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Der Reisige

Graf Otto von Bismarck, mit seiner leidenden Gemahlin und seiner erholungsbedürftigen Tochter zum Kuraufenthalt in Biarritz eingetroffen, wird sofort nach seiner Installierung im Hotel d'Angleterre den Majestäten seine Aufwartung machen. –

Der Kaiser ging im Empfangssalon auf und ab, die unruhig fingernde Rechte auf dem Rücken, in der angehobenen Linken die Zigarette. Es ist merkwürdigerweise nicht leicht für ihn, sich das Gesicht des Erwarteten zu vergegenwärtigen, ein nun doch schon genügend oft geschautes und hinlänglich bekanntes Gesicht. Da ist ein runder, bereits halbnackter Kopf mit einer mehr runden als hohen Stirn, mit heftigen und vorgetriebenen Brauen, kühner, kurzer, gerader Nase und einem schwerhängenden, ins Rötliche spielenden Schnauzbart. Doch das sind Einzelheiten, und das Gesamtbild will nicht genau werden. Es fehlen zum Beispiel die Augen, dafür sind die Augensäcke da, erstaunlich frühe und doch auch kummervolle. Aber der Erwartete ist ja nicht so jung wie sein Ruf, oder, ehrlicher gesagt, wie sich die europäischen Staatsgreise einen Störenfried vorstellen: der Kaiser ist nur sieben Jahre älter. Der Kaiser will sich an die Jahre halten, nicht an das Gefühl masslosen Alters. Er ist doch im Augenblick gut beisammen, nicht schlechter als damals in Plombières, wenn nicht alles täuscht. Oh, er kann sich an jede Einzelheit des Gespräches von Plombières erinnern, – die Dinge lagen damals doch einfacher, oder es ist nur der Vorteil jeder Rückschau, vereinfachen zu können: aber kann er sich an Cavour erinnern, ganz genau? Eine Blitzbrille, eine fasrige Bartkrause, ein schlauer Mund, eine geduckte Kraft, eine stämmige Figur mittlerer Grösse. Das sind charakteristische Merkmale, die jetzt jeder italienische Schuljunge zu beherrschen hat. Aber sieht der Kaiser seinen alten Dämon vor sich, ganz genau? Nein, er sieht ihn nicht. Er sieht doch, wenn er nur will, das Gesicht Mornys vor sich, Lespinasse, den Lehrer Le Bas, Frauen, Frauen, Menschen aus naher und ferner Zeit, – er sieht, wen er will. Warum nicht Cavour? Warum nicht Bismarck? Kann eine zu innige Beschäftigung mit einem Menschen – eine Beschäftigung aus dem geistigen Widerstand heraus oder gar aus Herzensangst – zu dem paradoxen Ergebnis gelangen, dass man das Gesicht nicht gegenwärtig zu halten vermag? Oder haben meine Dämonen keine Gesichter für mich? – Der Kaiser lachte leise durch die Nase. Eugenie, die an einem winzigen Tischchen über einem Stickrahmen sass, schaute auf.

»Gute Stimmung?«, fragte sie.

»Oh ja«, antwortete er nach einem kleinen Zögern.

Aber ihre Stimmen hat er gut im Ohr. Cavour hatte eine kräftige, oft etwas rauhe, gerne scharfe, sehr dauerhafte Stimme, der Statur trefflich angepasst. Und Plombières wiederum war gleichsam abgetönt auf diese Statur und diese Stimme. Man wusste, was man wollte. Man wusste zu geben und zu fordern. Man leistete zusammen Schwerarbeit und kam mit einander so gut aus wie noch nie und nie mehr. Doch wie steht es da mit Bismarck? Der Kaiser hört die Stimme, ganz genau. Der Riese hat eine sehr hohe Stimme. Der Riese hat eine Stimme wie ein kleiner Mann, wie ein Männchen, – ja, er hat ein Stimmchen wie der kleine Thiers, wie der kleine, kluge Feind Thiers, über den der Bruder Morny zu guter Letzt so glücklich war, – ›ich für meine Person freue mich‹ – der Kaiser hört auch Mornys klare, aber nicht tönende, leicht näselnde Salonstimme. – Der kleine Thiers, dachte der Kaiser, ist ein Preussenfresser und ein Italienfresser und vor allem möchte er mich mitsamt meiner Politik auffressen, – ein Grund mehr, sie fortzusetzen. Herr von Bismarck hat Glück mit seiner hohen Stimme …

»Eigentlich kommt er wie in Feindesland«, sagte Eugenie unerwartet.

»Wieso?«, fragte Napoleon überrascht und blieb stehen.

»Die Konvention mit Österreich macht ihn zur europäischen Gefahr. Ich verweise auf das nur zu gerechtfertigte Zirkular unseres Drouyn de Lhuys, auf die Stimmung der Presse, vor allem der oppositionellen, auf die Stimmung der Politiker aller Schattierungen, ich verweise auf England, wo der Eindruck der gleiche ist und wo sich diplomatische Ansätze zu einer grossartigen Abwehrorganisation zeigen.«

»Ich halte die Konvention für ein Kartenhaus«, meinte der Kaiser kurz.

»Und wer wird es umstossen?«, fragte sie und sass plötzlich ganz gerade, »er oder du?«

»Natürlich er«, antwortete der Kaiser kurz.

Es kam Graf Bismarck, ein vollendeter Weltmann, sehr gut und unauffällig gekleidet, und plauderte in seinem vorzüglichen Französisch.

Er ist ja garnicht so entsetzlich gross, die Vorstellung von seiner Körpergrösse ist in dem gleichen Masse übertrieben gewesen wie die Suche nach seinem Gesicht, das nun gut bekannt und wenig aufregend dem Blick sich darbietet, ein sehr männliches, zuverlässiges, im Vergleich etwa mit Mornys Richelieukopf beinahe biederes Gesicht, einprägsam, aber doch nicht grossartig gebaut und von einer Liebenswürdigkeit überglänzt, von einer Urbanität umflirrt, die wiederum mit der soliden Architektur nicht ganz übereinstimmt, keinesfalls mit dem unwirschen Schnauzbart, eher schon mit der hohen Stimme. Denn auch die Stimme fiel jetzt nicht auf und provozierte keinen stärkeren Gegensatz zur Athletenbrust als etwa die untadlige Umgangsform zum griesgrämigen Hängebart, – wahrlich keine aufregende Erscheinung und kein Grund zur Dramatisierung; nichts fiel bei diesem Gentleman auf, auch nicht die Höflichkeit und das anmutige Vermögen, zu gefallen, und so stark schien sein Taktgefühl, dass selbst seine Gestalt, die in der Erinnerung auf Überlebensgrösse kam, anspruchslos und angemessen im zierlichen Salon stand und keinen bedrückte.

Der Kaiser galt als der liebenswürdigste Monarch der Zeit, er zeigte es. Hier kamen zwei Liebenswürdige zusammen.

Hier kamen drei Liebenswürdige zusammen; denn der preussische Gesandte begleitete seinen Chef, der blonde, schmalschultrige Graf hielt sich ausgezeichnet neben dem gegraften Premier, – zwei angenehm anzusehende Kavaliere.

