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XXII.

Über Nacht war ein schauerlicher Wettersturz gekommen. Der Sturm heulte, und es goß in Strömen. Dick und schwer hingen die Regenwolken herab in die Donauniederungen, und die Wetterkenner des Dorfes meinten, heute wäre ein Lostag, und nun müßte es vierzig Tage regnen.

Es war schwer für die Herrischen von Karlsdorf, trocken bis zur Bahnstation zu kommen; denn geschlossene Wagen gab es nicht. Aber sie ließen sich durch nichts zurückhalten, sie mußten sämtlich dabei sein, wenn die Pfarrersjuliska im Theater spielte. Sie selbst, die Heldin dieses Tages, war schon seit einer Woche nicht mehr heimgekommen, und die blasse, blonde Frau v. Gergely, die immer so vergrämt aussah, auch. Auf Wunsch der Klarinéni hatte sie sich jetzt ganz und gar in Juliskas Dienste begeben, obwohl sie daheim eine Stube voll kleiner Kinder hatte. Sie mußte sich die Klarinéni warm halten, und sie gedachte, die gute Stimmung nach dem erfolgreichen Debüt für sich auszunützen. Sie hatte einen großen Schmerz, den sie heimlich trug, eine Sorge, die ihr nur ein gütiges Eingreifen der Juliska vielleicht mildern konnte. Aber dazu war es noch zu früh. Es mußte der große Augenblick abgewartet werden.

Pálkay Vidor sah seine Pläne mit Juliska nach allen Richtungen durchkreuzt. Er hatte das Mädel für die Bühne ausgebildet so gut er konnte, hatte einen Winter auf Kosten der Klarinéni gelebt und sich mit dem Schein des Eroberers umgeben bei den Kollegen und in den Kreisen, die dem Theaterklatsch nahestanden, aber weiter gekommen war er nicht. Ein anderer hatte die Phantasie des Mädchens in Brand gesetzt, und neben diesem war er nichts, war er nur ein fahrender Komödiant. Er beizte ihren Charakter durch seine Finessen vielleicht nur für diesen Rittmeister.

Und auch der geschäftliche Plan mit ihr wurde ihm vereitelt. Der Direktor und der Regisseur stürzten sich auf die schöne Beute. Ein sicheres ausverkauftes Haus sollte der Direktor ihm überlassen? Er möge sich zum Benefize wählen, was gut und teuer wäre, aber diese sichere Einnahme, die einzig sichere der Saison, gab der Direktor nicht her. Pálkay hatte nicht nur auf die Einnahme, sondern auch auf den Preis, den die Mutter für dieses Debüt zahlen würde, gerechnet. Nach diesem aber lechzte jetzt der Regisseur, der die Rolle mit Juliska angeblich »umstudieren« mußte.

Pálkay Vidor wütete. »Bande! Bande!« rief er ein über das andere Mal. »Neidische Bande!« Er wollte die Rolle des Princivalli zurückschicken, wollte fort, eine kleine Direktion eröffnen mit einem wahrhaft nationalen Programm. Aber Juliska besänftigte ihn, und er ließ sich gerne zähmen, denn er wußte, daß hinter ihm ein Jüngerer stand, der auf die Rolle wartete, und zur Direktion fehlte ihm außer dem guten Willen alles. Juliska versprach, ihn reichlich zu entschädigen, wenn er sich der Aufgabe unterziehen wollte, ihren Bácsi persönlich einzuladen zu dieser Vorstellung und den biederen Landpfarrer umzustimmen. Tausend Kronen wären ihr dafür nicht zu viel.

Und ihr stolzer Princivalli ging darauf ein. Er fuhr nach Karlsdorf, küßte der Klarinéni dreimal im Vorzimmer die Hand, als er kam, und dreimal, als er wieder ging.

Es beliebte dem Herrn Pfarrer, ihn zu empfangen und anzuhören. Und es entspann sich das folgende Gespräch:

»Ich komme, Hochwürden, Ihnen die untertänigste Einladung der ungarischen Schauspieler von Temesvar zu unterbreiten zu dem Debüt einer genialen jungen Künstlerin.«

»Sie also haben meiner Nichte den Kopf verdreht?« sagte unfreundlich und barsch Pfarrer Horvat.

