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Man weiss, dass Henri Rochefort zwar wie ein Menschenfresser aussah, aber nicht einmal als Chronist jene, die er hasste, verschlingen durfte – denn da es die Menschen dieses Staates waren, die er hasste, wäre es Politik gewesen, sie zu fressen, und Politik war ihm bekanntlich verboten –, und dass er als Privatmann ein grosser und zuweilen sogar etwas läppischer Freund der Kinder und Tiere war, der leicht närrische Vater seiner süssen Lucile. Als ihm damals sein Chefredakteur de Villemessant mitteilte, dass der Herzog Morny erkrankt sei – »merkwürdig prompt«, wie der bärbeissige Mann bedeutsam hinzufügte –, wusste der Menschenfresser gewiss selber noch nicht, dass er fähig sein würde, sogar eine Leiche anzufallen. Denn er antwortete nur, dass es mit der Krankheit wohl nichts Besonderes auf sich haben würde, da der Herr schon ansehnlich über das Alter der Götterlieblinge hinausgediehen sei, wahrscheinlich auch niemals den Beruf gespürt habe, als solcher zu gelten, also früh abzutreten, und nun eben sein Vicekaiserreich mittels seines Schneiders regieren werde. Das war eine Anspielung auf den Vicepräsidenten der Kammer, der Schneider hiess und als Waffenfabrikant von Creusot die besondere Missachtung des Chronisten genoss, – das war eine durchaus Rochefortsche Antwort, stilecht, aber leider nicht zu publizieren. Als dann der Chefredakteur aus dem Palais Bourbon die Kunde heimbrachte, dass der Herzog Morny sehr krank sei, bedenklich krank, fürchterlich angefallen und zugerichtet von zwei Krankheiten, der alten rätselhaften und der neuen unzweideutigen, sagte der Chronist nichts; aber die schwarzen Flämmchen seiner Brauen flackerten. Herr de Villemessant betrachtete ihn und sprach: »Er deliriert. Es heisst, dass dabei sehr oft die Premiere der »Schönen Helena« eine Rolle spiele.«
»Noch eine Schöne-Helena-Rolle!«, staunte der Chronist. »Wenn das Herr Offenbach vorher gewusst hätte!«
»Sie haben kein Herz«, tadelte der Chefredakteur.
»Was hat das mit dem Herzen zu tun«, lachte Rochefort, »das ist doch nur das redaktionelle Misstrauen gegen Gerüchte, die von Ihnen stammen …«
Als schliesslich an jenem Märztag 1865 die Todesnachricht durch die Strassen tönte, nicht wie Sturmgeläut, aber doch wie von Trauerglocken, und sie der zu üblich später und unordentlicher Stunde sein Haus verlassende Chronist schon an der nächsten Strassenecke vernahm – er blieb dabei offenbar gleichgültiger als der Tabaktrafikant, welcher der Übermittler war, und kam sogar fünf Schritte später in eine Art Singsang, spazierstockschwingend –, hätte er in der Redaktion seinem Chef die drei Worte – Morny ist tot – im gleichen Augenblick sagen können, in welchem der stark Erregte sie ihm zuwarf, statt des Grusses. Doch Rochefort nahm sie an wie eine Neuheit und sagte dann erst, Hut und Mantel aufhängend, dass er es bereits wisse. – Ob er denn überhaupt ahne, rief der schwere Mann wie aufgebracht, was es für die Zeitung bedeute?
»Viel«, gab der Chronist zu und setzte sich an seinen Tisch. – Schutz und Halt und Sicherheit, klagte der Chef, und Informationen, Einfluss, Ratschlag …
»Noch viel mehr«, hetzte Rochefort fröhlich und zog ein unordentliches Papierbündel aus der Rocktasche, Zeitungen und Notizblätter, aus denen dann, immer im letzten Augenblick und oft genug im Setzsaal, die Chronik zu entstehen pflegte.
Herr de Villemessant sah ihm aufmerksam zu. »Berührt es Sie denn gar nicht?«, fragte er; »es gab da doch Berührungspunkte …«
»O doch«, versicherte der Chronist, schon mit den Papieren beschäftigt, »es berührt mich. Ich bedauere, dass es nicht der Nekrolog ist, den ich jetzt schreibe.«
»Rochefort, Herr Graf Rochefort-Lucay«, sagte der Chefredakteur und beugte sich über den Tisch, so als wollte er die Wirkung seiner aufreizenden Anrede genau beobachten, »ich möchte ganz gerne wissen, wie es jetzt in Ihrem Innern aussieht.«
»Günstig«, sagte Rochefort und sah böse auf, »ausserordentlich günstig; denn ich werde von nun an den Nekrolog schreiben, nichts als den Nekrolog. Das ersetzt Ihnen unter Umständen den teuren Toten, ja?«
»Die Umstände«, meinte Figaro nachdenklich, »haben nun allerdings eine Zukunft, aber doch auch ihre Gefahren. Machen Sie mich bitte nicht unglücklich.«
»An Ihrem Unglück liegt mir nichts,« sagte der grausame Mann, »oder so wenig wie an Ihrem Glück. Aber wenn Sie wollen, mache ich einen anderen unglücklich.«
»Nein«, rief Figaro und hob beschwörend die Hände, »dann schon lieber mich!«
Schon hinter dem vicekaiserlichen Staatsbegräbnis schlich das Gerücht von Mornys Delirium, hörbar nur für die mit den feinsten Ohren, und das waren zugleich die mit der feinsten Stimme, die kompetenten Flüsterer. Sie trugen das Gerücht, das geradeswegs aus dem Totenhaus gesickert sein sollte, zu den politischen und literarischen Legendenmachern und ihren Verteilungsstellen, den Salons, Clubs und Cafés. Die Stadt hatte gelernt, unter der Staatshand, die auf ihrem Mund lag und jetzt wohl wieder den Druck verstärken wird, zu atmen und zu reden: das Gerüchtwesen war organisiert. Die, welche es anging, wussten bald, dass Morny von Rochefort delirierte; denn ein Gerücht wird bei denen, die ihre Freude daran haben, zur Gewissheit. Dazu gehört die Vor- und Nachgeschichte, die sich wie Kristalle um den Legendenkern bilden. Die Vorgeschichte, ganz abgesehen von der berühmten Saint-Remy-Kritik, gipfelte in der dramatischen Schönen-Helena-Pause, wo Rochefort seine bekannte Weigerung mit folgenden Worten dem gezeichneten Staatsstreichgewinnler an den Kopf warf: »Ich habe nicht die Gewohnheit, mich Mördern vorstellen zu lassen!« Das Nachspiel war das übliche, letzte Wort jedes bedeutsamen Mannes auf dem Sterbebett. Mornys letzte Worte also lauteten: »Hütet euch vor Rochefort!«