Der Kaiser sieht den Gesandten Goltz oft und gerne, er ist ein vertrauter Mann, er trägt jetzt, nur durch seine wohlgelittene Anwesenheit, zur guten Laune bei, – das gehört zu seinen Begabungen. Er hat zum Beispiel eine reizend unaufdringliche Art zu staunen: über die Klugheit des Kaisers, über die Schönheit der Kaiserin, über den Glanz der Hofbälle, – und man kann ihn erwischen, wie er ganz allein von der Galerie auf den lichttrunkenen Festsaal mit den schimmernden Menschen hinuntersieht, hingerissen von dem Märchen, oder wenn er in einer Ecke steht und sein Gesicht erstarrt und die merkwürdig runden und trüben Augen gross werden: so sehr zu bewundern ist Eugenie. Diese Begabung des Staunens ist für den Kaiser reizvoll, weil sie hintergründig ist; denn im Hintergrund steht die grosse Klugheit des Diplomaten, der zu seinem politischen Ziel kommen will – nämlich zur unmittelbaren und dauernden Nähe der höchsten Instanz und besten Informationsquelle –, indem er gesellschaftlich das Gegenteil des Diplomaten mimt: den Enthusiasten. Der Kaiser freut sich darüber, er lässt sich von dem klugen Goltz anstaunen, von ihm, seinem politischen Jünger, zumal in der Nationalitätenfrage, als Meister behandeln und von ihm in aller Ehrfurcht ausholen, er lässt sich Gedanken entlocken, die Herrn Drouyn de Lhuys, Aussenminister, veranlasst hätten, wehklagend zu seiner Kaiserin zu rennen, wüsste er sie, oder grob zu demissionieren. – Der Meister ist überzeugt, dass sein Jünger schon mehr als einmal nach Berlin gemeldet habe, man könne nun, wenn man nur wolle, das Bündnis mit Frankreich haben, der Meister ist überzeugt, dass zumindest sein Jünger darauf hinarbeite, der sehr gescheite und sehr ehrgeizige Mann.

Der Kaiser freut sich gerade jetzt, seinen durchtrieben umgänglichen Goltz neben dem charmanten Bismarck zu sehen. Denn wenn auch die Leidenschaft des Gesandten für die Tuilerien und seinen Herrn ganz gewiss nicht echt ist, so ist doch die Abneigung echt, die zwischen der Rue de Lille 78 und der Wilhelmstrasse, zwischen Gesandtschaftspalais und Auswärtigem Amt, zwischen Goltz und Bismarck hin und her geht, mit Telegrammen, im Kuriergepäck und vor allem in Gedanken. Der Kaiser weiss Bescheid und sieht gutgelaunt die beiden angenehmen Kavaliere an, die sich nicht leiden können; aber er überschätzt es nicht. Er hat ja im eigenen Haus die Gegengruppe: die Exzellenzen Drouyn de Lhuys, Aussenminister, und Benedetti, Berliner Gesandter, sind sich nicht nur denkbar unsympathisch, sondern zeigen auch beruflich vollkommen gegensätzliche Ansichten und Neigungen: der Chef war und ist ein Freund Österreichs, der untergebene Geschäftsträger sitzt mit Leib und Seele in Berlin. Der Kaiser findet solche Gegensätze nicht von Übel, sie passen ihm sogar ins Spiel; denn das Spiel macht er, und für ihn sind die Aussenposten wichtiger als die Zentrale, die keine ist, sondern sie nur vorstellt. Die Zentrale ist er. Soll er die Parallele weiterziehen? Er schätzt seinen Gesandten in Berlin, er duldet seinen Aussenminister. Es ist ihm nicht unbekannt, dass König Wilhelm seinen Ministerpräsidenten nicht liebt. Es ist ihm nicht unbekannt, dass der charmante Bismarck doch immer noch der bestgehasste Mann in Deutschland ist, noch lange kein Diktator, nicht einmal ein Cavour von Plombières, sondern ein angefeindeter Politiker, eine bestrittene Grösse, einer am Anfang. Überschätzt der Kaiser dennoch die Abneigung zwischen seinen beiden Gästen, denkt er dennoch den nicht neuen Gedanken, seinen falschen Jünger Goltz zu guter Zeit in den Erfolgsglanz zu tauchen und ihm den Bündnishebel in die Hand zu drücken, damit er den Chef aus der Karriere hebe? Dann musste der Kaiser um der Logik willen auch dies bedenken: Bismarck, den Ankömmling, keinesfalls mit der Erfolgskrone davongehen zu lassen, gesetzt den Fall, er käme mit der Absicht, seinen unbotmässigen Unterfeldherrn um die Beute zu bringen. Wie es auch sei, hier ist eine Konstellation, nicht leichter und nicht schwerer als hundert andere eines tief erfahrenen politischen Lebens. Wenn man es erkannt hat, ist der dunkle Druck schon überwunden und Mornys bedrohlicher Tod verschmerzt. Wie gut tut Biarritz!

Der Kaiser war charmant wie seine Gäste und gut aufgelegt wie sie. Er galt als der durchtriebenste Monarch der Zeit. Nun, die beiden durchtriebenen Gentlemen sollten es sich ruhig gesagt sein lassen.

Die kontrollierenden französischen Herren urteilten einstimmig: er ist erstaunlich gut beieinander, der lufthungrige Herr, er hat Plombières-Form, er weiss schon, warum er so gerne Bäderpolitik treibt. Herzog Persigny bekundete ungefragt und hochmütig: »Ich sagte Seiner Majestät bereits, dass er mir Freude macht; denn ich weiss, was er will.« Man schwieg im Umkreis. Dies geschah dem Propheten oft, doch er merkte es nicht.

Biarritz gab das Bulletin des Empfangstages aus: der Preusse ist charmant.

Der Kaiser wollte sich an diesem Abend nach dem Souper von Eugenie verabschieden, um mit Pietri seinen kleinen Nachtspaziergang durch den Park zu machen und dann noch zu arbeiten. Die Kaiserin, die mit gewölbten Brauen zu ihm hinaufsah, schien zu bemerken, dass er auf diese Art einem Bismarckgespräch mit ihr ausweichen wollte; denn sie begann es sofort und ohne Umschweife:

»Er ist noch charmanter geworden, als er es schon in Paris war, er hat zugelernt.«

»Ich weiss nicht«, meinte der Kaiser und setzte sich nicht, »ob man derlei lernen kann.«

»Mein Preussenfresser Mérimée erklärt sich von ihm im Sturm erobert, es sei der unnaivste Mann, der ihm je begegnet sei. Das ist das grösste Kompliment, das mein Seneca vergeben kann.«

»Mein etwas naiverer Freund Persigny sagt es zwar anders, er nennt den fremden Herrn einen Mann nach seinem Herzen, es kommt aber auf das selbe hinaus. Allerdings ist mein Loyola eher ein Preussenfreund.«

»Mérimée hält Herrn von Bismarck für einen Menschen ohne Gemüt« – Eugenie gebrauchte, Atem holend, das deutsche Wort »Gemüt«, und es klang sonderbar bei ihr, – »vollkommen ohne Gemüt, aber dafür um so reicher an Geist – ein sehr ungewöhnlicher Preusse.«

»Persigny hält Herrn von Bismarck für den einzig fähigen Verwirklicher der autoritären Idee in Europa, – das kommt wohl wieder auf das selbe hinaus, wird aber von meinem Propheten als preussisch im höchsten Grade verkündet.«

Eugenie sah den hartnäckigen Widersacher kalt und böse an. »Ich will doch damit sagen, mein Lieber, dass man sich vor dem Mann in acht nehmen muss. Er imponiert mir ja nicht als Charmeur, sondern als Energie. Mérimée sagt es so: der Mann ist so erstaunlich universal gerüstet, so etwas wie ein politischer Humboldt, dass für ihn, Mérimée, mit einem Mal die preussische Gefahr da ist.«

»Für mich ist Monsieur Mérimée da, um gut und druckreif, wenn auch nicht immer richtig zu formulieren.«

»Wir sprechen von Herrn von Bismarck!«, rief Eugenie heiser, »und ich rufe dir mit aller Dringlichkeit die Warnung und die Forderung deines Aussenministers ins Gedächtnis!«

»Ach Gott«, lächelte der Kaiser, »hätten sich nicht soeben Wilhelm und Franz Joseph so innig zu Gastein in den Armen gelegen, so könnte ich ja den Bismarck mit Hand- und Fussfesseln versehen und ratsamerweise auch mit einem Mundknebel und ihn entweder von den vielen Biarritzer tarpejischen Felsen ins Meer stürzen, am praktischsten drüben vom Rocher de la Vierge, oder ihn an Wien ausliefern. Dann könnte dein armer Aussenminister wieder ruhig schlafen.«

Eugenie sprang auf, sie war ein wenig grösser als er und ihr schönes Gesicht, vom ersten Boten des Alters mit ganz vorsichtigem und nachsichtigem Finger angerührt, war etwas höher als das seine, ihre kalten Augen, die weder flehen noch Angst haben konnten, waren nicht in der Höhe seiner Augen, sondern seiner Stirn, sie war sehr erregt. Sie kam ganz nahe und berührte mit den Lippen fast seinen Bart.

