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Das Schwabendorf lag still und friedlich in der warmen Aprilsonne. Alles war draußen in den Riedfeldern und in den Weingärten; die große Arbeit des Jahres hatte wieder begonnen, und sie war eine Lust nach dem langen, milden Winter, der heuer von südlicher Harmlosigkeit gewesen und fast gar keine Beschwerden gebracht hatte.
Österliche Auferstehung!
Neuer Saft, neues Leben, neue Liebe war in alle Wesen geschossen, in Pflanze, Mensch und Tier. Wie die Lerchen sich in den Lüften wiegten, jubelten und tirilierten, so sprangen die Kälber und Lämmer auf der Weide, so sausten die jungen Füllen über die Wiesengelände der Donauauen, so tollten nach dem Schulschluß die Buben und Mädeln durch die breiten, mit Baumreihen besetzten Gassen des Dorfes. Noch läuteten und bimmelten die Schneeglöckchen hinter mancher Weißdornhecke an den Dämmen draußen, beim Wasser, aber es mischte sich schon Veilchenduft in den kräftigen Geruch der Ackerscholle, und die Stare schwätzten in allen Gärten. Über Nacht hatten sich die Knospen der Obstbäume aufgeblättert, schlohweiß blühten die Aprikosen; es war ein Jauchzen und Duften in der ganzen Natur, und die Erde dampfte in wonnigen Schauern.
Selbst Seine Hochwürden der Herr Pfarrer schaffte heute eigenhändig in seinem Garten, und der Oberlehrer nebenan tat es ihm nach. Dabei plauderten sie über den Zaun hinweg miteinander. Die Frau Oberlehrer setzte Salatpflanzen aus und beteiligte sich auch an dem Gespräch. Und drüben im Pfarrgarten arbeitete nicht nur der Pfarrer Horvat, auch Fräulein Juliska Sprich: Julischka war mit dabei, während die KlarinéniKosenamen für Tante Klara, ihre Mutter, die dem Hochwürdigen seit zwei Jahrzehnten die Wirtschaft führte, nur ab und zu ging und mit der Frau Oberlehrer Sämereien über den Zaun hin austauschte. In einer fernen Ecke des Gartens beteiligte sich auch der Herr Kaplan, ein hübscher, junger Mann, mit dem glatten Gesichte eines Knaben, an der gärtnerischen Tätigkeit. Er hatte einen grauen, kleinen Rohleinensack umhängen und »putzte Raupen«. Von einem Obstbaume ging er zum andern und spähte nach Ungeziefer, das etwa doch noch aus übersehenen Raupennestern ausgekrochen sein mochte. Der Straubmichel hatte die Bäume zwar im Februar gereinigt, aber wer weiß … Auch im Vorjahre wurden ein paar Aprikosenbäume kahlgefressen, und der Oberlehrer schlug Lärm, weil auch der Schulgarten in Gefahr kam. Freiwillig erbot sich der Kaplan zu dieser wenig verlockenden Tätigkeit. Denn es war Frühling, man mußte ja etwas tun, mußte zugreifen, wo alles sich regte, alles schaffte. Selbst die zierliche Juliska schaufelte lachend mit. Bei den Schwestern vom Sacré-Cœur in Preßburg war sie erzogen worden, Französisch hatte sie gelernt und arbeitete dennoch mit im Pfarrgarten. Da durfte er, der ein Bauernsohn war, doch nicht zurückstehen; und Bácsi Oheim nannte sie Seine Hochwürden, als ob sie die Nichte des Pfarrers wäre. Die Leute behaupteten sogar, sie sähe dem alten Herrn viel ähnlicher, als dies sonst bei Nichten der Fall war. Aber was ging das ihn an, den jungen Fant, den sie erst kürzlich aus dem klösterlichen Seminar hatten ausfliegen lassen? Er war gut aufgehoben, seine erste geistliche Station gefiel ihm, und er hätte am liebsten in Juliskas Lied eingestimmt. Aber das hätte sich doch nicht geschickt. »Mehr Würde!« »Mehr Würde!« hatte der Rektor immer gerufen, wenn die Kleriker lustig sein wollten.