Der Chronist wusste, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hatte; er wusste ja auch, aus welchen Gründen ihn der Figaro dämonisierte. Aber er fragte sich keinen Augenblick, ob das Gerücht stichhaltig oder als Mache und Zweck nichts als unanständig sei: und schon diese fahrlässige Hinnahme und Annahme einer lugubren Legende, die zugleich auflagenfördernde Verlagsreklame und publizistisches Programm war, gehörte zur sonderbar heftigen Abkehr von jedem Gefühl, die nun offenbar wurde. Wenn die Zeit, vom Figaro sinnfällig dargestellt, ihren Liebling nur so lange kennt, wie er lebt, so ist es ein Vorgang, der für jeden Protagonisten der Politik oder des Theaters zutrifft. Die Fessel der Dankbarkeit, die den Figaro an Morny band, war auf natürliche Art gelöst: der Gönner war tot, die Zeit aber, die in der Zeitung enthalten ist, geht ihren Weg weiter, und der Weg entfernt sich doppelsinnig von dem Toten. Das wusste der Chefredakteur und jeder von den vielen Flüsterern. Die Fessel der Dankbarkeit fiel auf wenig gemütvolle, doch zwangsläufige Weise, der Zeit gemäss. Etwas Anderes aber ist es, etwas sehr Besonderes und Furchterregendes, ja, etwas Unmenschliches ist es, wenn die Undankbarkeit entfesselt wird. Dies nun traf bei Rochefort zu, und es erwies sich, dass der Kindernarr und Tierfreund grausam war bis zum äussersten Gegensatz zur Ehrfurcht vor dem Tod. Denn auch bei ihm war es der Tod, der die Fessel sprengte, eine rätselhafte, böse und qualvolle, die ins Fleisch schnitt oder in die Seele und auch die Zunge band und die Hand, die Hand mit der scharfen Feder. Jetzt war er frei, es war ein ungeheurer Glücksfall, ein gänzlich unverdienter doch. Die Abhängigkeit von dem Mann, den er nicht kennen lernen wollte, weil er ihn zu gut kannte, ja, weil er ihn fürchtete, die höchst sonderbare, vergeblich bekämpfte, sehr verborgen menschliche, menschenwürdige Rücksicht, die sogar den Hass zurückhielt, war gefallen, und der Hass war frei, gewiss der alte Hass auf den Staat, aber siehe: auch auf Morny. Weil er seinen Staat verjüngen und verewigen wollte? Aber er ist doch tot, gestorben zu Beginn der Reichserneuerung, gescheitert also auch als Reformator. Requiescat in pace – nein und nein! Der Hass war endlich frei: Rochefort dankte es dem Tod, indem er den Toten anfiel. Hass ist erbarmungslos, und die Lücke, die sich bietet, ist dazu da, erweitert zu werden, mit allen Mitteln. Das Figarogerücht gehörte zu den tauglichen Mitteln, vielleicht war etwas Wahres dran, wer wusste es denn? Zu denken, dass Morny mit Rochefort gerungen hatte wie Rochefort mit Morny: wäre es nicht Gerechtigkeit? Und hatte nicht Rochefort hundertmal geschrien, ganz für sich, lautlos, mit qualvoll verriegelten Lippen: Hütet euch vor Morny? Wenn nur der grosse Feind selber die Warnung vernommen hatte, so war sein Tod ein Sieg Rocheforts. Die Gegenwarnung auf dem Sterbebett sei wahr oder falsch: sie macht den Lebenden furchtbar. Hütet euch vor Rochefort!
Der »Figaro« war ein literarisches, unpolitisches, gesellschaftskritisches Halbwochenblatt konservativen Geschmacks. Nun wurde es für den Leser eine reizvolle und gemach aufregende Beobachtung, wie sich in der Zeitung, der ihr Antlitz keineswegs veränderte, eine tolldreiste Enklave bildete, eine unliterarische, polemische, staatskritische, ja, staatsfeindliche Kolonne: die Rochefort-Chronik. Gewiss, es gab sie schon geraume Zeit, sie war nun fast so alt wie dieses Dezennium und tanzte bekanntlich gerne aus der Reihe, mit frechen Clownsprüngen. Jetzt aber wurde es ernst, jetzt wurde scharf geladen, und es erhöhte nur den Reiz und den Schauder, dass der Mann des Morny-Deliriums aus guten Gründen immer noch als Harlekin auftrat, mit umwickelter Mordwaffe. Denn, nicht wahr?, er konnte sich nicht gut im roten Hemd des Anticäsars Garibaldi zeigen, den er so dreist verehrte, er durfte sich nicht selber den Haftbefehl und seiner Zeitung das Todesurteil ausstellen und dem ehrenwerten Polizeipräsidenten Pietri, Joachim Pietri jetzt, des finsteren Pierre finsterem Bruder, die Arbeit zu leicht machen. Aber die Schminke wurde reichlich dünn aufgetragen, die Waffe nicht eben ängstlich verkleidet, ihre Umrisse und die Form des bitterbösen Gesichts konnten allmählich selbst die Kurzsichtigen erkennen. Man brauchte nur ein wenig aufzupassen und begriff schon seine kecke Technik im Nu, die Technik des Beiläufigen, der Parenthese und vor allem des Gleichnisses, der boshaft fadenscheinigen und immer nachlässigeren Umkostümierung. So kam ein Lob zustande, das ebenso aufrührerisch war wie der Tadel, aber gerade noch genügend nebensätzlich, eingeklammert oder parabolisiert, um den Chefredakteur, der von nun an ein Generalabonnement auf Zensur-Vorladungen besass, immer wieder mit heiler Haut davonkommen zu lassen, mit heiler Haut und Auflagensteigerung, – Lob auf Victor Hugo, immer wieder auf Victor Hugo, das grosse Volksvermögen im Ausland, Lob auf alles, was nicht gelobt werden durfte, auf Renan, Antiklerikalismus, Freimaurertum, Thiers und die Kammeropposition, britischen Respekt vor dem Individuum, nordamerikanische Demokratie und auf Garibaldi. So kam ein Tadel zustande, eine Sense des Abspruchs, die mit immer breiterem Schwung mähte, in immer grösserem Umkreis, einreissend und mitreissend; und der Leser, staunend über den Umfang des Hinfälligen, aber auch über die groteske Aufmachung des Schnitters, freute sich (und es freute sich der Figaro in seiner Drangsal). Allmählich und unter zahllosen kleinen chronistischen Schlägen entstanden die beiden Hauptbegriffe des Tadelnswerten und Auszurottenden, von dem furiosen Mann die »Dekadenten« und die »Gross-Bohemiens« genannt, und hinter beiden Begriffen lag die Morny-Welt. Dort lebte der Kaiser, der ungenannte.