»Ich habe Angst!«, flüsterte sie rasselnd, einen Husten in der Kehle, und packte seine Rockaufschläge, »ich flehe dich an, Louis, sag Nein! Louis, sag Nein!«

»Ach Gott«, sagte der Kaiser äusserst verlegen; denn Pietri stand in der Nähe und die anderen waren nicht weit, »wir wollen doch nicht dramatisieren, meine Liebe. Wir wollen doch nicht aus politischen Unterhaltungen, wie sie alle Augenblicke vorkommen, eine Haupt- und Staatsaktion machen. Wir besorgen das ganz beiläufig, ganz ferienmässig, wir plaudern auf der Terrasse, wir machen einen Spaziergang zur Chambre d'Amour, einen höchst sinnigen Ort, und Franceschini wird unauffällig dafür sorgen, dass wir ungestört sind.«

Eugenie liess ihn los, setzte sich stumm und zog die Augenbrauen hoch. Der Kaiser hat sie, ehe sie es sich versah und bevor sie noch den Wunsch äusserte, auf seine unausstehlich listige und höfliche Art von der Biarritzer Weltpolitik ausgeschlossen. Er zieht einfach den hässlichen Herbst davor wie einen Vorhang. Eugenie, ohnedies erkältet, geht weder auf die Terrasse noch gar zur Chambre d'Amour.

 

Die violettgefleckte Biskaya zeigte das gehörig zornige Spiel, die Wellenreiter ritten ihre pflichtmässige Attacke, die stierhaften Klippen liessen sich das Gischtnetz überwerfen und stiessen doch immer wieder das schwarze Horn durch den weissen Schaum. Es regnete nicht, und selbst der Wind hielt sich ziemlich im Zaum, nur unter dem Himmel stoben zerfetzte Wolkenbesen hexenhaft heran.

Die Beiden gingen auf der Terrasse hin und her, der kurze Mann mit dem runden Rücken, der mächtige Mann mit dem geraden Kreuz, der gelbhäutige und der rotgesichtige, der mit dem fast trippelnden, sonderbar angestrengten und dennoch geräuschlosen Gang und der mit dem weiten, kraftvoll langsamen und lauten Schritt. Franceschini Pietri stand nicht vor, sondern hinter der Glastür, er verwehrte also schon den Austritt aus dem Terrassenzimmer. Es wagte sich indessen kein Mensch in seine Nähe.

Die Nacht war nicht gut gewesen, der Kaiser hatte ein Schlafmittel nehmen müssen, der Gast versicherte ihm, er habe prächtig geschlafen, der Kaiser glaubte es ihm ohne Freude. Er fühlte sich nicht schlecht und auch frisch, kaum dass er an der Luft war, in dieser beizenden Luft, aber er war ohne Freude. Gestern war es anders, leichter und vergnüglicher, gestern war auch Bismarck angenehmer und tat so liebenswürdig leichten Sinnes. Heute störte zunächst sein wuchtiger Tritt, sein Gewicht überhaupt. Heute war er bedeutend grösser und schwerer als gestern. Wie kann ein Mensch im Freien und vor der masslosen Staffage der Biskaya grösser und schwerer wirken als in einem Salon mit Eugenie-Möbelchen?

Der Kaiser führte das Gespräch, die eine Hand auf dem Rücken, mit der angehobenen Linken vollführte er kleine Taktierbewegungen. Die letzte Frühstückszigarette, noch im Haus auf dem Wege zur Terrasse angesteckt, war längst geraucht, der Wind verursachte stets so viel Schwierigkeiten, eine frische anzuzünden, dass man es nicht erst versuchte; Franceschini, der die Technik beherrschte, auch bei Orkan die Zündholzflamme in der hohlen Hand zu bergen, war wohl erreichbar, aber die Sache verlohnte nicht, ihn zu alarmieren. Der Kaiser war ohne Freude, er sah sprechend geradeaus oder zu Boden, er hielt sich noch gebückter als sonst: man markiert doch nicht den Turnvater, nur weil ein bolzengerades Schwergewicht nebenher stampft.

Wenn anzunehmen ist – Goltz raunte es ins Kaiserohr, es mag stimmen, es ist auch ohnedies einfach zu errechnen –, dass Bismarck zu allererst die Gasteiner Konventionswolken verteilen will, so wollen wir es ihm so leicht machen, dass er in die erste offene Tür hineinfällt. (Es ist seltsam genug, denkt der Kaiser, dass dieser Mann mich immer und jetzt schon wieder und von Anfang an und ohne dass er das Berserkerkinn lockert zum Manöver mit dem sperrangelweit geöffneten Scheunentor animiert: vielleicht liegt das wirklich nur an seinem Format.).

So beginnt man also ganz und gar nicht mit der Anklage, sondern man wirbelt den Kausalnexus herum und beginnt mit der Entschuldigung. Wenn der Herr zur Linken, diese spürbar wandelnde Mauer, so universal gerüstet ist, wie Mérimée es sagt, dann wird er den kleinen Umschwung ohne Schwindelgefühl durchstehen. Man entschuldigt also sowohl das inkriminierende Zirkular seines Aussenministers an seine Auslandsmissionen als auch vor allem sich selber und gestattet gleichzeitig einen kleinen nützlichen Zweifel an der überbetonten kaiserlichen Zentralverantwortung, sehen Sie, lieber Herr, man kann und will sich nicht um alles kümmern, nur um das Wichtigste, und innerhalb seines Geschäftsganges hat der auswärtige Ressortchef durchaus freie Hand, die höchste Hand greift nur ein, wenn die Situation bedeutungsvoll wird: wie also könnte angenommen werden, die oberste Hand hätte bei einem sich fatal zur Bedeutung entwickelnden Geschehnis wie dem fraglichen Zirkular nicht eingegriffen, wenn man es gekannt hätte, – nicht eingegriffen, um die subalternen Fehler zu verhüten: den zur Überschätzung neigenden, amtlichen Kommentar des Gasteiner Abkommens, ferner die Übereilung, das Zirkular ohne vorherige Information bei den Vertragspartnern so kategorisch zu gestalten, und dann vor allem die Veröffentlichung und dadurch die Beunruhigung der Öffentlichkeit, – wer kann das annehmen? »Kurz und gut, Exzellenz, ich bin aus allen diesen Gründen recht ärgerlich, dass dieses Dokument veröffentlicht worden ist, und ich möchte wünschen, dass man es als null und nichtig betrachte.«

Hier ist zu alledem nun eine doppelte Volte geschlagen; denn man weiss ja aus der Rouher-Depesche, dass eben in Paris dem Herrn von Bismarck nachdrücklich versichert worden ist, der Kaiser habe das böse Zirkular gekannt und gebilligt. Und Staatsminister Rouher ist persona gratissima, nach Mornys Tod der zweitmächtigste Mann, Herr von Bismarck, der wohlunterrichtete, hat ihn auch als ersten aufgesucht und wäre ohne seine vertrauliche Aufforderung gar nicht zum geduldeten Herrn Aussenminister und Sündenbock Drouyn de Lhuys gegangen. Wie wird also wohl die glatte Desavouierung des Zweitwichtigsten aufgenommen? Wie wird, genauer gefragt, eine geradezu plumpe kaiserliche Lüge aufgenommen, eine freundlich glitzernde Lüge doch, die in der besten und verlockendsten Absicht präsentiert wird, sozusagen als das Willkommsgeschenk am weitoffenen Portal?