»Hochwürden belieben falsch unterrichtet zu sein. Das Köpfchen war schon in Preßburg verdreht, wo ich auch die ersten Helden und Liebhaber spielte wie in Temesvar.«

»Und Sie glauben, daß ich meinen Segen geben werde zu einer so faulen Sache?«

»Das gnädige Fräulein ist, belieben mir das zu glauben, Hochwürden, ein großes Talent.«

»Na ja. Und was weiter?«

»Sie gehört der Kunst. Sie wird einmal ein Stern unserer Truppe werden.«

»Ein Provinzhusar, was?«

»Hochwürden belieben solche Ausdrücke auch zu kennen?« sprach Pálkay mit verlegenem Lächeln. »Das ist leerer Spott. Die Nation ist überall, nicht nur in der Hauptstadt. Und das gnädige Fräulein ist eine große Patriotin.«

»Wann werden Sie übergehen zur deutschen Bühne?« fragte Horvat brüsk.

»Ich? Hochwürden belieben zu scherzen. Niemals! Erstens kann ich gar nicht Deutsch –«

Lachend rief der Pfarrer: »Die anderen Gründe schenke ich Ihnen!«

»Nicht nur deshalb,« verteidigte sich Pálkay, »auch wenn ich so gut Deutsch könnte wie der Goethe, belieben mir das zu glauben, würde ich ein Madjare bleiben. Es gibt viel zu tun in diesem Lande; wir müssen erobern, was noch nicht uns gehört. Belieben zu wissen, Hochwürden, daß in Preßburg jeder ungarische Direktor zugrunde geht und nur durch Subvention vom Staat gehalten wird? Daß es in Temesvar ganz genau so ist und wir das Publikum nur durch Aushungerung zu den ungarischen Vorstellungen gebracht haben? Wir müssen auf unserem Posten bleiben, denn kommt auch nur die kleinste deutsche Truppe, sind wir verloren. Eine Ehre ist es heute, ungarischer Schauspieler zu sein, denn wir dienen der Nation. Darum sorgt für uns schließlich auch der Staat. Wir stehen in seinem Dienste, so wie die Herren Beamten und die Herren Pfarrer.«

Pálkay Vidor hatte sich in die Hitze geredet, und Pfarrer Horvat sah ihn nicht unfreundlich an. Aber er schwieg und dachte nach. Das klang doch wieder ganz anders. Am Ende war es doch zulässig …

»Sie sind also mit Begeisterung bei Ihrem Beruf?« fragte er.

»Ja!« rief Pálkay.

»Und Sie glauben, daß unser Theater eine edle Mission hat?«

»Bizony Isten!« Wahrlich, bei Gott rief Pálkay, »die hat es, aber es erfüllt sie zur Zeit niemand. Selten, selten kommt ein gutes Stück, ein ungarisches Werk. Die ausländische Operette hat alles totgemacht. Im Schauspiel gibt es nur noch französische Frechheiten und dumme deutsche Stücke, Wiener und Berliner Ware. Wir können nur die ungarische Sprache verbreiten mit dem Theater, nicht auch die ungarische Kultur. Aber das muß anders werden. Belieben mir zwanzigtausend Kronen zu leihen, Hochwürden, und ich gründe eine nationale Truppe mit Juliska v. Kerpely als Stern. Wir ziehen von Stadt zu Stadt –«

»Ah, bah!« rief Horvat unwillig dazwischen, »das mögen Zigeuner tun, nicht aber meine Nichte!«

Er hatte sich erhoben, und auch Pálkay stand betroffen auf.

»Ich danke für Ihren Besuch und Ihre freundliche Einladung, Herr Pálkay, aber Sie haben mich nicht überzeugt. Morgen mag das Mädel spielen, weil ich es nicht verhindern kann, dann aber werde ich meine Entscheidung treffen.«

»Hochwürden belieben also nicht zu kommen?«

»Bedaure!«

So war auch die Fahrt Pálkays nach Karlsdorf ohne Ergebnis geblieben für Juliska. Und die Klarinéni hatte noch gerötete Augen, als sie zur Vorstellung kam, eine solche Szene gab es beim Abschied. Der Bácsi war unerbittlich. Seine Gründe hatten sich erschöpft in hundert Disputen, und sie verdichteten sich zuletzt in dem einen Satz: Ich will es nicht!