Die Morny-Welt beginnt bei Morny. Der grosse Herr ist tot. Was tut es dem Chronisten, der gerade hier die spitze Feder ansetzt, die Gazetten triefen noch von Nachrufen, – es tut ihm nichts oder es regt ihn an, und die eingeweihten Leser bestätigen sich, dass er der Fiebermahr des Sterbenden gewesen sein muss und sein Name das berühmte letzte Wort. Es tut ihm nichts, dass sein journalistischer Ruhm, der närrisch entstand, weil der grosse Herr ihm die Narrenfreiheit gewährte, jetzt wieder den Vicekaiser vorspannt und sich von dem Toten ziehen lässt, die Peitsche gebrauchend. Das ist eine schauderhafte Entwicklung, vom tückischen Clown zum bösen Geist, und sie spricht nicht für den Charakter des Chronisten, – kein Leser möchte ihn zum Feind haben; doch jeder liest ihn gern und setzt sich das Mosaik des Hasses zusammen. Denn es ist das Spiel der Zeit, die durch den Gemütlosen die Schicksalssteinchen ausbrechen und in handliche Form bringen lässt; es ist die Wand der Zeit, mit dem Menetekel in Rocheforts Narren-Handschrift; es ist der Wandel der Zeit, spürbar schon in der Luft, schon in den Nerven, und der ihn auszudrücken den prometheischen Mut hat und die Gabe der steigernden Dosierung, ist willkommen, auch wenn er die Clown-Seele dem Teufel verschrieben hat.
Der Immoralist kommt euch moralisch und um der guten Sitte willen fleddert er Leichen. Kennt man die Spielart nicht bereits aus den süsseren und sanfteren Tönen des weltberühmten Offenbach? Nackte Lästerung ist abstossend; aber angetan mit einem anmutigen oder auch nur spöttischen Lendenschurz ist sie reizvoll. Travestie ist beliebt. Die Rochefort-Travestie verbindet die ironische Revue mit der Sensation gefährlicher Artisten-Tricks, etwa von Trapez-Künstlern: zur Belustigung kommt also noch der Rückenschauer. So wenigstens begann die Vorstellung, mit den Nebensatz-Tricks und der Sensation in der Parenthese. Hier ist die Verderbtheit des zeitgenössischen Lebens, eine Bilderfolge. Die grosse Erfolgsleiter: da sieht man die Kokotten, die ausgehaltenen Schauspielerinnen, die konzessionierten Ehebrecherinnen, die Spekulationszentren der Börsianer, Rennstallbesitzer, Bildersammler, Grossindustriellen und Theaterdirektoren, – und hinter jeder Gruppe der Verderbten sieht man in der Klammer wie in einem Käfig den Verderber. Er braucht niemals genannt und nur zu Anfang apostrophiert zu werden, er sitzt schon hinter dem leicht schraffierten Gitterwerk gut erkennbar, als sein eigenes Symbol. Es ist immer Morny.
So ist die Welt, in die man euer Leben hineinzwängt, oder die Gesellschaft, die euch im Joch hält. Und damit ihr nicht vermeint, dass sich der Chronist mit den Einklammerungen des Hassenswerten begnügt, mit dem Schriftzeichen des Käfigs für den Bösewicht – denn die Zeiten des guten Königs Louis Onze, der seinen Kardinal Balue realiter in einen Käfig steckte, unter Assistenz eines leibhaftigen Teufels, sind leider vorüber –, damit ihr nicht glaubt, dass der Chronist den Sinn seiner Bemühung nur in Parenthese zu setzen wagt, kommt er euch jetzt mit einer ganzen Abhandlung über den zeitgenössischen Beruf des ›Letzten Edelmanns‹. Denn es ist wieder einmal, wie die Gazetten klagend melden, der letzte Edelmann gestorben, des Reiches erster Jockeyklubist, Baccaratist, Kokottokrat, residierend in der Chambre séparée Nummer dreizehn der Maison-dorée, ein Greis von Mitte dreissig, bestsitzender Frack, arbiter elegantiarum, Beschäftigtster aller Nichtsnutze, versehen mit einem Sonder-Doppelruhm: erstens als Erfinder des Einmann-Diners zu fünfhundert Francs, vertilgbar ohne Aufstossen und Sodbrennen, zweitens als – hierarisch, nicht etwa chronologisch – Erster Liebhaber einer Prophetenfrau. Wenn sich der Chronist mit diesem letzten Edelmann beschäftigt, so bleibt er dabei vollkommen in der behördlich vorgeschriebenen Berufsform des Gesellschaftstratsches. Wenn er euch gleichzeitig an den Tod des vorletzten Edelmannes erinnert, jenes ganz grossen Herrn, an dessen Bahre im März die gesamte Nation zu trauern hatte, so geschieht es nur, um die Bedingtheit alles irdischen Ruhms zu zeigen und um die Moralphilosophie zu betreiben, die dem Chronisten in gelinder und allgemeiner Anwendung gestattet ist. Denn noch der Schatten jenes ganz grossen letzten Edelmannes ist imstande, die Aureole des jüngst verstorbenen letzten Edelmannes zu verdunkeln, die Superlative seiner Lebens- und Eigenschaftsstufe zu degradieren und die ganze glorreiche Erscheinung in den zweiten Rang zu drücken. Eine nähere Vergleichung ist nicht erlaubt; denn sie geriete zur abfälligen Kritik des jüngsten Toten und darüber hinaus in jenen Bereich, der ihm Gottseidank verschlossen blieb, nämlich ins Politische. Möglich scheint aber, immer noch im Schatten des Titanen, eine Art Vorschau auf die Neuwahl des letzten Edelmanns – es muss ja immer einen geben, auf dass er bei seinem Tode so genannt werden kann –, jedoch keinen Personalvorschlag, zu welchem der Chronist in keiner Weise berechtigt wäre, sondern nur eine Theorie der Auslese. Gilt als Postulat die Vollendung, die wir einmal erlebten, in jener einen und einzigen Persönlichkeit, so muss leider gesagt werden, dass die Werte und Würden, die wir bei dem jüngstverstorbenen Titelinhaber feststellen konnten, tatsächlich nur auf der Epidermis sitzen und zwar im doppelten Sinn auf der des Designierten und seiner Gesellschaft, dass also eine Abwertung vorliegt oder ein Wertschwund, eine Dekadenz des Dekadenten, – so etwa, als wenn in Staatsinstitutionen an Stelle des verhinderten Präsidenten sein Schneider oder Schuster die Regierungsglocke schwänge. Der vollgültige letzte Edelmann trägt sich nicht nur nach der letzten Mode und lebt danach, sondern er macht sie, er formt also das Leben, auch das öffentliche. Da er nicht für die Zeit da ist, sondern die Zeit für ihn, so ergibt sich die Aufgabe, die Zeit weniger nach seinem Ebenbild zu formen – denn davon hat er wenig, Narziss, dem ein unsicherer Wasserspiegel genügt, ist neben ihm ein Simpel – als nach seinem Vorteil. Für einen Vicegott dieser Art ist annähernd die gleiche Intelligenz, Geschmeidigkeit, schwarzmagische Schmelzkunst und Zersetzungswissenschaft erforderlich wie für den Antichrist. Mithridates hatte nicht nötig, nach dem philosophischen Stein zu suchen; denn was er berührte, wurde Gold, ob Kot oder Mensch. Die Idealfigur, die zur Debatte steht, ist ein Über-Mithridates; denn ihr ist Gold nicht alles, sondern nur ein Teil des Allvorteils. Er ist der chymische Magus des Eigennutzes und tut alles in seinen Schmelztiegel: Kot und Gold, Mensch und Volk, Seele und Geist, auch die Tugend, selbst den Fortschritt. Dazu nur ein Beispiel: gesetzt den Fall, der bestehende Staat ist die vollkommene Nutzform für ihn, die Gleichungsformel für seinen Vorteil; gesetzt den Fall, seinen Augen – denn er ist scharfsichtig – zeigen sich Risse in der Form, Staatsgefahren, hervorgerufen durch die Misswirtschaft einerseits und durch die Stosskraft alten Abwehrwillens und neuer Ideen andererseits, seine Ohren – denn er ist scharfhörig – hören die Flüche selbst unter der Staatsfriedhofsdecke, die über der öffentlichen Meinung lastet, selbst hinter dem allgemeinen Sicherheitsknebel: was tut dann der Idealgrande? Er reformiert. Er zieht alles herbei, was wünschbar ist und gut und ehrlich und gesund und zukunftsträchtig, er schleppt alles herbei, was die besten Geister ausserhalb der Staatsform oder zur Formsprengung angehäuft haben, und dann geschieht die grosse Alchimie: die Ingredienzen der neuen Staatstugend werden zugleich amalgamiert, denaturiert und zersetzt. Und siehe, die alte Form ist wieder heil, die grosse Nutzform ist verjüngt und erneuert.
