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Der arme Kaiser sass im Wagen, er konnte nicht mehr reiten. Gestern ritt er noch, kreuz und quer durch die Schlacht, ein Schmerzensreiter. Was war es für ein Feldherr, dem es leichter fiel, viel leichter, zu sterben als zu reiten? Er war auch nicht mehr Feldherr, seit Metz, – was war er denn? Als General Castelnau den Degen anbot, Degen des Kaisers, fragte Bismarck, ob das alles sei: es war also nicht viel, – ob es etwa der Degen Frankreichs sei? Nein, nur der Degen des Kaisers. Der Kaiser wog noch einen Degen schwer, er wog leicht.
Es war die Kaiserin gewesen, die ihn bewog, das Oberkommando zu übernehmen – Magenta und Solferino! –, und er hatte ihr nicht gesagt, dass die Steine schon sehr gross seien, der alte Verschwörer hatte sich mit den Ärzten verschworen, dass sie nichts von den Steinen erführe und ihn, den Feldherrn, an Magenta und Solferino messe. Dort aber konnte er noch reiten, ohne dass der Leib gesteinigt wurde.
Es war die Kaiserin gewesen – und er, und er! Denn er wollte nicht, dass man sagte, es sei die Kaiserin gewesen, die seit fünf Monaten hinter den Ereignissen steckte und sie stiess, hinter dem Plebiszit, dass es die Volte schlage, über das Parlament zum persönlichen Regiment zurück, und dann hinter der Kriegsbegeisterung, dass sie die Opposition vollends zerschlage. Auch er, auch er! Denn seine Haare waren wieder dunkel gewesen, seine Wangen zäh gerötet, er nahm sich schliesslich, wie er aussah, die Zeit machte ja mit, und er nahm die falsche Jugend an, auch er, auch er! Streiks, Unruhen, Demonstrationen, Versammlungen, Revolutionsgelage, wo man auf die Kugel toastete, auf die liebe, kleine, hilfreiche Mordkugel für den Kaiser, – der ganze rote Spuk versank noch im Februar im wenig bewegten Wasser der allgemeinen Hoffnung, mitsamt dem Narren Rochefort; und als dann der störrische Senat im Zuge der Reformen die Volksbefragung aufwarf, zum Leid der parlamentsgläubigen Ehrenmännerregierung, zur Freude von rechts und links, der reaktionären und der revolutionären Antiparlamentarier, – als das Plebiszit dann wieder den Mai stürmisch machte und die ersten Schreckresultate von Paris selbst Eugenie verstörten und den überzarten Knaben Loulou ganz aus dem Gleichgewicht brachten: da sagte der Kaiser, der jung aussehende, mit ruhiger Zuversicht: »Wartet auf das Land!« Er hatte Recht, das Land brachte den Sieg wie immer, den deutlichen und starken Sieg.
Auch dieses glückte, die Zeit war verjüngt wie der Kaiser, er glaubte es nun schon selber; denn hinter der Schminke des verbrauchten Lebens gab es ja das junge Leben des Erben, der es leicht haben soll, das Kind der Hoffnung. Alles musste glücken, und als über Nacht, genau am 3. Juli, die Wolke der spanischen Hohenzollernkandidatur heranbrauste, der Sturm losbrach und das Volk durchschüttelte, nach allen Regeln der Kunst, mit dem cholerischen neuen Aussenminister als Blasebalg, mit Eugenie als Windgöttin über den Wolken, mit Parlament und Presse als Windmaschine, wurde es wahrhaftig zum Nationalsturm des Volkes.
An jenem 12. Juli fuhr er im offenen Wagen von Saint Cloud nach Paris, so ruhig und zuversichtlich wie während dieses ganzen ungestümen Jahres, glaubend auch, dass der Kandidaturverzicht des Sigmaringers den Fall erledigt habe und dass es nun auch glücken werde – wie alles glückte seit acht Monaten –, den Sturm zugleich zu beschwichtigen und als Gefühl zu erhalten. Doch als er am späten Nachmittag wieder zurückkehrte, im offenen Wagen, mit gellenden Ohren, war er sehr still, nicht bedrückt, sondern erschüttert, geschüttelt von der unverminderten Leidenschaft der Strasse. Denn aus der Kammer war der neue Funke der Garantie-Forderung in den Sturm geworfen, es brannte schon lichterloh, – und da der Antragsteller jener jungskonservative Publizist gewesen ist, der als Agent des Ministeriums Ollivier bekannt war, also als Sprachrohr des Kaisers (aber der Mann war ja schon wieder in Opposition, weil er nicht einmal das schlichteste Unterstaatssekretariat erhalten hatte), so glaubte die öffentliche Leidenschaft, das Postulat käme vom Kaiser: und so warf sie sich über den offenen Wagen. Der Heimkehrende war still. Dass er auch sehr müde war, sagte er nicht, und man sah es auch wohl nicht unter der Schicht der Verjüngung. Eugenie war furchtbar aufgebracht und laut und heiser; denn er war ja mit friedlichen Gefühlen weggefahren, und seine Stille jetzt sah wie Sanftmut aus oder wie sein alter sanfter Eigensinn ihr gegenüber, dem Sturm gegenüber. Böse Worte schlugen die stillen Bücherwände des Bibliothekssaals hinauf: dass das Kaiserreich verloren sei, sogar: dass es eine Schande sei; und General Bourbaki schmetterte seinen Degen auf den Tisch: zu was dann noch eine Waffe! – Was wollt ihr denn, was tobt ihr denn? – Und dann kam der stürmische Aussenminister, Herr aus fürstlichem Geschlecht, Herr der Eugenie-Partei, durch lange Botschaftsjahre in Wien ein gut österreichisch Gesinnter, ein Preussenfresser, durch Jahrhunderte der grössten französischen Namen einer, der Rächer von Sadowa, – und er brachte den Entwurf des Garantie-Telegramms. Es fehlte Emile Ollivier, Premierminister, es fehlten auch die andern Ehrenmänner, sie standen im Sturm der Kammer, sie wurden nicht vermisst.