In hellen Scharen war die Intelligenz der Umgebung nach Temesvar geströmt; lauter halbmadjarisierte, schwäbische Elemente, die sich in Gesellschaft der Leithammel, die den Ton angaben, nie getrauten, ein deutsches Wort zu reden. Warum eigentlich? Weil sie ein reines Hochdeutsch nicht beherrschten und sich des Dialektes schämten. Es galt besonders bei den Damen für ordinär, die sonnige schwäbische Mundart zu reden. Madjarisch war feiner. Fuhr man in einem Wagen dritter Klasse, wo die Leute ihre Billette bezahlt hatten, glaubte man durch den Schwarzwald zu reisen, so lieb, so heiter schwäbelte dort jedermann; kam man in ein Abteil der Frei- und Regiekarten, fühlte man sich in den Bakonyerwald versetzt.

Aber dieses Publikum erhielt heute nur noch mindere Plätze im Theater, denn es war voll. Der Direktor hatte sich nicht getäuscht: die Garnison, das Komitat, die Damen aller Industriellen und selbst viele Amtsbrüder des Pfarrers Horvat aus dem Temesvarer Seminar beeilten sich, die besten Plätze zu nehmen. Das Piaristengymnasium hatte sich alle Stehplätze erobert, denn der studierenden Jugend wurde um der madjarischen Sprache willen das Theater gänzlich freigegeben. Kein pädagogisches, kein sittliches Bedenken kam auf neben dem einen Bestreben, der Jugend dieser immer noch deutschen Stadt Gelegenheit zu bieten, reines Madjarisch zu hören. Die französischen Bordellkomödien des Berliner Residenztheaters und des Josephstädtischen in Wien finden rasch den Weg nach Ofenpest, und von dort vergiften sie das ganze Land. Was in Weltstädten als ein Ventil wirkt für den hoch aufgespeicherten Lebensdrang müßiger Menschen, was dort als das Ungewöhnliche, als Spezialität gepflegt wird neben dem bürgerlichen Familientheater, als Zuflucht der Reichsten und Freiesten – diese Lebemänner- und Maitressenliteratur wird in der fernen Provinz als das Neueste und Modernste feilgeboten, und es schlägt alles Bessere tot. So bereitet sich allerorten die seltsame Wandlung vor, daß die Provinz verderbter erscheint als die Großstadt. Stücke, von deren Existenz die Großstadtfamilie, die bürgerliche Großstadtjugend kaum eine Ahnung hat, bilden in fernen kleinen Städten den Hauptreiz des Schauspiels, sind dort das tägliche Brot des Theaters – weil man, indem man sie besucht, die Mode der Hauptstadt mit zu machen glaubt.

»Monna Danna« war eine gute Wahl des Herrn Pálkay für Juliska, denn das Stück war diesem Publikum seinem Rufe nach sehr wohl bekannt – man kam nicht, um eine Dichtung Maeterlinks zu sehen, man kam zu einem pikanten Erlebnis, zu einer Sensation. Das Haus schien geladen mit Elektrizität. Wer kannte sie nicht, die hübsche, kokette Juliska, die ständige Logenbesucherin aller Schauspielvorstellungen dieses Winters; Juliska war die auffälligste Straßenfigur der Stadt, die so viel pariserisches an sich hatte wie kein anderes weibliches Wesen, das man zu sehen bekam.

Wie wird sie bestehen neben ihrem Freund, dem Pálkay Vidor? Freund? Viele deuteten mit Fingern nach den zwei Logen der Ulanenoffiziere von Josefsfeld. Dort saß der eigentliche »Freund«, der fesche blonde Rittmeister, Graf Ruppert galt als solcher.