Die ersten groben Verwarnungen des Zweiten Bureaus schlugen in die Redaktion ein. Der schwerverwundete Chefredakteur schleppte sich vor den Polizeipräfekten. »Es ist furchtbar«, stöhnte der Märtyrer, »das Publikum will es, der Geschmack ist furchtbar!« Und er zeigte durch die Auflagenausweise, dass es das Publikum wollte. Er war klug und erfahren, er spürte, dass der massive Präsident Pietri, der ebenfalls klug und erfahren war, ganz anders dreinschlagen würde, wenn der Wind nach Mornys Tod umgeschlagen wäre: so wie die allgemeine Prognose lautete. Aber er schlug nicht um, der Chronist kämpfte zu alledem mit Waffen, die der Tote geliefert hatte: was war das für eine Diktatur? Der Chefredakteur spürte, dass die Morny-Toleranz der Polizei übergeordnet war, und schleppte sich bis zum Innenminister durch, dem Nachfolger des Maniaken Persigny, einem Morny-Mann also, einem Gentleman. »Der Pariser«, stöhnte der Figaro, »liebt nun einmal Ironie.« – »Ja«, sagte der Gentleman, »Ihr Republikaner hat Geist.« Diese blanke Antwort war aus dem Dukatengold der Nationaltugend geprägt. Doch der Chefredakteur gab sie nicht an seinen Chronisten weiter; denn es war nicht auszudenken, in was für ein Projektil der Wildschütze sie umgegossen hätte.
»Mein Freund«, stöhnte der Chefredakteur, »wollen wir nicht mit dem Nekrolog allmählich aufhören?«
»Warum«, fragte der Herzlose zurück, »ist das Kaiserreich schon tot?«
»Wenn das so weiter geht«, flüsterte Figaro, ein Märtyrer vor der Seligsprechung, »es braucht ja nicht so stürmisch zu sein, Herr Graf, – aber wenn das so weiter geht, dann sehe ich den »Figaro« entweder tot oder als Tageszeitung.«
»Im Augenblick sehe ich die Cholera«, sagte der Böse.
Ein kleines Rochefort-Märchen ist zu lesen: von der Cholera und dem Khediven. Denn das Märchen spielt in Ägypten. Dort taucht das grosse Übel auf und langsam zieht es gegen die Hauptstadt. Der Khedive packt seine vielen Koffer und reist mit seinem grossen Harem in die Ferien, an einen gesunden und vergnüglichen Badeort, weit abgelegen von der Heerstrasse der Seuche. Denn es steht geschrieben, dass das Volk zu sterben habe: im Kriegsfall für den Khediven, im Pestfall ohne den Khediven, in keinem Falle also mit dem Khediven. Und das grosse Übel ist seiner Natur nach eine Ferienkrankheit; denn es pflegt über die grossen Städte zu kommen, wenn es heiss ist und es nur die Knechte zu schlagen gibt, nicht aber die Herren, – ein soziologisch voreingenommenes Übel, dieser schwarze Tod, übrigens auch sein Bruder, der rote Tod des Krieges, und seine Schwester, die Hungersnot, deren Todesfarbe zu schwanken scheint; denn sie steht nicht fest. Die Märchencholera aber kam ein wenig zu früh, und so musste man die Ferien an den Haaren herbeiziehen und im Amtsblatt etwa verkünden: die Hofferien beginnen wegen schönen Wetters schon heute. So merkte es niemand und am wenigsten die Cholera, die ja weder mit dem Khediven rechnet noch, wie es sich herausstellt, mit der Zeit. Und mit dem Hof zogen nicht nur die Höflinge in die Ferien, wie es sich versteht, sondern auch alle Hoflieferanten, und ihrer waren viele; denn ein orientalischer Hof beschäftigt mannigfache Industrien, von der Weihrauchfabrikation bis zum Mädchenhandel. Und das Hofferienleben war ein schönes und gutes Leben, während in der Ferne das Übel seinen bitterschwarzen Tod ausschenkte. Als es indessen geschah, dass die Cholerasaison nicht nur ein wenig zu früh einsetzte, sondern auch, in kalendarischer Verwirrung das Ferien-Ende übersehend, ungebührlich dauerte, da nun wurde im Amtsblatt verkündet: »Die Hofferien werden wegen schlechten Wetters verlängert.« Und niemand merkte etwas.
Hier lacht der Leser, zugleich belustigt und böse. Es ist ein böses Märchen und gibt eigentlich keinen Anlass zur Heiterkeit. Aber der Leser lacht nicht über das Märchen, sondern über das Zitat aus dem gestrigen »Moniteur«. Schlechtes Wetter, o ja, schlechtes Wetter!
Das Märchen schliesst verzagt und abrupt; denn der Ferienhof langweilt sich und beginnt zu spielen, Glücksspiele mit immer grösserem Einsatz: um Geld, Ehre, Frauen. Schliesslich würfelt der Khedive mit einem fremden Gast, aus seuchefreiem Nachbarland, um das Schicksal von Ägypten, das doch die Cholera hat.
