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Reich war die Ernte des Jahres gewesen, alle Speicher und Vorratskammern, alle Gefäße und Gebinde erwiesen sich als zu klein und zu gering an Zahl. Die Hausböden konnten den Weizen kaum tragen, der dort in goldiger Fülle aufgeschüttet lag; und noch war dieser nicht ganz geborgen, winkte schon die Pflaumen- und Zwetschkenernte. In allen Bauernhöfen dampften die Kessel, überall wurde Slibowitz gebrannt. Weithin dehnte sich das mit Pflaumenbäumen bepflanzte Gebiet; an die dreißigtausend tragfähige Bäume zählte man, und sie hatten sich gebogen unter der Last ihrer Früchte.
War das eine fröhliche Ernte! Jung und alt war mit dabei; denn die Bäume zu schütteln, daß es prasselte, und die Früchte aufzuklauben, gilt nicht als Arbeit, das ist ein Vergnügen. Da mag jeder essen, soviel sein Ränzlein fassen kann; keiner Genäschigkeit sind Zügel angelegt, die Gebinde reichen ja ohnehin nicht zu. Und während die Männer die eingemauerten hohen Kupferkessel, die von den Finanzern wieder entsiegelt worden sind, füllen und heizen, ihr Pfeifchen rauchen und vergnüglich harren, bis es unten tropft und rinnt, kochen die Frauen die Leckwar' Leckware, Pflaumenmus für den Winter und füllen Töpfe Kannen und Gläser. Das gibt manchen guten Marktgroschen im nächsten Frühjahr, wenn die Städter so etwas nicht mehr haben und gut bezahlen. Und nach der Pflaumen- und Zwetschkenernte kam die Traubenlese, kam der Wein. Zuletzt aber wollte auch der KukurutzMais gebrochen, wollten die »Krumpiern«Kartoffel ausgenommen sein. Fröhliche Arbeit über und über bis in den Spätherbst, wo dann ein strenges Regiment anhebt; denn die Felder müssen gepflügt, die Weingärten zugedeckt und die Wintersaaten bestellt sein, ehe Frost eintritt. Bis nach Allerheiligen währt diese Arbeit, und oft ist sie noch nicht beendet, wenn die ersten Schneegänse schreien, die in hellen Scharen durch die Lüfte heransegeln, in den Auen einfallen und sich für den Winter ansiedeln.
In die vergnügliche Zeit nach dem Schnitt fällt die Kirchweih, fallen die großen Schulferien, die Wallfahrten und die Märkte. Man sieht Gäste bei sich und fliegt selbst aus zu den Kirchweihfesten der Nachbardörfer oder auch nach fernen deutschen Ansiedlungen, um alte Freundschaften, Familien- und Verwandtschaftsbande zu pflegen und zu erhalten.
Und in dieser schönsten Zeit des dörflichen Jahres gab es auch heuer wieder Besuche die Menge in Karlsdorf. Alle die Studenten waren heimgekehrt, denen es in Ungarn wie ein Spott anhängt, daß sie Schwaben sind, und von denen sich so viele bemühen, ihre Abstammung zu verleugnen. Sogar Heckmüllers Ältester, der Franz, war aus der Schweiz zu Besuch gekommen. Ein seltener Vogel unter den Pflanzen der heimischen Lehranstalten, die zumeist von schiefem Wuchs waren. Mitten unter all den kleinen Janitscharen stand er wie ein Wunder da. Deutsch war er geblieben: Dozent an der Technik in Zürich war er geworden, und die Hochschulprofessur konnte ihm nicht mehr entgehen.
Frau Rosa war glücklich. Und Heckmüller tat gar stolz mit seinem Franz. Überall hin begleitete er ihn, zu Verwandten und Freunden, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Und es gab so viel zu besprechen, auch vom öffentlichen Leben. Alles, was den Vater, was die Gemeinde beschäftigte, wurde durchgesprochen, auch im »Großen Wirtshaus«, im Kreise der Männer. Franz wußte so anschaulich zu erzählen von den friedlichen Zuständen in der Schweiz, wo drei Sprachen, das Deutsche, das Französische und das Italienische, nebeneinander lebten und ineinanderflossen, wo einer sich in den anderen fügte und jeder blieb, der er war, wo alle miteinander nur einem praktischen Ziele zustrebten: den Wohlstand zu mehren und sich zu bilden. Wenn man dem Franz glauben durfte, gab es dort nationale Reibungen ebenso wenig wie religiöse Gegensätze. Niemand herrschte, keine Kaste und keine Nation besaß ein Privilegium auf öffentliche Ämter; in dem einen Kanton verwaltete man deutsch, im anderen französisch, im dritten italienisch, in einem vierten und fünften zweisprachig, und wer ein Amt haben wollte, mußte eben die Volkssprachen, die an dem Orte üblich waren, verstehen, sonst bekam er es nicht. Eine Beamtensippe, die den Anspruch erhöbe, daß das Volk ihre Sprache lerne, würde man dort stäupen, sie wäre eine Spottgeburt für alle, sagte der Franz. Die Beamten wären dort eben die Gehilfen und Vollstrecker seiner Wünsche, nicht die Herren des Volkes.