Der Kaiser sah ihn schnell an. Doch man war gerade am Ende der Terrasse angelangt, und der Gast machte seinen kleinen Bogen um den sich wendenden Souverän, um wieder an seine linke Seite zu gelangen. Der Kaiser sah ihn schnell an: nun ja, Bismarck lächelte. Es war nicht ausgemacht, dass er bei seinem kleinen Bogen um den kaiserlichen Rücken noch stärker gelächelt hat; denn er lächelte jetzt noch ganz unverstellt, über dem Gesicht lag offen die Heiterkeit: was für ein unverhohlenes, ungeniertes und gleichsam rotbackiges Augurenlächeln! – Wie ausserordentlich angenehm zu hören, wie erfreulich und beruhigend!, hiess es dabei. – Da sind ja seine Augen, die gesuchten und dann ganz übersehenen: sie lächelten nicht mit, dazu waren sie zu blau, zu kühl und zu eigensinnig, nicht hart, sondern rauh, und nicht abstossend, sondern auflesend, aber nicht aus Güte, nicht aus Güte: aus Rafflust und Rauflust unbemessen kräftigen Lebens. Das sind Augen der Dauer. Cavours dauerhafte Stimme verstummte im einundfünfzigsten Jahr, Augen sehen weiter, als die Stimme dringt. Aber des Grafen Goltz stumpfe Staunaugen sehen nur bis zur Todkrankheit, die schon im schmalen Körper hockt. Wer will da die Abneigung zwischen den beiden preussischen Kavalieren überschätzen? Der Kaiser ist sich jetzt über die Karriere im klaren. Er wandte das Gesicht dem Meer zu, der Gast ging just auf der Landseite.

Bismarck tritt also, ohne mit der Wimper zu zucken, richtiger gesagt, mit den Augen verständnisvoll zwinkernd, durch das hingezauberte Portal der Entschuldigung. (Man erinnert sich auch recht gut, wie selbst Cavour ins Stottern kam, als man ihn zu Plombières mit der Frage nach dem noblen Anlass wie mit einem unerwarteten und verlegen machenden Blumenstrauss begrüsste.) Gemach, man denkt im Augenblick zunächst an die forschen, für die deutsche Presse bestimmten Bemerkungen, die eben dieser verblüffende Bismarck eine Woche vor seiner Abreise als Antwort auf die französische Zirkularnote geformt hat, sozusagen als Vormund der öffentlichen Meinung, und deren Kenntnis man seinen tüchtigen Berliner Herren verdankte: da wurde kräftig aufgedreht, gegen Frankreichs »teutonische Begeisterung«, nämlich die Begeisterung für ein möglichst kleingestückeltes Deutschland, gegen Frankreichs Rechnung auf den innerdeutschen Krieg, und wie das Zirkular die Enttäuschung verrate: dass sich die beiden grossen deutschen Mächte geeinigt und die Bruderkriegsgefahr beseitigt und damit das eigentliche, übrigens klassische Ziel der französischen Politik vereitelt haben: Gewinnung der Rheingrenze ohne Gegenkoalition. – Man denkt zunächst an diese Vorreisebetrachtung seines Gastes und nebenbei an das Goltzgeraune ins Kaiserohr, an das Geraune über den kompensationsfreudigen Bismarck, an die Höllenangst des belgischen Gesandten, der gewiss schon wieder die weltpolitische Villa Eugenie umschleicht, vor der bismarckischen Kompensationsfreudigkeit, Pfänderspiel mit Bärenhäuten: aber man denkt durchaus nicht daran, nunmehr als Gegengeschenk zur Zirkularvernichtung die Null- und Nichtigerklärung der deutschen Zirkularkritik zu verlangen. Das wäre kleinlich, das wäre nur ein Anreiz für den breitlächelnden Gast, nun seinerseits auch die Autorschaft an der Pressepolemik fortzulügen. Hier aber ist ein wackeres Ringelstechen zwischen zwei Champions. Und so sticht man kräftig und plötzlich in die Stelle, in welche das nichtige Zirkular gestichelt hatte, – sollte sich die unbekümmert auftretende Exzellenz bereits in Sicherheit gewiegt haben? – So klagt man an, unmittelbar nach der magischen Entschuldigung.

Der Kaiser sagte: »Nun ja, der Gasteiner Akt hat hier aus zwei Gründen missfallen: man meint oder ist sogar überzeugt, dass die Annäherung der beiden deutschen Mächte nur das Vorspiel einer Koalition gegen Frankreich war.«

Der Kaiser – oh, er ist doch in guter Form, der Riese mag gelassen stampfen, die ungestüme Biskaya hämmert doch keinen Marschtakt für ihn, den Neuankömmling, sondern die Herzstärkung für den Eingeweihten, und sprechend schmeckt er ihr stärkendes Salz –, der Kaiser fragt sich jetzt, ob der Angeklagte das ganz vertrauliche Geflüster seines Gesandten Goltz kennt und billigt, Geraun ins Kaiserohr: Provisorium, Sire, Gastein hat die Krise ja nur vertagt, in drei Monaten, in sechs Monaten ist sie wieder da, und wenn wir dann auf das alte Wohlwollen Eurer Majestät rechnen können, auf die gleichen Dispositionen wie vor Gastein … – Es ist vielleicht nicht anzunehmen, dass Bismarck das Goltzgeraune kennt und billigt; aber es wäre hübsch, es sich vorzustellen, schon wegen der bismarckischen Brusttöne der Zirkularkritik. Sicher aber ist, dass das Goltzgesumme die Melodie der paar mit gutem Gehör ist, auch Benedettis, dass also die Komposition aus dem Berliner Auswärtigen Amt stammt. Der Komponist neben ihm verhält sich stumm, jedenfalls wartet er auf die zweite Anklage. Einen Augenblick, wir sind noch bei Punkt Eins.

»Das Koalitionspräludium«, fuhr der Kaiser fort, »wird uns sogar durch sehr kompetente Hände nach den von einem der beiden Gastein-Partner ausgegebenen Musiknoten vorgespielt.«

Schon weiss dieser Bismarck, dass es die Kaiserin ist, die die österreichischen Pressionen gegen die Prussophilen weitergibt; denn er lacht kurz auf und meint, dass es sich da um unerwartet schlechte Wiener Musik handeln müsse, für welche die kompetenten Spielhände viel zu schade seien, um falsche Musik nämlich.

Der Kaiser nickte leicht mit dem Kopf, der andere durfte denken, dass man bereits von der falschen Musik überzeugt sei, oder mochte glauben, dass man sie niemals für echt gehalten habe, so wenig wie die ganze Gasteiner Konvention. Der Kaiser liess indessen keine Pause zu, sondern sagte sofort: »Zweitens urteilt man hier, dass Österreich niemals so umfassende Zugeständnisse an Preussen gemacht haben würde, wenn es nicht als Gegengabe irgendeinen geheimen Nutzen hätte einstecken können.«

Der Kaiser sprach gleichmütig und sanft, er musste das Wetter loben, das kräftig war, aber doch nicht laut: so brauchte man nicht zu schreien und lief keine Gefahr, die empfindliche Membran dieses Gesprächs zu schädigen, und so brachte man sich auch nicht um die Wirkung der gehobenen Stimme, die wohl schon sehr bald angebracht war. Der Kaiser ging ruhig weiter, der Nachbar aber stockte einen winzigen Augenblick und blieb zurück, – jetzt war er mit einem langen Schritt wieder neben ihm. Der Kaiser sah geradeaus, auf den Leuchtturm, über die gewundene Küste, die der liebe Gott mit scharfem Spaten gegen das Meer abgekantet hat, und er fühlte, dass der andere ihn ansah, mit einem Blick, der so gewichtig war wie sein Schwer-Tritt. Der Kaiser gab mit dem Kopf nach und hielt ihn seitlicher noch als für gewöhnlich. Ist es denn schon so weit, um zur Hauptsache zu kommen und den Nachbarn merken zu lassen, dass es eine Hauptsache ist und dass das Ringelspiel nun eine ganz andere Wendung nehmen kann? Denn jetzt ginge es schon um die Zukunft. – Hier sind zwei Kombinationsmeister der Offenheit, die für die Beiden zur erregenden Kampfmethode geworden ist, zur subtilsten Form sowohl der Finte als auch der Parade: die Visiere bleiben ja bei alledem geschlossen. – Ja, es ist schon so weit, diese immer getriebene Seeluft treibt an, es ist bereits angebracht, zum ersten Mal die Stimme zu heben, weit über das lächelnde Vorspiel und den hübschen Zauber von Entschuldigung und Anklage hinaus.