Was geschah denn in Biarritz? Man wusste es nicht recht. Die politische Tagespresse, zumal die offiziöse, liess durchblicken, dass dem Herrn von Bismarck, der scheinbar mit einem ganzen Sack voller Kompensationen gekommen sei, ein frostiger Empfang zuteil wurde. Ob es die Wahrheit war, mochte fraglich sein, und das Kriegsgeraune, das nun nicht mehr verstummte, mochte Mache sein, deren Sinn wiederum fraglich war: es war ja in einer Welt mit verdunkeltem Horizont und künstlicher Nebelbildung alles fraglich, nicht erst seit Biarritz. Der Chronist konnte es nicht viel besser wissen als seine Leser, als die Zeitungen, als die Politiker. Genaueres wusste nur der Khedive und jener Gast aus dem Nachbarland, mit dem er hasardierte. Das böse Märchen also hatte sich in die Gemüter eingehakt, wenngleich man zweifelte, ob es das khedivische Ägypten war, um das es bei dem Spiele ging, oder nicht viel mehr das Heimatland des Gastes. Doch man begriff die poetische Lizenz. Der Chronist war ja kein verkappter politischer Reporter, sondern der Mann, vor dem sich die Morny-Welt zu hüten hatte. Da alles für sie bedrohlich war, was auch immer dieser Mann aufzeigte und aufriss, so war es vielleicht auch Biarritz. Und da er vor keiner Person zurückscheute, auch nicht vor der obersten, und immer noch weiter schreiben konnte, gleich als stünde er ausserhalb der Gewalt, die er angriff, so las man zwischen den Zeilen seines sonderbaren und krausen Werks eine beunruhigende Unwiderstehlichkeit und dunkle Berechtigung. – Was schrieb er denn also noch über diesen fremden Gast von Biarritz? Nichts; denn es war ja der politische Name der Stunde; wie hätte er es wagen dürfen? In welche Klammer, in welches Gleichnis sollte er ihn setzen, der ganz und gar nicht in die Morny-Welt gehörte? Doch in irgendeinem Zirkus trat ein chinesischer Riese namens Tschang-Wu-Po auf, der von sich behauptete, der grösste Mann der Erde zu sein. Warum erwähnt das der Chronist? Weil er sich über solchen Anspruch verwundert, über die ungestrafte Kränkung des preussischen Ministerpräsidenten, zur Zeit in Biarritz.
Aber es gibt auch Namen, die er nennt. Es gibt zumal zwei Namen, denen seine besonders sichtbare Abneigung gilt und denen er stereotype Klammern anhängt, Epitheta ein für allemal, eine schliesslich so bekannt gewordene und mit der Person verquickte Charakteristik, dass sie für den Namen einstehen kann und der Name für sie, dass sie also sowohl gemeinsam als auch einzeln gesetzt werden konnte und immer doch zugleich der Name das Beiwort oder das Beiwort den Namen bedeutete. Der erste von diesen Zweien, die scheinbar unmittelbar hinter der Bresche in der Morny-Welt standen, verdächtig nahe dem berühmten und berannten Toten, war merkwürdigerweise Herr Emile Ollivier, ein Mann der Linken doch, aber ein Abtrünniger, von Morny angerührt. Dies war der Mann, der in der Luft hing, seitdem der Vicegott tot war, eine neumythologische Figur für eine Offenbachiade, nicht Prometheus und nicht Ikaros, sondern ein mächtig Strampelnder, vergebens mit den Händen zum Olymp Langender, mit den Füssen zur Erde Angelnder. Aber nicht so nannte ihn der Chronist, sondern vergleichsweise weniger grausam, sogar mit einem Schein von Sympathie: er nannte ihn den Oberst ohne Regiment. Aber es ist nicht gut gemeint, wenn der Böse gutmeinend tut, und es ist sehr viel grausamer, die Hilflosigkeit eines öffentlichen Mannes militärisch klipp und klar auszusprechen, als sie offenbachisch zu vermummen. Der tote Verderber hatte den Deserteur zum Befehlshaber jener Zersetzungstruppe ernannt, die, im Lager des Widerstands garnisoniert, allmählich selbst aus der Insel der Freiheit eine Satrapie des Kaiserreichs machen sollte: aber zur Rekrutierung ist es nicht gekommen. Und jetzt seht ihr hier den nachgelassenen Paladin mit den Morny-Epauletten, und ihr sollt ihn nicht aus dem Auge verlieren, dafür sorgt der Chronist. Er hat ihm das Brandmal des Sprichwörtlichen aufgebrannt: ihr findet ihn heraus aus der politischen Menge, er wird sich nicht in den Schatten des Kompromisses drücken können. Wo immer zwischen Gewalt und Recht, Gegenwart und Zukunft, Gedeih und Verderben, Korruptionsbrücken gebaut werden – und seien es auch hypothetische, seien es nur Phantasiegebilde des frech unterstellenden Chronisten –, entdeckt ihr die Figur des Obersten ohne Regiment mit dem Kainszeichen als Morny-Orden.
Der andere der beiden Beiwort-Namen gehörte einem grossmächtigen Herrn, dem augenblicklich Zweithöchsten, also dem eigentlichen Morny-Nachfolger, – nicht im Amt, auch nicht in Beziehungsreichtum zur Krone, auch nicht als Geist, aber durchaus in der politischen Einflussphäre: Staatsminister Rouher. Es war ein gehöriger Nachfolger; denn auf den Meister soll der Meisterschüler folgen; und Herr Rouher war nicht nur eine Entdeckung Mornys, zudem noch aus dem alten, treuen Puy-de-Dôme des Abgeordneten und Generalrats Morny stammend, nicht nur seine Kreatur, sein politischer Lehrling und Geselle, sondern auch schon zu Lebzeiten des Meisters sein Nachfolger auf mehr privaten Gebiet, das nicht immer und dann nur mittelbar mit Politik, also auch mit Geschäft zusammenhing, nämlich bei abgelegten Geliebten. Über alle diese zureichenden Gründe zur Nachfolge konnte vom Chronisten nur mit sehr vagen Andeutungen geschrieben werden; denn es war ein grossmächtiger Herr, wenn auch fortschrittlich gesinnt wie sein Vorgänger auf dem Vicethron. Und nicht aus dem Symbolschatz der Morny-Nachfolge oder nur in wolkig trübem Zusammenhang mit ihr wurde der Namens-Zusatz ausgestanzt und als Kurantmünze ausgegeben. Der neue Vicekaiser, der übrigens höchst selten diesen schönen Titel zu hören bekam – denn der wahre Vicekaiser war tot und er war einzigartig gewesen –, diente auch nur als Klammer für ein ganz bestimmtes Korruptionsgebiet, nicht wie der Oberst ohne Regiment für die allgemeine Zersetzung. Staatsminister Rouher hiess: der Mann, der gesagt hat, es steht gut in Mexiko.
Er hatte es gesagt, noch im April des vicekaiserlichen Todesjahres oder des Cholera Jahres oder des Biarritz Jahres – möglicherweise wird das Jahr, das kommt, auf Einen Nenner zu bringen sein –, er hatte es feierlich und mit seinem gutsitzenden Brustton der Überzeugung gesagt. Ihr wisst doch, dass die Wölbung seiner Sängerbrust in der Magengegend keineswegs nachlässt und später Embonpoint heisst. Ihr wisst doch alle, wie gut es steht in Mexiko. Ihr freut euch doch alle mit den Spekulanten, wie gut die Mexiko-Anleihe steht und dass es die Spatzen vom Dach des Rothschildpalais pfeifen: wenn nicht die letzte Losausschüttung die letzte gewesen ist, so wird es die vom Januar sein. Ihr freutet euch doch alle, wenn einmal der Stammbaum der Mexiko-Spekulations-Aristokratie erforscht sein wird. Und weil ihr alles dies wisst und euch freut, wird immer wieder und auch bei ganz abgelegenen Themen, wie sie ein kategorisch zur Nichtpolitik angehaltener Chronist anzuschlagen hat, jener Mann genannt werden, der gesagt hat, es steht gut in Mexiko.