Und sie bestand. Ihre feine Figur, ihr sprühendes Auge, der Wohllaut ihrer Stimme und ihre beispiellose Sicherheit nahmen den Zuschauer sogleich gefangen. Es ging ein Rauschen durch den Saal, als sie erschien; jeder glaubte zu seinem Nachbar sagen zu müssen: »Das ist sie!« Und jeder zweite raschelte mit seinem Zettel, suchte dort ihren Namen. Ja, sie war es. Und sie fühlte sich so seltsam sicher. Ihre kühle Natur beherrschte die Lage vollkommen, sie gebot ihren Nerven Schweigen, und sie schwiegen; sie wollte kein Lampenfieber haben, und sie hatte keines. Nur der erste Blick in den vollen dunklen Saal erschien ihr wie der Blick in einen gähnenden Abgrund; ihr war einen Augenblick, als griffe ihr eine unsichtbare Hand an die Kehle. Aber als das erste Wort in den Zuschauerraum flog, fühlte sie sich wie ein Fisch, der bisher nur in feuchtem Ufersand gelegen und jetzt auf einmal in sein eigentliches Element geraten war, ins Wasser. So wohl war ihr und so frisch zumute.

Heidi! Das ging ja herrlich. Sie fühlte, daß sie den berühmten Rapport mit dem Publikum rasch gewonnen hatte. Und als sie in der großen Szene mit dem Kondottiere, ganz so wie es der Gewaltmensch gefordert, nur mit einem Mantel bekleidet, in seinem Lager, seinem Zelt erschien, da ging es wie atembeklemmende Sensation durch das Haus. Der rosafarbene Plüschmantel war von königlicher Pracht. Ob er wirklich aus Paris gekommen, wie die geschwätzigen Lokalblätter erzählten, fragten sich die Frauen. »Und hat sie wirklich sonst nichts an?« die Männer. Der Sieg ihres Liebreizes und ihres Mutes über den Gewaltigen, der vor ihr geschmeidig, weich und zartfühlend wird wie ein lyrischer Jüngling, war auch der Höhepunkt ihres Erfolges. Es gab Blumen und Kränze die Fülle. Darunter ein Riesenrad aus Lorbeer, mit einer Brillantbrosche an den Schleifen. »Vom Grafen!« flüsterten einzelne.

Und war es denn ein Erfolg? Konnte sie denn etwas? Die Beteiligten behaupteten es. Pálkay Vidor, der Regisseur und der Direktor umringten sie, nachdem sie zehn Hervorrufen Folge geleistet hatte, und schüttelten ihr die Hände. Es sei großartig gewesen. Eine ruhmvolle Zukunft stünde ihr bevor. Nur drei Jahre, meinte der Direktor, möge sie in seiner Schule bleiben, dann sei ihr das Nationaltheater gewiß. Alle, die dort in ersten Stellungen seien, wären einmal bei ihm gewesen. Er erwarte sie morgen früh zum Vertragsabschluß.

Die Mutter kam weinend vor Glückseligkeit. Aus Dankbarkeit umarmte sie aber zuerst den stattlichen Helden, den Pálkay, und dann erst ihr Kind. Und auch der Graf wurde vom Inspizienten gemeldet. Sie ließ ihn nicht in ihre Garderobe, streckte nur den nackten Arm zur Tür heraus und drückte ihm dankbar die Hand für seine kostbare Gabe. Er küßte aber nicht diese kleine Hand, sondern ihren runden vollen Oberarm, und es durchzuckte sie heiß hinter der Tür, als sie seinen unvermuteten Kuß fühlte.

»Habe ich Ihnen wirklich gefallen? Im Ernst?« hatte sie gefragt. Jetzt aber zog sie rasch ihren Arm zurück und klappte die Tür zu.

»Entzückend!« klang es gedämpft zu ihr.

»Lassen Sie uns nicht vergebens warten, Gnädigste! Bitte, bitte zum »Kronprinzen!« Man wird sie feiern dort!«

»Ich bin böse!« rief sie von innen.

»Hahaha! Sie kommen? – Sie kommen?«

»Aber ja!« rief sie endlich, und er ging.