Zu diesem Zweck blieb der Kaiser stehn und wandte sich langsam und versonnen und zugleich auch ein wenig feierlich dem Grafen Bismarck zu, und so auch stieg der Blick die breite Brust hinauf zum festgefügten Gesicht – ist es denn ein offenes Gesicht?, es ist wahrlich kein verschlagenes, aber noch viel weniger dankfähiges Gesicht –, man muss sich wohl allen Dankes entschlagen, den dieses Antlitz versprochen hat und versprechen wird: ein hartes, ein hartes Gesicht, mit männlichen Tugenden gepanzert, darunter auch mit der Ehrlichkeit, der Panzer ist nicht die Haut.

So auch, langsam, versonnen und ein wenig feierlich, sprach der Kaiser: »Können Sie mir versichern, nach bestem Wissen und Gewissen, dass Sie keinesfalls in irgendeiner Form Österreich den Besitz von Venetien garantiert haben?«

Schon ist die Hauptsache gesagt, und hinter der runden Stirn des Partners mögen die Kombinationen kreisen und in bedeutsame Entschlüsse ausschwingen, jedenfalls in vorgefasste; denn wir haben es doch nicht nötig, wir ausgepichten Versucher, unter die Improvisatoren zu gehen. Wir wissen doch wohl Bescheid. Der Kaiser hat doch erst in diesem Frühjahr, als man allerdings mit den Sommerfreuden des Gasteiner Versöhnungsfestes nicht rechnen konnte, dem italienischen Aussenminister eine seiner pythischen Injektionen verabreicht: es kommt der Tag, wo die beiden deutschen Mächte vor der Notwendigkeit des Krieges stehen werden, – das wird dann für euch der gute Moment sein. Ob ›nobler Anlass‹ oder ›guter Moment‹, dergleichen Stimulantia aus der weltbekannten Tuilerien-Apotheke wirken zu augenfällig, um nicht bemerkt zu werden. Und Herr von Bismarck, der andere Spezialist für Reizmittel, hat einen klugen Beamten in Florenz sitzen, einen geschulten Diagnostiker, und der Herr wird doch wohl das spürbare Stichwort vom guten Moment seinem Chef nach Berlin weitergegeben haben, und ausserdem sitzt der Herr nicht nur als Beobachter und als Freund der schönen Künste in Florenz, sondern er ist dazu da, das preussisch-italienische Bündnis auf die noch nicht festen Beine zu bringen. Das weiss man wiederum in Paris, selbstverständlich. Und ist Gastein ein Knüppel zwischen diese Beine, auch jetzt noch, angeschaute Exzellenz? Wer wird denn von uns beiden in Biarritz überhaupt noch viel von Gastein sprechen? Wir wissen doch Bescheid, wir sind doch hier, um den Knüppel wegzustossen, lächelnd oder nicht.

Bismarck schüttelte ernst und aufrecht den Kopf, alles an ihm war solide, bis auf die Stimme, die dem Kaiser jetzt erst als Stimmchen auffiel, bisher nicht, – jetzt erst als viel zu hohe Stimme für die wuchtige und männlich offene Antwort, dass nichts, aber auch gar nichts dergleichen stipuliert sei. Nun, das ist eine Versicherung, die schon deshalb glaubwürdig klingt, weil sie der Voraussetzung entspricht, nämlich der beiderseitigen Vorarbeit; aber der Partner ist nun auch in dem Element, in welchem der Kaiser sich von Anfang an wohl zu fühlen scheint, und zieht bereitwillig die Vorhänge zurück, die hinter der Antwort hängen. Er versicherte also nicht nur, dass Österreich der Besitz von Venetien nicht garantiert sei, sondern zeigte sofort auch die Aufrichtigkeit dieser Angabe, indem er den kaiserlichen Fachmann sowohl auf die diplomatische Mechanik als auch auf die politische Bindewirkung der unterstellten Garantie hinwies: erstens also würde ein solches exzentrisch gelagertes Geheimabkommen doch unmöglich lange geheim bleiben können, – womit es bereits seinen pakttechnischen Sinn verlöre; zweitens würde es zur Folge haben, dass Österreich nach Belieben einen Krieg herbeizuführen in der Lage sei, den Preussen dann ohne jeden eigenen Vorteil mitzumachen gezwungen wäre, – das sei doch wohl mehr noch als politischer Nonsens.

Der Kaiser nickte, und dann gingen sie kameradschaftlich weiter, wenn auch nicht im gleichen Schritt.

Man hat offen gefragt und offen geantwortet, und stumm hat der Kaiser den letzten Vorhang aufgezogen, damit sein freimütiger Partner in das Bündnis mit Italien eintreten könne. Wie weit sind wir doch in den paar Minuten gekommen, da wir stehen blieben! Doch des Kaisers Schritte werden jetzt noch kleiner und zugleich mühseliger, weil das alte Leiden ihm mit feinen Stichen zuzusetzen beginnt. Warum regt ihn der glatte Erfolg auf? Man hat doch nicht aus dem Stegreif gespielt und weiss schon lange, was man will, – dass man eben dieses Bündnis will, damit das Regno den venezianischen Edelstein für seine junge Krone bekomme und endlich Ruhe gebe mit dem Schrei nach Rom und sich zufrieden gebe mit der neuen Hauptstadt Florenz, ja, damit Pio Nono, der widerspenstig ist wie die Biskayaklippe und nicht stirbt und auch nicht sterben soll (denn der Kaiser glaubt ja an diese Kraft des Widerstandes und will sich an ihr halten), – damit der Heilige Vater sein Rom in Ruhe besitze, auch wenn nun die französische Besatzung zurückgezogen werden muss. Was ahnt denn der riesige Nebenmann von der Quälerei der Dankbarkeit? Der Kaiser streifte mit einem Seitenblick das bismarckische Profil. Braue, Nase, Bart und Kinn stossen kurz und heftig aus der Linie, ein Kriegsgesicht, ein Kopf für den Kürassierhelm. Dieser Reisige also ist der neugewonnene Kondottiere der italienischen Frage: der Kaiser sieht und bedenkt mit Unruhe das kriegerische Gleichnis, das leider auch noch die Tugenden der Folgerichtigkeit und des Folgezwanges aufweist. Sein neuer Kondottiere hat nur Wert, wenn er Krieg macht. Der Kaiser hat mit Geschick und Erfolg seine Biarritzer Hauptsache zu erkennen gegeben, die nicht Krieg heisst, aber vom Krieg abhängt; schon wäre sie auch Bismarcks Hauptsache und sogar das bereits entschiedene Problem von Biarritz, – in dem Augenblick nämlich, wo der Kaiser auch Sinn und Zweck des Bundes zwischen Berlin und Florenz zugibt, nämlich den Krieg gegen Österreich. Er steht vor der Folgerung, jetzt schon, vielleicht zu rasch, er lässt die Lider weit über die Augen fallen, die ängstlich dreinschauen mögen, die Finger hinter dem Rücken sind sehr unruhig, es ist höchst aufregend, zu denken, dass der hellhörige Mann bereits das Ja herausgehört haben mag und hinter dem gewölbten Panzerfort seiner Stirn nun schon den Triumph gefangen hält: also will Napoleon den Bruderkrieg, also lässt er mich meinen Krieg machen.

Der Kaiser redete plötzlich rasch: »Ich will gewiss, ganz gewiss keine Pläne anregen, die den europäischen Frieden stören könnten.« Der Andere bewegte vorsichtig den Kopf, es war weder ein Nicken noch ein Kopf schütteln, – man sah schnell hin: es war eher wieder ein Lächeln, das flugs in den Wind hinausgeschüttelt wurde.