Dies geschieht, nicht weil die Gefahr besteht, dass ihr sonst eure eigene Gescheitheit vergesst, sondern weil ja schon der Mut besteht, in kleinem Chor das Lied von der Räumung zu summen. Dies also geschieht zur Chorverstärkung. Denn wenn Rouher als unablässig wandelndes Mexiko-Zitat allerorten erscheint, ein bäuchiges Gespenst der Überzeugung, dann wird die Wirklichkeit immer härter, die bekannte Wahrheit unablässig heftiger. Die Wirklichkeit ist zum Beispiel Washington, das niemals den netten, armen Erzherzog anerkannt hat und das jetzt, nachdem es fürchterlich reinen Tisch im eigenen Haus gemacht hat, die Siegerfaust noch weiter gegen Süden reckt, über die Südgrenze hinaus, die kläglich unterschätzte Faust der Monroe-Doktrin, und dabei das Lied von der Räumung ganz barbarisch brüllt. Die Wirklichkeit ist Juarez, der sonderbarste Fall von einem Stehaufmännchen, abwechselnd tot und lebendig gesagt, vernichtet und Widerstand leistend, geschlagen und zurückschlagend, und in jedem der hübschen, mexikanischen Kriegsberichte wird er von neuem besiegt, seit Jahren nun, und der fragwürdige Herkules Bazaine, nebenbei so etwas wie mexikanischer Vice- oder Gegenkaiser, hat immer aussichtslosere Mühe mit diesem indianischen Antäus, der seine Kräfte aus doppeltem Boden bezieht, aus mexikanischer Erde und der von USA. So summt es zuerst und geraume Zeit schon im zarten Morny-Chor der Kammer, die die ewigen Kredite zu bewilligen und die ewige Phantasmagorie zukünftiger Mexiko-Einnahmen zu bewundern hat; genug Geld, genug Blut und viel zu wenig Gloire: genug, genug! Aber es ist ja dort schon ein Summen, wenn man Herrn Rouher keinen Beifall klatscht oder dem spottgrollenden Löwen Jules Favre ein »sehr gut!« nachwirft. Das genügt euch nicht. Rouher ist der Mann, der gesagt hat … Die Münze des Chronisten rollt. Im Volk summt es lauter als in der Kammer: Räumung! In der Luft liegt Kühnheit; denn auch die politische Presse wird kühn: Räumung! Und die Kammer wird kühn, und in der Luft schwirrt es, dass diese Kühnheit nicht das sei, was den Kaiser kränke: Räumung! Ist es für diesen Kaiser nicht schon einmal gut gewesen, wenn ihn das Volk zum Eidbruch oder zum Wortbruch drängt? Und drängt nicht auf der anderen Seite des Rheins der Gast von Biarritz auf die Liquidation verunglückter Übersee-Ideen? Da steht nun Herr Rouher, das neue Jahr hat kaum begonnen, und verkündet gewölbten Körpers den Liquidationsbeschluss. Und der Kaiser, der in der Thronrede sagt, dass die Mexiko-Expedition sich ihrem Ende nähere, ist so gelb wie der chinesische Riese Tschang-Wu-Po, die wandelnde Kränkung des Gastes von Biarritz. Der Chronist aber ist unersättlich: er zieht die Spruchmünze vom Manne, der gesagt hat, es steht gut in Mexiko, nicht aus dem Umlauf; denn sie hat nun höheren Kurs.
Dieses Jahr 1866 also fing gut an; denn die Kühnheit, die in der Luft lag, verstärkte sich zum Chor und erzwang den ersten Erfolg der öffentlichen Meinung gegen den Staat, drängte die öffentliche Stimme durch die Hand durch, die auf dem Volksmund lag, durch den Knebel durch. Es begann gut im Sinne des Bösen, weil es für das Kaiserreich ein schlechter Anfang war, und es müsste ein staatliches Schreckensjahr werden, damit Rochefort es zum Schlusse wird lobpreisen können. – Nun wisst ihr es ja nachgerade: die verwegene Chronik, halb Revue, halb Variété-Akt, die zweimal wöchentlich euer immer heftigeres Gefallen erregt und euch zugleich das Gruseln lehrt und den Widerspruch aufstachelt, ist dazu da, um den öffentlichen Ton zu verstärken.
Der Chronist kam von Tschang-Wu-Po nicht los, dem grössten lebenden Menschen, von dem der Kaiser die Gesichtsfarbe und Bismarck die Statur hatte. Was geschah zur Zeit des Märchens vom Khediven und der Cholera in Biarritz, dass jeder Tag nun praller wird vom Kriegsgerücht und die Zeit schliesslich deutlich und scheusslich schwanger geht mit Krieg? Der Chronist fragte es nicht, dies war nicht seines Amtes, er durfte sich nicht von seinem Zirkusprätendenten der irdischen Grösse entfernen und jonglierte um ihn herum mit seinen Spruchmünzen, Parenthesen und Parabeln. Aber die Öffentlichkeit fragte es mit dem verstärkten Ton, erschauernd und erregt, gereizt auch, weil sie keine Antwort zu erwarten hatte. Gewiss war nur, was in Biarritz nicht ausgesprochen worden war: das Veto des gerechten und unbestechlichen Friedensrichters, in dessen Macht es lag und heute noch liegt, den Kriegsfunken zu zertreten. Was will der Kaiser? Ist es wahr, dass er den Preussen hilft und das Bündnis zwischen Berlin und Florenz vermittelt, die Widerstrebenden gar noch zusammenzwingend, und an ein grosses Kompensationsgeschäft auf Kosten des besiegten Österreichs denkt? Oder ist es wahr, dass er zu den Österreichern hält, wie die Kaiserin, und mit Wien bereits einen Geheimvertrag auf dem Rücken des besiegten Preussens abgeschlossen hat? Was will er, der bekanntlich der beste Freund sowohl des preussischen Gesandten als auch des österreichischen Botschafters ist? Warum will er nicht den Frieden? Ist nicht Italien durch Piemont zu einem einzigen grossen Staat geworden, mit unserer Hilfe, aber nicht zu unserem Vorteil? Soll es jetzt Deutschland durch Preussen werden, wieder durch unsere Hilfe und vielleicht zu unserem Verderben? Warum sieht der Kaiser zu und greift nicht ein, warum schafft er nicht mit einem Wort die Ordnung, die gut ist für uns und Europa, warum befiehlt er nicht die Ruhe in Europa, die er noch befehlen kann? Warum befiehlt er nicht den Frieden? – Weil er endlich kein Glück mehr hat, schrieb der Chronist über den Kaiser Soulouque von Haiti, eine schwarze Seele, die immer Glück hatte und der alles zum Glück ausfiel: Betrug und Fälschung seines Thronanspruchs, Wortbruch, Eidbruch, Verrat, Verschwörung und die niederkartätschte Revolution, die er selber inszenierte, – eine schwarze Seele, die so viel Glück hatte, dass sie schliesslich im Wahne lebte, nichts könne menschenunwürdig, verschwärzt und vertrackt genug sein, um nicht in Glück umzuschlagen. Aber siehe, das Glück ging zu Ende, es wollte ihn nicht mehr, es wandte sich von ihm ab, es hatte genug von ihm, genug, genug: und alle ober- und unterirdischen Unternehmungen schlugen fehl, selbst die Vergangenheit stand wider ihn auf, mit allen Untaten, und das schrecklich verwandelte Glück stäupte ihn vom Thron und aus dem Land, – ja, und jetzt kommt der arme Soulouque Ohneglück und Ohneland nach Paris, weil man hier noch freundlich ist zu schwarzen Seelen und exotischen Exprinzen und ihnen auch Erwerbsmöglichkeiten verschafft, aus erstarkender Neigung für die Moral der Geschichte. So bemüht sich bereits um Kaiser Soulouque jener Zirkusdirektor, der für seinen gelben Grössten Tschang-Wu-Po eine schwarze Folie sucht. Da in dem bekannten Prärogativ-Streit um des Zirkusprätendenten Gesichtsfarbe und Statur noch ein dritter um die Stimmlage aufgekommen ist – Chinesen haben bekanntlich eine hohe Stimme –, werden sich, wie verlautet, immer dann, wenn die hohe Stimme des Herrn Thiers in der Kammer zu hören ist – zum Beispiel am 3. Mai dieses Jahres – sowohl die gelbe Grösse als auch die schwarze Seele auf der Zuhörertribüne einfinden, ob Zirkus ist oder nicht.