Pálkay Vidor aber, dessen Garderobe in der Nähe lag, hatte jedes Wort gehört. Er war bleich vor Zorn. Sie wollte ihm heute entwischen? Seine Erntezeit war nun wohl vorüber, das sah er ein; aber die gute Stimmung mußte ausgenützt werden zu einer ergiebigen Abfertigung. Tausend Kronen hatte er gut bei ihr, ebenso viel mußte aus der Klarinéni noch herauszupressen sein … Vielleicht auch mehr … Und dann ließ sich vielleicht doch wieder mit der Rozsika etwas machen. Der Sommer kam, man konnte die kleinen Badeorte mit Gastspielen abgrasen und etwas verdienen, den Grundstein legen zu einer künftigen Direktion.

»Pfutsch, pfutsch, pfutsch!« sprach er im Tone des grimmigsten Fluches und dachte dabei an Juliska und all seine an sie geknüpften Hoffnungen. Seitdem der Graf sich ihr immer mehr und mehr genähert hatte und die Hyänen des Theaters den Braten auch rochen, war sein Rechenexempel in Verwirrung geraten, der heutige Erfolg aber hatte es vollends zerstört. Und war es denn ein Erfolg? fragte er sich. Kam sie überhaupt in Betracht neben seinem Prinzivalli? »Ein gescheites Mädel. Sehr routiniert. Gebildeter als sonst unsere Gauklerinnen sind – aber kalt, ohne den rechten Funken des Genies.« So taxierte er sie im stillen. »Vielleicht« – sagte er sich – »wenn sie einmal ein Weib geworden, etwas erlebt hat und steinunglücklich ist – vielleicht kommt es dann über sie. Eine Schauspielerin, die noch nichts durchgemacht hat, ist eine klingende Schelle.«

Er hatte sich abgeschminkt und ging zur Garderobe der Juliska. Nur fragen wollte er, ob es bei der Verabredung für heute bleibe, und ob sie seiner vielleicht bedürfe.

»Gehen Sie nur mit Mama und Frau von Gergely voraus, ich komme,« sagte sie hinter der Tür. »Mama kommt gleich!«

Er wartete gehorsam, die Tür öffnete sicht und die Klarinéni erschien. Galant bot er ihr den Arm und geleitete sie in das Hotel.

* * *

Am nächsten Mittag erschien Juliska mit müden, dunkelumränderten Augen in Begleitung der Mutter in der Kanzlei des Direktors. Ihr Vertrag war schon vorbereitet. Ihn wirklich abzuschließen, fiel ihr nicht ein; sie wollte nur sehen, was man ihr bot und hätte solch ein Dokument gerne dem Bácsi gebracht. Gab es einen besseren Beweis für ihr Talent? Ihren Erfolg?

Pálkay Vidor hatte der Mama gestern abend allerlei gute Winke gegeben für diesen Fall. Zeit hatte er dazu, denn er saß mit der Klarinéni und der Frau Gergely allein, Juliska war nicht gekommen. Sie hatte in ihrer Garderobe große Toilette gemacht, und als sie in das Hotel eintrat, nahm sie ein Leutnant in Empfang und geleitete sie in den ersten Stock hinauf. Dort wartete ihrer ein Festmahl im Kreise der Ulanen aus Josefsfeld. Und Graf Ruppert machte den Hausherrn.

Juliska, die die Brosche des Grafen trug, fühlte sich geschmeichelt. An ihre Mutter und ihren sonstigen Anhang dachte sie keinen Augenblick, die mochten warten. Sie war jetzt eine selbständige Persönlichkeit, eine Künstlerin. Wer konnte ihr etwas anhaben? Mit dem Grafen allein hätte sie vielleicht nicht soupiert, mit seinem ganzen Regiment – warum nicht?

Und sie blieb bis Mitternacht in dem fröhlichen Kreis, die Herren hatten um ½ 1 Uhr nachts ihren letzten Zug, der sie heimbrachte. Man huldigte ihr in berauschender Weise. Und der Graf sprach ein großes Wort aus – sie wäre zu gut für Verhältnisse, wie sie hier herrschten; sie müßte fort, nach Wien, nach Berlin – zur deutschen Kunst!