Der Oberlehrer Nikolaus Heckmüller, ein wohlerhaltener Sechziger mit noch ungebleichten Haaren und einer Brille vor den braunen Augen, war hart an den Bretterzaun herangetreten. Er sah dem Pfarrer lächelnd eine Weile zu, wie er im Schweiße seines Angesichtes mit dem Spaten grub.
»Haben Sie's schon gehört, Hochwürden, daß man die Haffnersbärbl wieder aus dem Irrenhause entlassen hat?« fragte er.
»Die Izé Dingsda, die Frau Haffner? Kein Wort hab' ich gehört. Aber es freut mich,« sprach der behäbige Pfarrer und richtete sich auf aus seiner gebückten Stellung. Mit der Rechten rieb er sich den Rücken, so, als ob ihm das Kreuz doch ein wenig wehe täte von der ungewohnten, allzu eifrigen Beschäftigung.
»Gestern abend hat ihr Mann sie wieder heimgebracht. Die Ärzte sagten, sie wäre in der häuslichen Pflege am besten aufgehoben, denn ihr Zustand sei kein Irrsinn. Sie werde daheim am sichersten wieder gesund.«
»Szegény aszony! Armes Weib! Was ihr nur damals zug'stoßen sein muß in Szegedin?« sprach die Klarinéni, die ein Gemisch von Magyarisch und Schwäbisch redete.
»Weiß Gott! Frisch und gesund ist sie am zweiten Weihnachtstag fortgefahren, um ihren Buben zu besuchen, und ganz gebrochen ist sie wiedergekommen,« entgegnete der Oberlehrer.
Auch die Frau Oberlehrer, Rosa Heckmüller, war jetzt an die Planke herangetreten, und sie rief das Fräulein Juliska zu sich. Sie gab ihr allerlei Blumensamen zur Probe, besonders von den Windlingen für den Zaun, der den Pfarrgarten vom Schulhausgarten trennte. Der sollte heuer recht schön werden, wenn er von beiden Seiten mit Windling bepflanzt war. Zum Pfarrer gewendet, sagte die Frau Oberlehrer spitzig: »Ich kann mir schon denken, Hochwürden, was der Frau in dem Szegediner Konvikt begegnet ist. Es wird schon ans Licht kommen, wenn ihr Mann einmal hinfährt. Sie ist ja nicht die erste deutsche Mutter, die dort das Schmerzlichste erlebt hat. Aber sie war immer gar zart und leicht aufgeregt, sie hat's halt nicht vertragen.«
»Was meinen Sie, Frau Oberlehrer?« sprach der Pfarrer, und seine Miene wurde ernst und streng. »Es ist ein geistliches Konvikt, von dem Sie reden.«
»Ich habe nur als deutsche Mutter gesprochen, Herr Pfarrer. Und ich kann nur vermuten, was es ist. Ehe der Haffnerslippl nicht selber dort war, rede ich kein Wort mehr über die ganze Sache.«
So sprach die Frau Oberlehrer und zog sich wieder hinter ihren Zaun zurück. Ihr Mann aber zündete verlegen seine kalt gewordene Pfeife an und meinte: »Vor der Ernte wird der Haffner wohl kaum die Fahrt unternehmen.«
»Ich werde verlangen, daß er es tut,« entgegnete der Pfarrer, »denn ich habe ihm das Konvikt seinerzeit empfohlen.«
Er schien verdrießlich, aber er begann wieder zu graben und zu schaufeln, und auch der Oberlehrer wendete sich seiner gärtnerischen Tätigkeit zu. Es war ganz still geworden … Nur ein Stieglitz, dessen Ehehälfte sich in dem großen Birnbaum des Pfarrgartens mit Eifer ein Nest baute, schmetterte sein Frühlingslied in die lauen Lüfte. Und von nah und fern, aus allen Gärten‚ erklang der vielstimmige Chor der Singvögel, die einfielen in das Jauchzen und Tirilieren, das durch die ganze Natur ging.
Am Eingang des Schulhausgartens tauchte jetzt ein Mann auf in bäuerlicher Tracht. Er trug eine Peitsche mit langem Stiel in der Rechten, die Linke legte er wie grüßend an den runden Hut und rief:
»Herr Oberlehrer, mer sei schun doo mit de Eier!« Wie elektrisiert fuhr Nikolaus Heckmüller, der gerade einen allzu dichten Stachelbeerstrauch ausschnitt, in die Höhe.