Die kriegsschwangere Zeit wand sich abscheulich und vor aller Welt in Geburtswehen, Preussen hat schon seine Macht auf den Kriegsfuss gebracht und zugleich die revolutionäre Reform des deutschen Bundes vorgeschlagen, Italien massiert seine Truppen gegen Venetien, Österreich mobilisiert die Südarmee, mobilisiert die Nordarmee, die Börse fällt, der Handel stockt, man kennt den Friedensstörer, – warum schweigt der Kaiser? Ist der Kaiser der Freund der Preussen? Es hat sich wieder Kühnheit wie ein Gewitter zusammengeballt, die Strasse schweigt nicht mehr, die Presse schreibt gegen Preussen. So wird der 3. Mai ein grosser Tag sein, ein ernster und lauter Tag, eine Chorprobe, eine Kraftprobe. Die Zuschauertribünen waren feierlich besetzt, und es fehlten nicht die neugierig gewordenen Granden des Reichs, Marschälle, Senatoren, Biarritzer Elite. Auf der Pressetribüne aber drängten sich junge Menschen, politische Eleven und radikaler Nachwuchs, Rochefort kannte viele von ihnen, er nannte sie die Claque der Kühnheit, er war zufrieden mit dem grossen Tag, noch bevor er begann, er kannte diese ahnungsvolle Zufriedenheit von seltenen Theaterabenden her, wo der Kritiker die Aufführung loben konnte, ehe der Vorhang aufging, er freute sich über das Rascheln rings um ihn: »Rochefort! Rochefort!« Das Feuerchen knisterte, es war noch keine Flamme, aber es knisterte schon. – »Wo ist Soulouque?«, fragte ihn eine südlich funkelnde Stimme, Rochefort blickte zum jungen Rechtsanwalt Gambetta auf: »Ich will bekanntlich keine Mörder kennen«, entgegnete er lächelnd. – »Ich begnüge mich ja gerne mit Tschang-Wu-Pos Stimme«, begütigte fröhlich der Zukunftsmann mit der kühnen Nase, – der grosse Tag begann gut. Der Chronist sah auf Mornys Präsidentenstuhl. Morny war tot, und Rochefort, der Fiebermahr, hockte noch auf der Leiche, schaurig mit Klaue und Geierschnabel. Es machte ihm nichts; denn hütet euch vor Rochefort! Das war die beste aller Morny-Kolportagen und soll die dauerhafteste werden. Auf dem Stuhl des Toten sass nicht mehr sein Schneider, sondern der Gross-Bastard der anderen, der Hauptlinie, Walewski, ein nun schon ganz aus dem Zeitrahmen des Imperials gefallenes, leicht verfettetes und verschwommenes, schwerverstimmtes Kriegsgottgesicht, nicht der verächtlichste der kaiserlichen Cocus. Unter ihm auf der Rednertribüne sprach der Mann, der gesagt hat, es steht gut in Mexiko, seinen klugen, sachverschleiernden, aber biedermännisch tönenden Fürspruch für die Regierungspolitik, nämlich für die aufmerksame Neutralität. Dies war die Antwort auf das sanfte, aussenpolitische Avertissement des Obersten ohne Regiment. Aber es ging ja nicht um jene sanfte Frage und diese laue Antwort, sondern um die laute Kühnheit. Und Thiers bat den verstimmten Gross-Bastard ums Wort, den kleinen Körper so gestrafft, dass er sich zurückbog, die Wichtigkeit und Dringlichkeit in Person und so auch, als sei das verlangte Wort die Fackel für das jähe Licht der Eingebung: aber alle Welt war doch gekommen, weil der 3. Mai als Thiers-Tag ausgeschrieben wurde. Der kleine grosse Mann war eitel, die Vorsehung liess es lächelnd zu, und der Chronist gab ihm das dritte Prärogativ des grössten lebenden Menschen: die hohe Stimme, – der Mann war klein und gross. Er pflegte sprechend viele hübsche Verbeugungen vor sich selber zu machen und in barocken Wiederholungen und Paraphrasen die Wonne der eigenen Meisterschaft bis aufs letzte auszukosten. Mag er es auch heute; denn er ist ja so wichtig, wie er tut, er ist, mit überstraffem Körperchen, ein grosser Mann; und heute ist sein Benefiz, die Zeit will es, die scheusslich missförmige.
