihr dürft um ihn herumschwirren, ganz ohne spanisches Zeremoniell, Eugenie eröffnet den Suezkanal, und ausserdem haben sich die Zeiten geändert, man ist auf der Schwelle des Volkskaisertums. – Und eine Fledermaus flattert durch den Saal, taumelt klingelnd durch die Glaszapfen der Lüster, die Lakaien veranstalten eine diskrete Jagd, ein paar Damen kreischen und schützen lieblich und sinnlos das Dekolleté, – eine Fledermaus im November? Kein gutes Zeichen, soweit man in dieser geänderten Zeit noch abergläubisch ist. – Ja, Rochefort ist gewählt. – Ob Peter oder Paul, soll der Kaiser in aller Ruhe gesagt haben, sie sind alle übel, Abhub der Unordnung, Verrenker der Freiheit, – ich aber stehe für die Ordnung ein, Sie, meine Herren, mögen mir helfen, die wahre und ordentliche Freiheit zu schaffen.

Zuerst geht der Empfang zu Ende, die Fledermaus ist erschlagen. Dann erlischt allmählich der Triumphzug der Laternen, es ist ja nebelnasser November. Jetzt blüht der Opernball auf.

Das Leben ist schön und lustig, nun schon seit zwanzig Jahren, und hier kannst du sein, wie du willst, und dich kostümieren, wie du Lust hast; denn es herrscht Maskenfreiheit. Die Zeit ändert sich, sagst du? Sie hat doch immer noch den Lachreiz im Bauch, sie lacht immer noch über Tod und Teufel. Was kommt? Revolution? Es ist zum Lachen!

Es war nach zwei Uhr, dass mit einem Mal der Jubel der Glücklichen stärker wurde als die Ballmusik. Eine riesenhafte Maske erschien, die Menschlein reichten ihr bis an die spitzen Knie; denn die Maske ging auf Stelzen. Sie trug als Larve das wilde Gesicht des Tages, den übertriebenen Kopf mit der Beulenstirn, dem schwarzen Qualm der Haare, Stichflämmchen der Brauen über den Menschenfresseraugen und schnaubenden Nüstern, – in der Hand die Laterne.

»Roche-fort! Roche-fort! Roche-fort!«

Hier wird nicht marschiert: doch sieh, es liess sich auch danach tanzen. Der Kapellmeister war ein geistesgegenwärtiger Mann; er schrie, als die Woge des Namens über ihm zusammenschlug, seinem Orchester zu:

»Galop infernal!«

Die Musik brach durch und riss schon die Herrschaft an sich. Die kleinen raschen frechen Tonhiebe prasselten auf die Beine, immer schneller, immer schneller, die regierende Melodie kommt jedem Wunsch entgegen, jedem Namen, – Rochefort ist nun ein Couplet von Offenbach. Die Rochefort-Maske steht wie eine riesige Vogelscheuche im aufgewühlten Feld des Cancan; denn mit Stelzen kann man nicht tanzen. Sie schlägt den Takt mit der Laterne.


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