»Was, bei der Hitze? Hab' ich Euch nicht gesagt, Vetter Hannes, ihr sollt entweder früh morgens oder spät abends zum Landungsplatz fahren?«
»Des häb ich jo getaun. Aewer 's Schiff hot sich verspät'. Jetzt kummt nar g'schwindt. Ich maan meine immer, die Wärm' Würmer schluppe uns zu früh aus.«
»Ja, ja, ich komme!« rief der Oberlehrer, »holt nur schnell den Straubmichel.« Und er wandte sich, lebhaft angeregt, wieder nach dem Zaun und sagte: »Der Same ist schon hier, Herr Pfarrer! Werden Sie sich heuer beteiligen? Es wär' nur um des guten Beispiels willen.«
»Tessék, ja!«
»Wieviel nehmen Sie?«
»Eine Unze, nicht mehr. Ich habe nur ein Zimmer frei«
»Gut, Herr Pfarrer! Eine Unze ist zwar wenig … Wollen Sie die Ausbrütung selbst besorgen?«
»Nein, nein, das soll nur der Straubmichel durchführen, wie immer. Ich nehme die Raupen von einer Unze Samen, wenn sie zwei Tage alt sind.«
»Gut, Herr Pfarrer. Werde alles besorgen!« rief der Oberlehrer und wandte sich dem Ausgang seines Gartens zu. An seine Frau aber richtete er noch die rasche Frage: »Rosa, ist alles in Ordnung?«
»Aber ja!« sprach diese gelassen. »Das Zimmer ist durchgeheizt und hatte vorhin 15 Grad.«
»Das ist zu viel für den Anfang! Es darf am ersten Tag nur 13 Grad haben.«
»So mach' ein Fenster auf!« sprach lächelnd die Frau Rosa. Und auch Herr Heckmüller mußte lächeln.
Sein erster Weg war in das große Hinterzimmer des Schulhauses, in dem einst die Mädchenklasse untergebracht war und das schon seit Jahren freistand. Die Thermometersäule zeigte zu seinem großen Mißvergnügen 16 Grad, und er riß alle Fenster nach der schattigen Hofseite auf, um die Temperatur herabzusetzen. Dann eilte er unter das Haustor, um nach dem Wagen zu sehen. Der Vetter Hannes hatte alle Anordnungen mit Verstand befolgt, die kostbare Ladung war von allen Seiten mit Decken verhängt, kein Sonnenstrahl traf die vielen länglichen Schachteln, in denen, nach vorbestimmten Grundsätzen verteilt, der Same für die Seidenraupen zur Versendung gelangte.
Und der Straubmichel, der Gemeindeausbrüter, war auch schon zur Stelle. Der blonde Riese befand sich schon seit Wochen in großer Aufregung, weil der Same nicht kam. Das Landesseidenbau-Inspektorat in Szegzárd hatte wohl schon im Februar der Gemeinde die heurigen Seidenpreise in Frankreich und Deutschland mitgeteilt, aber der bestellte Same blieb aus. Und so viele Dorfbewohner wie heuer hatten sich noch nie für die Zucht gemeldet.
Na, wenn die Eier nur jetzt endlich da waren! Das andere wollte er schon besorgen. Er begrüßte den Herrn Oberlehrer mit einem breiten Lächeln und lüpfte ein wenig die Kappe.
»No alsdann, do sein se jo doch!« rief er befriedigt und begann die Schachteln zu übernehmen. »Wann nur koi Nachtfrost mehr kimmt. Die Maulbeerbeem sin gar haakel heikel, Herr Oberlehrer.«
»Wollen wir hoffen, daß das Wetter so bleibt.«
Nikolaus Heckmüller ging voraus und prüfte neuerlich den Wärmemesser. Auch der Straubmichel tat es und war zufrieden. Bei dieser niederen Temperatur konnte man den Samen noch einige Zeit erhalten, ohne daß er lebendig wurde. Vor dem 1. Mai sollte man von Rechts wegen doch kein volles Vertrauen zum Wetter haben. Krochen die Räupchen zu früh aus und es fiel noch Reif, war das ganze junge Laub vernichtet und alle Tiere mußten verhungern. Denn bis es wieder neue Triebe gab, konnten zwei Wochen vergehen.