Aus welchem Grund ist denn der Kaiser der unglaubwürdigere oder gar der mit dem schlechteren Gedächtnis? Wir haben in unserem immer noch ganz zuverlässigen Kopf die Erinnerung an eine hübsche Menge von Anregungen untergebracht, welche den europäischen Frieden stören könnten, von hüben und drüben losgelassene Versuchsballons, – und dass wir nie persönlich in den Plangondeln zu sehen waren: dafür haben wir doch den Elementarunterricht einigermassen hinter uns. Nicht nur der belgische Herr, der um die Villa streicht und um Eugenie, glaubt, dass der Kompensations-Bismarck gekommen ist, um Belgien, das durch Leopolds Tod sozusagen schicksalsfällig wird, zwischen Frankreich und Holland nationalitätenmässig aufzuteilen, nicht nur die süddeutschen Herren fürchten für die bayerische Pfalz: alle Welt glaubt, dass wir jetzt hier unser Ausgleichsverfahren verhandeln, welches uns beide nicht viel kosten soll, genauer gesagt, welches die kompensierende Partei nur fremdes Eigentum, also gar nichts kostet. Der kaiserliche Kopf denkt noch nicht schlecht, er denkt besser, als die Beine laufen, er hat die jüngste Unterredung des Nebenmannes mit dem geduldeten Drouyn de Lhuys sehr gut im Kopf: auch da war wieder, trotz der befohlenen Zurückhaltung, von dem Preussenfresser das alte Kompensationsstroh wiedergekäut worden – ihr Preussen habt von unserm Wohlwollen den baren Gewinn, und wir? –, das will der Kaiser nicht, noch nicht; der Gast, der vielleicht eben die neue Kaiserlüge auslächeln wollte, wird dieses Mal keineswegs zu einer seiner sagenhaften Offerten gelangen: er wird – vielleicht enttäuscht es ihn nach solch hurtigern Gang – auf gar keinen Fall das kompensationsfähige, also friedensstörende Ja zu hören bekommen.

Jetzt lächelte sogar der Kaiser, es ging ihm besser, der Kopf half ihm wieder einmal auf die Beine. Denn wenn er eben ins Hinken kam, mit seinem letzten friedfertigen Satz, der nach Lüge oder nach Angst vor dem eigenen Gesprächsmut klang, so gab ihm jetzt der Kopf einen Zusatz ein, der sich unübertrefflich als Refrain von Biarritz zu eignen schien: »Wir müssen also die Ereignisse nicht machen wollen, sondern reifen lassen.«

Die Hand hinter dem Rücken reibt vergnügt den Daumen gegen den Zeigefinger. Warum wohl ist dieser Satz so unübertrefflich, als Kehrreim? Weil er Wort für Wort so lautet, wie Herr Drouyn de Lhuys die Bismarck-Antwort auf das Kompensationsgekäue zitiert hat. Ja, der bedeutende Satz ist ein Bismarck-Zitat, merken wir es? Der schwere Mann nickte solide; er sagte, und nur sein unwirscher Schnurrbart zuckte, mit ernstem Bedacht, dass die Majestät ihm aus der Seele spreche.

Der Kaiser skandierte mit der angehobenen Linken: »Preussen und Frankreich sind die beiden Länder mit ganz identischen Interessen. Die Zeit wird kommen, wo wir unsere gegenseitigen Sympathien durch einen positiven Akt besiegeln können.«

Da wir nun einmal von einander glauben, dass jeder den anderen ausstechen will, gröber gesagt, dass wir hochrangige Betrüger oder doch Versucher seien, so sollten wir allmählich merken, dass in Biarritz nicht übermässig viel zu holen sein wird, – so sollten wir auch gemach merken, wer das Gespräch führt und den andern manchmal nachschleift, manchmal vorlässt, wieder an sich zieht und plötzlich abstösst. Ob er es merkt? Er sieht nicht danach aus, riesig wie er ist. Und wäre er zudem bisher nicht dialogmässig viel zu sehr geschont, dann sollte man mit dem Refrain und seiner pythischen Auslegung für heute Schluss machen. Denn nach heftiger geistiger Anstrengung und ihrer schmerzhaften Reaktion im Körper kann unvermutet die grosse Müdigkeit austreten: der Kaiser weiss es und muss sich davor hüten. Ein so mit Wucht gesunder Mensch wie der Nebenmann würde wie von ungefähr die Krankheit des Gegners als Kampfergebnis behandeln, als Sieg der eigenen Kraft, als Anlass zum Gnadenstoss, aber nicht zur Schonung. Der Kaiser wird nun seinen Gast noch rasch auf das Holsteinische Spezialgebiet bringen, damit er sich ausgaloppieren kann, auf einem für Biarritz kleinlichen und nebensächlich gewordenen Gelände, das aber dem nicht am Steckenpferd, sondern am Reiter interessierten Zuschauer allerlei Beobachtungen erlaubt, – und dann sei Schluss für heute.

»Und Holstein?«, warf der Kaiser hin.

Der Andere galoppierte los, – oder nein, er setzte sich im Sattel zurecht und hatte keine Eile; denn er war schon am Ziel, wie es sich herausstellte. Er antwortete auf die kurze Frage mit einer knappen Kühnheit, die wieder einmal durch die Kürassieroffenheit sympathisch war: Wird angeeignet, sagte er im Sattel, man versteht sich drauf, nötigenfalls wird Österreich mit Geld abgefunden. Der Kaiser nickte freundlich. Was für ein erstaunlicher Recke, überlegt man den Anfang und das Ende seines Satzes, wie charmant, nicht klirrend zu sagen: nötigenfalls wird Wien erobert! Wer kennt sich in deutscher Nibelungen-Mythologie aus, wenn dieser Hagen so stark ist wie schlau und ausserdem noch die Siegfried-Offenheit hissen kann, so als habe er sie von dem Erschlagenen erbeutet? Der strahlende Hagen ist schon am Ziel und reitet jetzt nicht nach Holstein hinein, sondern nach Berlin zurück und zugleich, wenn man will, die grosse politische Strasse nach dem Westen. Er reitet hohe politische Schule, der zuschauende Fachmann nickt anerkennend. Der Schulreiter produziert die kunstreiche Figurenfolge einer Antwort, nach welcher der Kaiser nicht gefragt hat, – aber der tüchtige Kopf erinnert sich sofort, wer danach gefragt hat: sein Preussenhasser, sein geduldeter und als Kulisse zu duldender Aussenminister, der den preussischen Machtzuwachs misstrauisch beschnüffelt. Bismarck also legte dar, warum die Elbherzogtümer keine Machtverstärkung Preussens seien, sondern im Gegenteil eine Belastung für seine finanzielle, militärische und administrative Kraft: allein schon die Verstärkung der Seestreitkräfte, bedingt durch die Gebietsausweitung zur Nord- und Ostsee, und die Defensivstellung der neuen Nordgrenze erfordern Mittel, die durch den bescheidenen Landgewinn und die Million gewonnener Einwohner nicht als ausgeglichen genannt werden könnten.

Der Herr reitet in allen Gangarten, und jede soll zeigen, dass das französische Wohlwollen ohne preussisches Äquivalent eine gerechte Sache sei. Was interessieren den Kaiser jetzt noch die beiden Ländchen, die niemals ungeteilten und dann doch geteilten und jetzt wieder ungeteilten, weil sie Preussen als Ganzes zu schlucken beliebt? Das hinlänglich bekannte Axiom vom Wohlwollen lautet doch: ihr könnt es billig haben, so lange es sich auf die beiden Ländchen bezieht; aber sein Preis wächst in dem Masse, in dem es über Schleswig und Holstein hinaus verlangt wird. Wir waren doch schon in Venetien: sollten wir es beide vor unserem ausschweifenden Mut mit der Angst bekommen? Der Kaiser wohnt indessen der Vorführung als Kenner bei und kann sich dabei erholen und wird sie jetzt auch loben, weil sie als Kunstübung lobenswert und politisch harmlos ist. Denn der Kunstreiter hält jetzt sein genügend getummeltes und artiges schleswig-holsteinisches Rösslein und zieht vor dem Publikum den Zylinderhut, bildlich gesprochen.