Man wurde lustig, der Champagner stieg, und Juliska sang ein paar Lieder der Yvette Gilbert. Die Herren rasten. Da läge ihr Talent, das sei ihre Zukunft, meinten sie alle. Und einer der Herren wollte sie sogleich an die Palmay Ilka nach Wien empfehlen. Oder an die Küry Clara, die jetzt in Berlin, oder an die Fedak Sari, die in Dresden sei. Alle großen ungarischen Künstlerinnen, sagte man ihr, gingen zuletzt immer zur deutschen Bühne. Aber der Gedanke käme ihnen stets etwas spät … Warum sollte sie nicht gleich, so jung und frisch, wie sie jetzt sei, dasselbe tun? Sie würde Sensation machen.

Ihr wirbelte der Kopf, als sie nach Mitternacht ihre Mutter und die Frau von Gergely im Speisesaal noch aufsuchte. Alle aus Karlsdorf wären hier gewesen, seien aber schon fort zur Bahn. Und auch Herr Pálkay habe sich soeben zurückgezogen. Er sei recht ärgerlich gewesen, daß sie gar nicht kam.

Was lag ihr daran! Sie war ganz trunken von Glücksgefühlen und wäre in dieser Nacht am liebsten gar nicht schlafen gegangen. Es schien ihr so banal, daß sie sich heute wie an jedem anderen Tage in ein Hotelbett legen sollte. Ihr war, als müßte heute noch etwas geschehen, etwas ganz besonderes sich ereignen.

Aber man ging zuletzt doch. Die Mutter war müde.

Juliska berührte es so seltsam, daß sie heute allein war, daß kein Mann bei ihr ausgeharrt hatte bis zuletzt. Mußte denn alles heim? Ist denn dieser Tag wie ein anderer? Auch der Graf mußte heute fort? Blieb doch sonst so oft und fuhr erst am nächsten Tag – mit ihr. Seltsam!

Die drei Damen gingen die teppichbelegte Treppe hinauf, sie waren so ziemlich die letzten Gäste des Hauses, die sich zur Ruhe begaben.

Da hörten sie drunten beim Eingangstor eine taute Stimme; ein eiliger Offizier, dessen Säbel man scheppern hörte, fragte den Portier barsch:

»Kann ich mein Zimmer noch haben?« Und er fügte hinzu: »Zug versäumt bei dem Hundewetter!«

Juliska zuckte zusammen. Der Graf!

»Bitte sehr, Euer Gnaden. Das Zimmer ist frei,« sagte der Portier.

Und der Rittmeister kam auch schon die Treppe herauf.

Juliska hatte unwillkürlich gezögert, ließ ihre Begleitung vorausgehen, und es gab eine verwunderte Begrüßung. Der Graf war noch zurückgeblieben im Hotel als alles aufbrach, um die Rechnung zu begleichen, erhielt dann einen Wagen mit schlechten Pferden, die in dem trostlosen Wetter nicht gehen wollten, und versäumte seinen Zug.

So war er wieder da. Und während der Hausdiener lief, um sein Zimmer zu beleuchten und in Ordnung zu bringen, promenierten Juliska und der Graf, leise plaudernd, in dem Vorsaal auf und nieder.

Ihr war so wunderlich wohl in seiner Nähe wie nie. So endigte der Tag also doch nicht ganz banal, so blieb ihr doch einer von all den Schmeichlern, und sie konnte den Kelch bis auf die Neige leeren. Er bat sie so dringend, noch zu bleiben. Er habe ja eigentlich kein Wort allein mit ihr sprechen können den ganzen Abend. Und als sie zögerte und verweilte, legte er ihren Arm in den seinen und führte sie zu dem Rundsofa.

»Mutter!« rief sie, »wir plauschen hier noch ein bisserl!«

Diese winkte den beiden müde zu und sagte: »Nicht zu lang!«

Und Juliska antwortete: »Nur noch zwei Zigaretten!« Die Frau von Gergely war schon im Zimmer verschwunden, um Licht zu machen, und die Klarinéni folgte ihr. Sie schliefen zusammen. Juliska aber hatte nebenan ihr Zimmer allein, sie schlief nie mit ihren Begleiterinnen.