Der Straubmichel zog sein Verzeichnis hervor und verglich den eingelaufenen Vorrat, Schachtel für Schachtel. Der Oberlehrer aber brachte jene Samenschachteln in Sicherheit, deren Inhalt ihm für Schulzwecke übersendet worden war. Ganz kleine weiße Papiersäckchen, von denen jedes den Namen eines Schülers trug, waren schon vorbereitet. In sie verteilte er jetzt behutsam die winzigen dunklen Eier, die wie Mohnkörnchen aussahen. Mehr als fünfzig gab er keinem Schüler freiwillig. Nur wenn sich einer meldete und darum bat, sollte er mehr erhalten. So hatte es einst auch sein Direktor an der Normalschule in Temesvar gehalten, der in den Kindern die Liebe weckte für die Seidenzucht, und so hielt es jetzt er selbst.
Als Heckmüller vor dreißig Jahren als Lehrer in sein Heimatsdorf kam, bemühte er sich sogleich um die Einführung der Seidenzucht, aber es wollte ihm lange nicht glücken, damit durchzudringen. Die Bauern hatten andere Sorgen. Auch waren sie zu stolz, sich mit solchen »Läppereien« abzugeben und meinten, sie hätten keine Zeit dazu. Und einen alten Ingrimm hatten sie gegen die zahlreichen Maulbeerbäume, die auf den Gassen und am Rande aller Komitats- und Feldstraßen standen. Da kamen die Kinder, wenn die Beeren reif waren, schüttelten die Bäume und traten ihnen das Getreide zusammen. Und auch die Vögel wurden angelockt. Und besonders verhaßt waren ihnen die Laubsammler, die mit Leitern anrückten. Der Schatten, den diese vielen Bäume warfen, war zur Erntezeit wohl gut für die Ruhepausen und die Mahlzeiten der Schnitter, aber das Korn wurde nie recht reif in der Nähe der Bäume. Am liebsten hätten sie die Bäume sämtlich abgehackt. Doch da gab es ein dummes altes Gesetz, das hohe Strafen auf die Beschädigung eines Maulbeerbaumes aussetzte, und manch einer hat schon gebüßt für einen unbedachten Baumfrevel.
Nikolaus Heckmüller war der Sohn eines Kleinhäuslers, eines Tischlers, seine Familie gehörte nicht zum bäuerlichen Patriziertum des Dorfes. Aber sein Einfluß stieg doch von Jahr zu Jahr, denn daß er, der Oberlehrer, kein »fremder Hungerleider«, sondern ein Dorfkind war, das rechnete man ihm hoch an. Und namentlich die Jugend hing an ihm. Mit ihrer Hilfe hatte er es denn auch nach jahrelanger Bemühung durchgesetzt, daß die Seidenzucht im Dorfe Verbreitung fand. Er erzählte seinen Schülern immer und immer wieder die Geschichte des Banats, der Baèska und der Militärgrenze, schilderte die Vertreibung der Türken durch die kaiserlichen Heere und die Besiedlung des Landes mit deutschen Bauern. Und unter all den großen Feldherren hatte er einen ganz besonders ins Herz geschlossen. Nicht etwa den Karl von Lothringen oder den berühmten Prinzen Eugen, die die Schlachten geschlagen und die Friedensverträge mit den besiegten Türken geschlossen, nein, der kaiserliche General Claus Florimont Graf Mercy war Heckmüllers Liebling. Und von ihm erzählte er seiner Dorfjugend, so wie man es einst ihm selbst in der Normalschule und im Seminar von Temesvar erzählt hatte, als diese Stadt noch unter kaiserlichem Schutze stand und all ihre deutschen Schulen besaß. »Wißt ihr, liebe Kinder, das war so,« sagte er ihnen: »Unsere Ururväter stammten aus dem Deutschen Reich, und Ungarn war damals auch ein Teil der Länder, über die der Deutsche Kaiser herrschte. Karl VI. hieß er als Deutscher Kaiser, Karl III. als König von Ungarn. Er wohnte in Wien, und er berief seine Untertanen aus den Provinzen am Rhein und in Schwaben in seine ungarischen Provinzen. Unsere Urväter verließen ihre engere Heimat, nicht aber das