Der liebenswürdige Kaiser sprach: »Ich finde Ihre Argumentation durchaus einleuchtend und sympathisch.« Der Partner war nun ausgiebig zu Wort gekommen, jetzt konnte man für heute Schluss machen, es bleibt ja wohl doch ein Remis, und es ist ein hübscher Schluss: ein Lob.

 

Nun aber geschah es, dass der Reisige nicht absprang, gleich als ob er jetzt erst, nach der Vorübung, den richtigen Schwung und den eigentlichen Unternehmungsgeist der Offenheit spüre. Oh, er sagte es, sich im Sattel zurechtsetzend, ganz ehrlich: das soeben wiederum in reichstem Masse bewiesene Wohlwollen der Majestät ermutige ihn zu mehr. Immer noch das Wohlwollen! Immer wieder das Wohlwollen! Aber es war doch nur Liebenswürdigkeit, offen gesagt: mit einem Quentlein Gleichgültigkeit und einer Unze Langerweile untermischt! Der Mann wusste doch noch gestern im Empfangssalon mit der Liebenswürdigkeit aufs verständigste und unverbindlichste umzugehen: und jetzt packt er einen beim gängigsten und glattesten Schmuckwort, – und mit was für Fäusten, mit eisernem Handschuh! Der Kaiser hasste die Handpresser, Hand-Erpresser, so wie die Trampler und die mit Knarrstiefeln; die Erfahrung lehrte, dass es die reckenhaften Gemüter sind, die diese Untugenden in ihrer Gesamtheit zu besitzen pflegen. Der Kaiser hasst die Recken, mit Ausnahme der Cent-Gardes, Standbilder, Monumente des Abstandes. Er sah ungnädig zur Seite, er war auch unruhig.

Offenheit ist: aufzudecken, was nicht offenbar ist, nicht offenkundig sein darf. Verwegen ist, die Zukunft aufzureissen. Der Mut, sich gleichzeitig zu enthüllen und das Schicksal anzufallen, aber ist schon lästerlich. Der Kaiser sieht mit steifem Nacken und kaltem Rücken aufs Meer, dessen heftiges Mitspiel zu jeder Art des Lebensmutes stimmt. Er geniesst da keinen Vorzug.

Der starke, schlaue und strahlende Hagen bricht vom Norden auf und reitet über Deutschland. Denn die Aneignung von Schleswig und Holstein ist nur der Anfang. Er sagt es, unumwunden. Er gibt zu, was Europa weiss. Es gibt keine grössere Herausforderung als die Bestätigung der Unruhe durch den Unruhstifter. Dies wenigstens verlangt man vom Unruhstifter, auch vom allbekannten: dass er sagt: ich bin es nicht. Wer weiss es besser als der Kaiser, Napoleon der Unruhstifter? Politik des Misstrauens erlaubt doch Abwägung, Verteilung, Berechnung, Manöver. Politik der Gewissheit macht Krieg. Der Kaiser weiss jetzt, dass der andere ihn zur Entscheidung schleift. Das ist kein Ringelstechen mehr. Sie bleiben nicht stehn bei alledem, der Kaiser will nicht stehn bleiben noch ihn ansehen. Er wird immer auf die andere Seite sehn, und wenn es die Landseite ist.

Auch die Bestätigung der Unruhe ist nur der Anfang, wie Schleswig und Holstein. Denn hier ist ja kein deutscher Fürst lebendigen Leibes zu beerben, sondern das zinslose Kapital des Wohlwollens zu erhöhen, gegen den bekannten Grundsatz. Der Deutschlandreiter schwenkt nach Westen ein, Hagen hebt den mythologischen Speer, wohlverstanden nicht als Drohung, sondern als Gruss an den Westen. Und der Reisige ist nackt bis auf Eisenschuh, Eisenhandschuh, Beinschienen, Armschienen und Helm. Und sähe der Kaiser hin, so sähe er in der Brust das offene Herz. Aber er hört das verwegene Bekenntnis der hohen Stimme, und auch Ton und Beichte gehen gut zusammen, dem Hörer ist, als könne keine andere Stimme solche Zukunftsheimlichkeiten sagen wie dieses Stimmchen des Riesen.

Sein deutsches Land hat kraft historischen Rechts eine grosse Aufgabe zu erfüllen. In der Erfüllung dessen, was in seinen Augen Pflicht ist, rechnen sein Staat und er auf die freundschaftliche Haltung Frankreichs. Das Kabinett der Tuilerien hat alles Interesse, die nationale Sendung Preussens zu begünstigen. Denn, Majestät, ein starkes Preussen wird sich naturgemäss Frankreich annähern. Ein schwaches, ein unglückliches Preussen dagegen wird gezwungen sein, in Zentral- und Osteuropa Verbündete gegen den übermächtigen Westnachbarn zu suchen.

 

Dem Kaiser fällt ein sonderbarer Titel für den Reisigen ein: Tributar des Glücks. Das ist etwas sehr Anderes und Ernsteres als ein Glücksritter. Der Kaiser kennt den Unterschied wie kein zweiter in Europa. Er gibt den Titel von seinen eigenen ab; denn er ist ja selber ein Tributpflichtiger. Er tut es ja, um über den Verwegenen eine Instanz einzusetzen, die höhere Macht über der höchsten Verwegenheit.

Nur so, nur jetzt, wo die beiden Kämpfer nicht mehr als Glücksmacher auftreten, sondern blind unter der allmächtigen Waage stehen, kann der Kaiser, der schlechter und immer schlechter geht als der ausgreifende Reisige, noch Ausschau halten: nach seinem alten Stern.

Wie ist es denn also, jenseits aller Offenheit? Jeder von beiden denkt an den Bruderkrieg, den der Verwegene nur machen kann, wenn er vom Westen nicht gestört wird, – und deshalb ist er hier. Jeder glaubt vom andern, er treibe auf diesen Krieg, ja, auch Bismarck glaubt es vom Kaiser, eingedenk der uralten Rheinpolitik des Westens, die immer Preussen gegen Österreich setzt. Der Gast zeigt alles und sagt alles, der Hausherr wird zuhören und sich nicht binden, der Gast wird nichts geben, der Hausherr würde nichts annehmen. Denn beide hoffen auf die Ereignisse. Jeder baut auf sein Glück. Jeder baue auf sein Glück!

Ist es so, so gleichmässig aufgeschichtet auf die grosse Waage? Aber warum geht es dann dem Kaiser schlechter als dem anderen Tributar, jetzt schon? Er weiss es, und der andere weiss es auch: weil es jetzt schon nicht mehr genügt, weder Ja noch Nein zu sagen, – weil man Rouge oder Noir setzen muss, so will es die Glücksspielregel. Und das ist schwer.

Der Kaiser steht vor der Entscheidung: für Preussen oder für Österreich.

Er liebt Österreich nicht. Es steht gegen ihn, solange er lebt, und Metternich war gegen die Mutter Hortense hässlicher als Louis-Philipp; es stand gegen den jungen Menschen Louis in Rom und Forli, Weissröcke blitzten böse durch die schwarze Vergangenheit, und vor ihnen rettete Pius das junge undankbare, – ach Gott, das dankbare Leben. Immer steht Österreich gegen die Idee, das alte gegen das neue Glück, und es ist eine Qual, auch für den frühe Müden, sich für das Müde in Europa zu entscheiden. Aber das Müde ist noch nicht schwach, auch dies hat man erfahren.