Der Kaiser fingerte begütigend durch die Luft und stand auf. Er watete hinaus. Er holte sich die Entscheidung aus dem Park. Man war plötzlich still. Die sinkende Sonne verfing sich mit schrägen Strahlen im Gold der Bücherrücken.
Wie war das doch, vor neunzehn Jahren? Damals war es eine sanftmächtige Mondnacht und sie tauchte alles in begütigendes Silber: Springbrunnen, Boskett, Baum, die Erde und den Himmel, – und im Silberbad dieser Nacht löste sich die harte Entscheidung auf, man atmete sie ein mit dem Sommerduft von Heu, Linde und Akazie, im winzigen und glücklichen Schlaf, ein Nachtwind weckte ihn auf, ihn mit dem Willen zum Staatsstreich, dem Willen des Volkes doch.
An jenem 12. Juli 1870 aber war es Tag, rotgoldener Spätnachmittag, und dies war nicht der einzige Unterschied. Der Kaiser ging nicht, er wäre nicht weit gekommen, das Gehen strengte ihn sehr an, gar auf dem Kies. Er fuhr in einem Ponywägelchen, das Pferdchen trottete seinen Weg allein, er brauchte nicht zu lenken.
Österreich, Österreich … Das war immer noch kein Bündnis, aber vielleicht eine moralische Bindung, – mit sechswochenlanger Mobilisation der k. und k. Armee? Es war also eine bedingte Bindung: für den Fall nämlich, dass der Kaiser in den ersten sechs Wochen siegte. Und Italien wollte Rom als Bündnispreis, – er liess sie nicht nach Rom. Dort tagte das grosse Konzil der päpstlichen Unfehlbarkeit. Noch lebte Pio Nono. Der Kaiser konnte nicht mit Italien rechnen. War er isoliert? Wenn er grosse Anfangserfolge hätte …
Das Pferdchen blieb stehen, Gott weiss warum. Der kaiserliche Wagen blieb gleichen Tags mehr als einmal stecken, zwischen dem Triumphbogen und den Tuilerien, zwischen den Tuilerien und dem Triumphbogen. Denn die Massen versperrten den Weg, die Massen marschierten nach dem Takt des Kriegsschreis: »A Berlin!«, ganz so wie im Rochefort-Rhythmus, sie sangen auch die Marseillaise, es sah aus wie Revolution; aber es war der Wunschsturm zum Kaiser hin, wenn er tat, wie sie schrien, – es war die Revolution, wenn er es nicht tat … Das Pferdchen wendete ganz von selber.
Die Depesche mit der Garantieforderung ging nach Ems. Der schlaue Hagen spiesste sie, zwecklich präpariert, auf den Speer, und dann loderte die Fackel.
Der arme Kaiser sass im Wagen, es war sechs Uhr morgens. Der Wagen verliess Sedan durch den Vorort Torcy. Die Torwachen waren Zuaven. Einer rief: »Vive l'Empereur!«, ein zweiter zeigte dem Kaiser die Faust. Der Kaiser sah sehr alt aus, das Käppi drückte graue Haarbüschel über die Ohren. Der Wagen rollte auf der Chaussee nach Mezières, nach Westen, der mörderische Ring um Sedan war ja geschlossen, der Kaiser hatte vorgestern, als es noch Lücken gab, nicht entweichen wollen. Der Morgen war neblig, man sah kaum die Maashöhen. Der Kaiser war ganz ruhig, starr vor Ruhe. Er war kein Feldherr mehr; aber er hatte sich nicht verkrochen, er kletterte gestern noch aufs Pferd und ritt in den entsetzlichen Schlachttag, und wenn die Schmerzen nicht mehr ertragen werden konnten, stand er still oder sass er ab und lehnte sich an den nächsten Baum, und der Tod schlug um ihn ein, aber zielte nicht nach ihm und rührte ihn nicht an. Jetzt war er ganz ruhig, das gelbe Gesicht regte sich nicht, eine müde Maske. Er musste weiter leben, schon ganz überschwemmt vor der wütenden Zeitwelle, vom Gischt-Netz gefangen, ein Wrack der Widerspenstigkeit. Die Tugend des Lebens war stärker als der sinnvolle Tod, selbst noch die sinnlose Tugend des Lebens ist stärker als die Verliebtheit in den Tod; und vor dem Heldentum, statt seiner oder endlich doch zusammen mit sich sechzigtausend Menschen im Blutmeer zu ertränken, damit vielleicht, vielleicht das Kaiserreich erhalten bleibe: vor solcher finsteren Grösse schauderte sein Herz zurück, sein halbwegs gutes Herz.
Einige hundert Meter vor Donchery ritt ihm Bismarck entgegen.
Zwei Tage später zerschmetterten Arbeiter und Nationalgardisten das Gefängnistor von Sainte-Pélagie und zogen den Laternenmann Rochefort ans Tageslicht der Republik.