Wie die Schneekönige freuten sich die beiden Menschenkinder, daß sie nun doch noch zusammengekommen waren. Aber sie mußten leise plaudern, denn ringsum mündeten Türen in diesen Raum, hinter denen Menschen schliefen. Juliska nahm eine Zigarette nach der anderen aus der goldenen Tabatiere des Grafen, es wurden ihrer viel mehr als zwei. Sie war so glücklich, so selig. Nach all der Nervenspannung der letzten Tage fühlte sie ein wohliges Erschlaffen in sich, ein so angenehmes Müdesein. Und als der Graf, der schon so lange aus der Ferne um sie warb, und der ihr immer näher und näher gekommen war, sie jetzt ganz zart auf den Mund küßte, widerstrebte sie nicht. Alles in ihr kam ihm heute entgegen. Die Empfindung, daß sie heute noch etwas ganz Besonderes erleben müsse, war nur gesteigert worden bei seinem unvermuteten Erscheinen, und sie saß jetzt, sanft an ihn geschmiegt, hinter dem schützenden Kegel des Rundsofas und ließ sich küssen. Dabei schloß sie die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, war es dunkel ringsum. Der Hausdiener, der keine Ahnung hatte, daß da oben noch plaudernde Hausbewohner saßen, hatte die letzten Flammen abgedreht …

Und jetzt stand Juliska mit dunkelumränderten Augen dem Direktor gegenüber und hörte zerstreut zu. Um so aufmerksamer horchte die Klarinéni.

Was denn die Gage sei, wollte sie wissen.

»Gage? Ein gnädiges Fräulein nimmt doch keine Gage von mir!« rief der Direktor.

Die beiden Damen sahen sich betroffen an und schwiegen.

»Na,« sagte der Direktor, »damit das Kind einen Namen hat, setzen wir hundert Kronen pro forma in den Vertrag.«

»Damit dürfen wir nicht kommen,« sagte die Mutter. »Schreiben Sie dreihundertfünfzig – ich zahle die Differenz aus eigener Tasche.«

»Wie?« Der Direktor lachte. »Geben Sie mir das schriftlich?«

»Ganz gewiß. Wissen S', Herr Direktor, der Bácsi will das Mädel durchaus nicht zum Theater lassen. Wenn wir ein bisserl schwindeln, gibt er vielleicht doch nach.«

Der Direktor trug lächelnd die Gagenziffer ein und ließ den Vertrag sogleich ins reine schreiben. Er sah Juliska an: »Auf zwei Jahre oder drei – mit steigenden Bezügen?«

Sie erschrak. »Keine Idee!« rief sie. »Für eine Wintersaison!«

Als die Reinschrift kam, fragte der Direktor: »Und wer wird für Sie noch unterschreiben, da Sie minderjährig sind?«

»Der Bácsi!« rief die Mutter. »Der Herr Vormund!« Daß sie selbst gar nicht schreiben konnte, durfte da nicht ans Licht kommen.

»Hier meine Unterschrift,« sagte der Direktor. »Bitte um die Ihre.«

Juliska unterschrieb mit Vorbehalt der Genehmigung ihres Vormundes. Der Direktor aber begrüßte sie mit einem Handschlag als sein jüngstes Mitglied.

Die Frau von Gergely war schon mit dem Gepäck zur Bahn vorausgefahren. Als jetzt Mutter und Tochter im Wagen saßen, um ihr zu folgen, und der Regen auf das Dach niederprasselte wie aus Gießkannen, sprach die Klarinéni: »Sag' mir doch, Juliskám, was du heute Nacht so lange noch zu plaudern gehabt hast mit dem Grafen? Ich war ja schon einmal ausgeschlafen, wie du gekommen bist!«

»Ach ‚« erwidert diese, während sie noch um einen Ton blasser wurde, »er hat mir so viel davon erzählt, wie er sich freue, daß sein Regiment im nächsten Winter nach Wien in Garnison kommt. Und ich sollte doch zur deutschen Bühne gehen.«

»Was?« erwiderte die Mutter erschrocken. »Daß du dem Bácsi kein Wort sagst! Der enterbt dich noch!«


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