Er schätzt Preussen; denn er liebt das Junge und hat Witterung für das Kommende. Er liebt Deutschland, das seine Jugend war. Er liebt Europa, das noch nicht ist, wie er will, auf merkwürdige Art, so etwa wie Paris, das geworden ist, wie er will: glücksneu, blitzblank und wohlgerundet. In seinem unruhigen Hirn steckt ein Ideal-Europa, das nicht nur nationalpolitisch, sondern auch geometrisch ordentlich ist, von angenehmer Bildung, wenn man auf die Landkarte schaut. Der Kaiser ist der leidenschaftliche Freund der Landkarte. Europa müsste so wohlgefällig anzuschauen sein wie Frankreich, das ihn kartographisch vollkommen dünkt, – bis auf die schicksalshaften Schönheitsfehler im Osten, beginnend südlich von Landau. Die Rheingrenze beschäftigt ihn gewissermassen als ästhetische Frage. Und Deutschland ist in diesem Sinne unästhetisch anzuschauen, wie der Abfallkübel einer Malerwerkstatt. Preussen ist eingebeult, verzerrt, konturlich abscheulich, dass es ein Graus ist. Und in dieser Krüppelform steckt die junge Kraft. Der Kaiser hat nichts dagegen, dass sie sich strecke und abrunde. Er hat die Augen zugedrückt, als Preussen während des Krimkriegs sehr sichtlich nach Russland neigte, zwischen Magenta und Solferino nach Österreich, beim Polenaufstand vor zwei Jahren wieder nach Russland, immer zum Feind, er hat die Augen zugedrückt, als sein Nebenmann über die Eider ging. Er schätzt Preussen und gönnt ihm die saubere Form. Aber dies will er nicht; dass es sich strecke und runde und immer weiter fresse wie ein Ölfleck und plötzlich Deutschland sei. Wie kann er es wollen? Er will, dass drei wohlarrondierte Länder Deutschland seien, hübsch und klar anzuschauen in drei angenehm abgestimmten Farben: so wie er wollte, dass drei reinliche Stücke Italien bildeten. Dort kam Cavour. Hier ist Bismarck, in die Zukunft aufgetan wie ein Scheunentor.

Zu sehen ist alles in dieser furchtbaren Reckennacktheit, das starke Herz und die Manneskraft. Der Kaiser aber ist ein Verschwender gewesen, und ihm flattert jetzt das verbrauchte Herz, und schon geraume Zeit, seit Mornys Tod, ist in ihm die Lebensangst vor der mörderischen Wollust, nachträglicher Lebenszorn gegen die Mörderinnen. Geblieben ist die Tugend, die Widerspenstigkeit, geblieben oder hier, eben hier neuerobert. Und geblieben ist der tüchtige Kopf: vierzig Millionen! Wer warnte jüngst vor den vierzig Millionen Deutschen, die Bismarck unter seinen Kürassierhelm bringen will? Der kleine grosse Feind Thiers sprach in der letzten Kammerrede von ihnen, wie sie Russland an der Hand halten werden und England die Hand reichen werden und naturgemäss auch ihren Vorläufern, den geeinten zwanzig Millionen Italienern. Und da ist ein überaus vornehmes Gesicht mit peinlich sauber rasiertem Kinn und Lippen, dichtem grauen Haar und vollem grauen Backenbart, ein Lord, möchte man meinen; aber es ist Herr Drouyn de Lhuys, der klug geduldete Preussenfresser des Auswärtigen, und er steht im Arbeitskabinett der Tuilerien und im Speisesaal in Fontainebleau und vor dem Salonwagen auf dem Westbahnhof, und er spricht immer das Gleiche, diskret und dringlich flüsternd: »Sagen Sie ihm Nein, Sire, sagen Sie Nein, lassen Sie es nicht dazu kommen, drohen Sie mit der Intervention!« – Hier in der Villa Eugenie sitzt Eugenie und vielleicht betet sie um das Nein.

Der Kaiser wird nicht Ja sagen. Doch er hat es sehr schwer. Er sucht nach seinem Stern und er sieht ihn auch. Er sieht ihn über dem Krieg, den er nicht bejahen wird. Wenn Österreich siegt, wird es Preussen züchtigen, aber nicht vernichten, und Venetien dennoch fahren lassen, auf einen kleinen Druck vom dominierenden Westen hin; denn Österreich siegt niemals vernichtend und gegen Preussen nur mit Kraftverlust, in allen Fugen stärker noch krachend. Dann ist nur ein Mann vernichtet, der Nebenmann. Dann gibt es keinen Bismarck mehr, niemals mehr. Die alte mürbe Monarchie ist immer noch ein besserer Ministerstürzer als ein mürber Kavalier namens Goltz, der dann doch Karriere machen wird, soweit seine Zeit noch ausreicht. Denn dann ist Preussen bündnisreif und die Rheingrenze erreicht. Das hat auch der Prophet gesagt. Aber wird Österreich siegen? Alle Welt glaubt es, auch der Generalstab. Nur der Prophet glaubt es nicht, ein Maniak des Widerspruchs. Und der Kaiser? Er muss auf seinen Stern schauen.

Er wird also Ja sagen – machen Sie Ihren Krieg, Herr von Bismarck, Sie haben mein billiges Wohlwollen, das ist die Neutralität, die Sie nichts kostet –, er wird also Ja sagen?

Er wird nicht dieses Ja sagen, wie könnte er es? Er wird nicht Nein sagen, und dennoch ist es eine Entscheidung: auf Noir gesetzt, wie es das Glücksspiel verlangt. Herr von Bismarck wird sich darauf verstehen.

Jetzt ist es notwendig, dass der Kaiser spricht; denn der Andere schweigt schon geraume Zeit: ob jetzt sein Herz klopft, ist ungewiss; aber seine Sohle klopft auf die Steinfliesen.

»Schön und gut«, sprach der Kaiser, »man muss die Ereignisse reifen lassen.« Das war das halbe Bismarck-Zitat.

Der Kaiser wird es noch oft wiederholen; denn der Gast bleibt wohl an die acht Tage. Man wird auf der Terrasse spazieren und zur Chambre d'Amour. Man wird immer das Gleiche sprechen. Der Kaiser wird immer auf Venetien kommen und dann auf das halbe Zitat. Ja, er wird auch von den Donaufürstentümern sprechen, mit denen man Wien für Venedig entschädigen könne. Ja, er wird auch von der Cholera sprechen, über die seine gute Stadt Paris zu siegen gelernt hat, und von einer sanitären Europaliga gegen die orientalischen Bakterienherde; denn er hat seine Freude an jedem Widerstand gegen jeden Tod. Und Biarritz wird Gerüchte kreissen, Bismarck-Gerüchte, Kompensations-Gerüchte, und man wird sie auf den Schwung bringen, dass sie Wien vor den Kopf stossen und auch München, welches auf dem Wege liegt. Und der Kaiser wird nicht Ja und nicht Nein sagen, er ist der durchtriebenste Sternsucher der Gegenwart: er wird nicht Nein gesagt haben. Hagen reitet über den Rhein zurück und weiss Bescheid: ihn wird kein Speer von hinten treffen.

Der Kaiser blieb dicht an der Balustrade stehen und lehnte sich gegen sie. Er drängte sich gegen sie, um den stechenden Schmerz, der plötzlich das Gehen zur Qual machte, an der Steinbrüstung zu zerschellen. Man will ja nicht zu dem Gast sagen: bitte reichen Sie mir den Arm und bringen Sie mich ins Haus, auf einen meiner berühmten Sessel, – Sie wissen ja nicht, was es heisst, Blasensteine zu haben und eine kranke Niere. Sie sassen ja nicht sechs Jahre in einer feuchten winddurchfegten Festung, die so unsagbar hart und böse in die arme Landschaft hineingeschlagen ist, dass das tote Wasser ringsum aussieht wie der Angstschweiss der getroffenen Erde.

Der Kaiser steht an der Balustrade: es wird schon wieder und einmal noch vergehen. Er kennt alles dies, alles dies, auch die endlose Corrida der Biskaya, die gut und schön von allen Lebenskräftigen oder Zahlungskräftigen zu schauen ist. Denn das Meer ist für alle Kurgäste da.

Man muss die Ereignisse reifen lassen, auch den süssen Tod.


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