Reich des Deutschen Kaisers, als sie die Donau herabkamen bis in diese Wildnis. Und im Heere des Prinzen Eugen war ein besonders gescheiter und braver General, ein welterfahrener und praktischer Mann, der Graf Mercy. In Italien war er geboren, in der kaiserlichen Armee groß geworden, und bis zum Feldzeugmeister brachte er's. Diesem Manne, der mehr war als ein Soldat, übergab der Prinz Eugen das eroberte Banat, und der Kaiser Karl, der Vater der Maria Theresia, stimmte zu. Mercy sollte diese ganz entvölkerte und versumpfte Türkenwildnis in ein bewohnbares Land umwandeln. Alle Generäle wurden hier fieberkrank und schauten, daß sie wieder nach Wien kamen, Graf Mercy aber, der Südländer, hielt es aus. Er baute die neue Festung Temesvar, legte die anderen Städte und all die Kolonistendörfer an, er ließ Kanäle graben und schiffbare Wasserstraßen, damit die kleineren Flüsse untereinander verbunden wurden und das versumpfte Land zwischen Donau, Theiß und Marosch tocken werden konnte. Fast alle Dörfer, die es im Banat und der Baèska heute gibt, sind von seinen Soldaten und Feldmessern angelegt worden. Und der Kaiser und die Kaiserin schickten ihm immer neue Ansiedler aus allen Teilen ihres großen Reiches. Auch Franzosen aus dem Elsaß, Spanier und Italiener, Serben und Bulgaren. Aber am zahlreichsten kamen die Deutschen, und am fleißigsten waren sie auch. Und wo die anderen am Sumpffieber und an der Cholera starben, da wurden immer neue Deutsche angesiedelt. So auch in unserem Dorf. Es war nicht eines der ersten, weil es zwischen der Theiß und der Donau liegt und erst gebaut werden konnte, als das Sumpfwasser abgeleitet war. Diesen gesegneten Boden verdanken wir der Ausdauer und der unendlichen Mühe des Grafen Mercy, der die Donau und die Theiß bändigte und Dämme baute zu unserem Schutz. Ohne ihn wäre heute hier noch ein Sumpf. Dreißigtausend Joch hat er unserem Dorf zugeteilt, weil er wußte, daß immer ein Teil unseres Hotters unter Wasser sein würde. Dafür hat er aber auch tüchtige Lothringer und Pfälzer hier angesetzt, echte deutsche Kernmenschen.
Und seht, Kinder, dieser große General hat an alles gedacht, er probierte alles mögliche in diesem warmen Klima, das ihn an seine italienische Heimat erinnerte. Daß Weizen, Korn und Wein hier gedeihen müssen, das wußte er. Aber er baute auch Tabak und Melonen, er versuchte es mit edlen Obstbäumen, sogar mit Feigen, Mandeln und Pomeranzen. Und er ließ Hunderttausende junge Maulbeerbäume aus Italien bringen, um sie hier anzupflanzen. Die Bienenzucht hatte er in großem Maßstab eingeführt und ganze Akazienwälder angelegt für sie. Als das schönste seiner Werke aber dachte er sich die Seidenzucht. So gut wie hier, in dieser warmen, niemals trockenen Luft, zwischen den vielen Wässern, so gut, meinte er, könnten die Seidenraupen nirgends in der Welt gedeihen. Und er legte ein eigenes Dorf mit italienischen Seidenzüchtern an, das seinen Namen führte und Mercydorf genannt wurde. Von dort aus sollte die Seidenzucht im Lande verbreitet werden. In einem Wald von Maulbeerbäumen lag dieses Dorf. Aber als wieder einmal die Pest von der Türkei her ins Land kam, da starben diese Italiener fast alle. Und den Übriggebliebenen grauste vor dem ungesunden Banat; sie ergriffen die Flucht. Aber die Seidenzucht verbreitete sich im ganzen südlichen Ungarn. Die Kaiserin Maria Theresia ließ sie nicht untergehen. Seit mehr als hundert Jahren schon kaufen die Franzosen unsere Seidenkokons, und am besten werden sie in Deutschland bezahlt: in Krefeld und anderen Städten am