Es kam ja anders, heute, am Donnerstag, dem 3. Mai, und der Schlangenleib des Flusses draussen windet sich verjüngt durch den Früh-Frühlung der grüngoldenen Stadt. Der kleine Mann war nichts als gross, nichts als die hohe Stimme der Kühnheit, und die Eitelkeit war die geringste und ungiftigste der Nattern, die er mit den Füsschen trat. »Heute will ich die heilige und geheiligte Sache verteidigen, geheissen das Recht: man tritt es mit Füssen. Und ich will die andere nicht minder heilige, nicht weniger blossgestellte Sache verteidigen: den Frieden. Ich habe von dem Land zu sprechen, das den Frieden Europas stört und nur Ein Recht kennt, das Recht des Stärkeren, und es gegen die Schwachen ausübt, gestern noch im Namen des deutschen Bundes, heute schon im Namen des deutschen Vaterlandes, und das, erstarkt und verbunden mit dem Einigen Italien, gegen den grossen Bruder aufsteht wie dieser grosse Bruder einst gegen das verbrüderte Spanien, und das des fünften Karl Imperium auferstehen lassen möchte. Und ich habe von einer Politik zu sprechen, die Recht und Frieden und das Interesse Frankreichs und das Interesse des europäischen Gleichgewichts dadurch gefährdet, dass sie zusieht, statt einzugreifen, aus dunklen Gründen zusieht, vielleicht sogar aus dem unwürdigen Grund, für das Zusehen von dem honoriert zu werden, den sie bekämpfen sollte.« Hier hielt er inne, der kluge Mann; denn so kühn ist es geworden, für Recht und Friede einzustehen – ihr wisst es –, dass die deutliche, die laute Autorisation des Hauses gefordert werden muss. Der grosse Chor brüllte: »Sprechen! Sprechen!« Der Chronist gehörte zum Chor, dann wandte er den Kopf dem jungen Nachbarn zu. Das war ein Schrei! – Jetzt sieht er aus wie ein Menschenfresser, dachte Gambetta und nickte ihm zu.
An eben diesem 3. Mai, dem kühnen Tag, unterschrieb der König von Preussen die Mobilmachungsorder: aus zwei Quellen also strömte es aus diesem Tag über das Reich. Aber es dauerte nur drei Tage, da schüttete es wieder über das erschauernde Land: und dieses Mal aus der kaiserlichen Wolke. Der Kaiser ehrte durch seine Anwesenheit bei einem landwirtschaftlichen Regionalwettbewerb im Yonne-Departement den Segen Gottes, eine fromme Handlung. Aber er verquickte sie mit einer politischen Handlung, er gab die Antwort auf den 3. Mai, – nun gut, er antwortete inmitten des Gottessegens auf die preussische Mobilmachung der Kriegskräfte, eine zugleich fromme und politische Handlung. Nein, er antwortete Thiers, der hohen Stimme. Wusstet ihr, dass euer immersanfter und immerhöflicher Kaiser zornig sein und seinen Zorn zeigen konnte. Hier, in Auxerre, war er es und zeigte er es. Es war ein tiefer, schwelender und rauchender Zorn, gewiss kein flammender, und dieses Mal konnte man sagen, er sei gelb vor Zorn. Auf Bismarck? Nein, auf Thiers. Er nannte ihn nicht; aber er beschwor zornig den Kriegsgott, dessen Namen er trug, zum Ackerbaufest und den ausgestellten Gaben der mütterlichen Erde, und er lieh sich von dem klirrenden Gast den Schicksalshass auf den Wiener Kongress und die achtzehnhundertfünfzehner Mumienordnung Europas, die nicht nur immer noch in Kraft sei, sondern gar noch als einzige Basis für die französische Aussenpolitik mit kreischender Stimme ausgeschrien werde. Was war das? Der Cäsar erklärt die hohe Stimme der Kühnheit für den Papagei der Reaktion und Herrn von Bismarck für das napoleonische Schwert des Fortschritts? Begreift ihr das? Ist das noch Zorn oder schon wieder die Idee, immer noch die schwelende Idee von der Weltrevolutionierung, zur Stunde der schwarzweissen? Und wie schliesst der Gelbe seinen kurzen, bösen Ausbruch vor den Bauern, Winzern, Flössern, Holzfällern? »Unter euch kann ich atmen; denn nur unter dem werktätigen Volk von Stadt und Land finde ich den wahren Genius Frankreichs wieder.«
Der Chronist schrieb also nicht für jene, die den Genius hatten. Er betonte es, untersuchte es und kam zu bösen Resultaten. Denn die ohne Genius, die durch die kriegsschneidige Zornrede gegen die Friedensfrüchte der Muttererde ins Wanken kamen wie die Börsenkurse, besassen nicht einmal mehr die Fähigkeit, die Muttersprache so zu sprechen wie der Prinz von Arenenberg, der in Augsburg zur Schule ging. Am Anfang seines Kaiserreichs stand nämlich das Wort: L'Empire c'est la paix. Die mit der mangelhaften Aussprache aber sagten: L'Empire c'est l'épée. Und der Baron Rothschild, ein kluger Mann zwar und reich, sehr reich, aber schon infolge seines Namens und seiner Abstammung zu Sprachfehlern neigend, stotterte die neueste Missform: L'Empire c'est la baisse. Der Chronist ist traurig. Wenn ihr schon nicht sprechen könnt, wie es verlangt wird: könnt ihr wenigstens sterben, wie es verlangt wird, könnt ihr wenigstens stumm sterben?
Der Chronist war traurig und suchte nach korrespondierenden Genies. So stiess er wieder einmal auf den grössten Dichter, den nicht oft genug zu nennenden. Sein Werk ging durch das Land, sein Name lag über dem Land, seine Person war draussen. Die Menschen zuckten zusammen, wenn sein Name fiel: weil sie ihn gerne hörten oder weil sie ihn ungern hörten. Sie sollen zucken, aus Freude oder aus Ärger: der grösste Dichter ist Victor Hugo. Und verwundernswert scheint es nach dem bewegenden Ackerbaufest von Auxerre, dass es noch Leute gibt, die auf ihn nicht hören wollen. Denn hörten sie nicht auf das Kaiserwort vom Genius der Städte und der Fluren? Auch der Dichter liebt Idylle, und der neue Gedichtband, den der Chronist klopfenden Herzens zu rühmen hat, trägt ahnungslos und herrlich das Kaiserwort als Titel: »Lieder der Strassen und der Wälder«. Gibt es einen schöneren Beweis von Seelenverwandtschaft? ›Drum soll der Sänger mit dem König gehen‹, hat der grosse deutsche Vatergenius Hugos und aller Menschenwürdenträger unseres politischen Jahrhunderts gefordert. Hier habt ihr Verse aus den »Chansons des rues et des bois« zum Auswendiglernen:
La gloire sous ses chimères
Et sous ses chars triomphants
Met toutes les pauvres mères
Et tous les petits enfants.
Et cela pour des altesses,
Qui, vous à peine enterrés,
Se feront des politesses
Tandis que vous pourrirez.
Denn es ist mit dem Krieg wie mit der Cholera. Auch er kommt gerne zu Beginn der warmen Jahreszeit. Die mit dem Genius werden in die Ferien gehen; doch ihr werdet sehen, dass die Ackerbauer nicht zu ihnen, sondern zu euch gehören. Man kann ja, wenn alle Friedensstricke reissen, den Ferienort auch Hauptquartier nennen. Doch das neue Märchen vom Krieg und dem Khedive braucht nicht geschrieben zu werden: es steht bereits in dem Liederbuch mit dem kaiserlichen Titel. So lernt die Verse auswendig! Ihr könnt sogar nach ihrem Takt marschieren.