Rhein. Viele Millionen Gulden sind ins Land gekommen durch die Seidenzucht. Und wer hat diese Millionen verdient? Die braven Kinder, die noch nicht mitgehen in die Feldarbeit, und die Großväter und Großmütter, die nicht mehr mitgehen können. Die Kinder haben fleißig Maulbeerblätter gesammelt und heimgetragen, und die Großeltern schauten darauf, daß die Raupen gute Luft hatten, daß sie pünktlich und immer mit trockenem Laub gefüttert wurden. So sind sie gewachsen und gesund geblieben, haben sich in ihre Seidenfäden eingesponnen, und das brachte Geld in jedes Haus. Geld vor der Ernte, zur schlimmsten Zeit, weil da die ärmeren Leute schon sehnsüchtig auf das neue Brot warten. Und so sollt auch ihr es machen, euren Eltern Freude bereiten und den Wohlstand des Landes mehren. Und habt Achtung vor jedem Maulbeerbaum! Wer einem einen Ast mutwillig abbricht, ist ein Sünder. Auf jedem Baum hängen unsichtbare Dukaten. Und das schöne alte Sprichwort: ‚Mit Geduld und Zeit wird's Maulbeerblatt zum Seidenkleid' könnt ihr jedes Jahr erfüllt sehen, wenn ihr brav mithelft bei der Seidenzucht.«
So sprach Nikolaus Heckmüller Jahr für Jahr in der Schule zu Karlsdorf. In der Gemeinde aber verlangte er unausgesetzt die Vermehrung der Maulbeerbäume und eine eigene Baumschule für die Zucht. Es wurde widerwillig gewährt. Aber als dann immer mehr Geld unter die kleinen Leute des Dorfes kam und die Bauern erkannten, daß dieses Geld gerade zu einer Zeit verdient werden konnte, wo die große Arbeitspause vor der Ernte eintrat, und daß es leicht und mühelos, ohne Einsatz, verdient wurde, da fingen auch sie an, ihren Oberlehrer zu unterstützen.
Der Straubmichl hatte seine Liste mit dem Einlauf verglichen und fand alles in Ordnung. Und auch der Oberlehrer war zufrieden; sein Vorrat reichte aus für alle vier Schulklassen. Besonders erfreut war er über die beigelegten Broschüren des Ackerbauministeriums, die einen illustrierten Leitfaden enthielten für die Seidenzucht. Das erleichterte ihm sein Streben außerordentlich. Wunderlicherweise war dieser Leitfaden mit dem Bildnis des edlen Grafen Stefan Széchényi geschmückt, weil auch er, hundert Jahre nach Mercy, den Wert der Seidenzucht erkannte und sie in den magyarischen Komitaten des Landes förderte. Heckmüller schüttelte den alten Kopf. Sollte er von jetzt ab, als ungarischer Patriot, seinen altösterreichischen General, den Grafen Mercy, verleugnen?
Die Mittagsglocke läutete vom Kirchturm, und der Straubmichl empfahl sich vom Oberlehrer mit dem Gruße:
»G'lobt sei's Chrischt.«
Auch die Frau Oberlehrer kam jetzt aus dem Garten. Sie rief ihren Mann durch das offene Fenster zu Tisch. Um ein Uhr begann ja wieder die Schule, da war es geboten, die Mittagsstunde genau einzuhalten.
Frau Rosa mußte lächeln über den Eifer des Gatten, der da die Arbeit der einzelnen Klassenlehrer besorgte und mit seinen kurzsichtigen Augen die kleinwinzigen Eier zählte und verteilte. Er wollte sich eben mit niemandem in den Ruhm teilen, der Apostel der Seidenzucht zu sein.
»Komm nur, komm nur, Alter,« sagte die Frau Rosa, »heut gibt's g'fülltes Kraut und Pfannkuchen.«
»Ja, Mutter, ist denn heut mein Namenstag?« rief Heckmüller und erhob sich. Er tat noch einen raschen Blick auf die beiden Wärmemesser, von denen einer den anderen zu überwachen hatte, griff mit der flachen Hand prüfend an den breiten, alten Kachelofen und ging dann befriedigt zu Tisch. Er hatte wieder eine Aufgabe vor sich für die nächsten Monate, und das tat ihm wohl. Er konnte nicht leben, ohne irgendeine Aufgabe zu haben.