Die Nachwirkungen dieser Gespräche mit dem Vater und den Männern des Dorfes waren tief. Gerade weil sie so absichtslos geführt wurden, gingen sie ins Gehör der Leute. Der Ing. Dr. Franz Heckmüller war ja den kleinlichen Verhältnissen seiner Heimat längst entfremdet, und sein Ehrgeiz flog höher. Er konnte nur lächeln über den Gedanken des Herrn von Gergely, daß er ihn einmal verdrängen wolle. Das lag weit hinter ihm. Er war ein verlorener Schwabensohn von denen, die nichts mehr erstrebten in der Heimat … Am liebsten hätte er sich aufgemacht, um den Georg Trauttmann zu suchen, der zwei Wochen vor ihm dagewesen war, so sehr interessierte ihn dieser Mann. Mit Erstaunen hörte er von dessen Mahnungen und Ratschlägen. So dachte auch er schon lange über die Lage des Heimatsdorfes … Und was hatte dieser Mann dem Haffnerslippl geantwortet, als dieser ihm sein madjarisiertes Kind und seine schwerkranke Frau vorstellte? »Ein Dorf, wie das Ihre müßte längst ein deutsches Familienheim in Szegedin haben. Das dürfte nicht vorkommen.« Sonst sagte er nichts. Aber das ganze Dorf zehrte auch von diesem Wort; es ging langsam auf wie ein Samenkorn. Franz beneidete den Unbekannten um diese Aussaat.
Und noch eines hatte Franz Heckmüller in das Vaterhaus und in das Dorf gebracht: die Freude an Gesang und Musik. Er spielte stundenlang bei offenen Fenstern auf dem alten Klaviere und sang ab und zu auch ein schönes Lied, denn er besaß eine ganz gut gebildete Baritonstimme. Das hatte der Oberlehrer, der wohl ein guter Organist war, ganz vernachlässigt; um das Klavier bekümmerte er sich wenig, und auch der Frau Rosa fehlte alle Geläufigkeit im Spiel. Aber der Franz, der konnte etwas! Er frischte das ganze Haus auf in den zwei Wochen, die er in der Heimat weilte, und auf der Gasse gab es abends immer Zuhörer, wenn er spielte. Und er besaß sogar die naive Vermessenheit, die Studentlein des Dorfes ein altes Lied lehren zu wollen, das mit der Frage anhub: »Was ist des Deutschen Vaterland?« Als Alldeutscher und Pangermane galt er fortan.
Und jetzt hatte er ein Versprechen, das er gegeben, erfüllt; er schickte dem Vater Musikalien, deutsche National- und Volkslieder, einfache Chöre. Damit sollte er seinen alten Gesangverein, den er vor Jahren für kirchliche Zwecke begründet hatte, weiterbilden, ihn vor weltliche, vor nationale Aufgaben stellen. Das war dem alten Heckmüller willkommen. Er sah seit Jahren, wie die schönen Lieder, die sich Generationen hindurch behauptet hatten, allmählich verdrängt wurden durch fremdes Gut und durch ordinäre Gesänge, die die ausgedienten Soldaten aus den Städten heimbrachten. Frech-witzige Bänkel, poesielose, undeutsche Lieder, die wie Scheidewasser wirkten im Dorfe. Sie dünkten ihm schon lange eine Gefahr. Und jetzt war er so reich an Schätzen! Was gab es da nicht für Herrlichkeiten, von denen er keine Ahnung hatte. So stark wie aus diesen Chorgesängen wehte ihn der deutsche Geist noch niemals an. Das gibt es also jetzt, das singt man allerorten? Damit könnte man ja das Deutschtum in der Fremde verjüngen! Aber so manches dieser Lieder war wohl »staatsgefährlich«, so wie das seine, das er vor langen Jahren geschrieben …
Fast wehmütig stimmten ihn all die stolzen Nationalgesänge, die ihm der Franz geschickt hatte. Ja, auch er schlug einst solche Funken aus sich heraus. Er schrieb in jungen Jahren so manches Gedicht, manchen Weckruf, der im Leeren verhallte. Die Bauern verstanden ihn nicht, die Genossen verhöhnten ihn, und eine auswärtige Zeitschrift, der er vor langen Jahren eine Einsendung machte, wollte auch nichts von ihm wissen. Da ließ er es endlich sein.
Schüchtern öffnete Heckmüller jetzt seine tiefste Schreibtischlade und durchsuchte die vergilbten Blätter. Da lag sein altes »Schwabenlied«, das ihn einst beinahe, um Amt und Brot gebracht hätte, weil er eine Abschrift aus der Hand gegeben. Das wollte er seinem Franz einmal schicken. Hatte er doch sogar eine schlichte Weise dazu ersonnen. Er las das Lied nicht ohne Ergriffenheit wieder:
Banater Schwabenlied.
Es brennt ein Weh, wie Kindertränen brennen,
Wenn Elternherzen hart und stiefgesinnt.
O, daß vom Mutterland uns Welten trennen
Und wir dem Vaterland nur Fremde sind
Noch läuten uns der alten Heimat Glocen,
Die Glocken unsrer Väter treu und schlicht.
Doch frißt der Sturm ihr seliges Frohlocken,
Und Blitz auf Blitz verstört das Friedenslicht.
Von deutscher Erde sind wir abgeglitten
Auf diese Insel weit im Völkermeer.
Doch wo des Schwaben Pflug das Land durchschnitten,
Wird deutsch die Erde, und er weicht nicht mehr.
Wer mag den Schwaben fremd in Ungarn schelten?
Hier saß vor ihm der Türke, der Tatar.
Er will als Herr auf seiner Scholle gelten,
Ist Bürger hier und nicht dein Gast, Madjar!
Er hat geblutet in Prinz Eugens Heeren,
Vertrieb den Feind, der hier im Land gehaust.
Dein eigner König rief ihn einst in Ehren:
»Pflüg' mir den Boden, wackre Schwabenfaust!«
Aus einer Wüste ward ein blühend Eden,
Aus Sümpfen hob sich eine neue Welt.
Von diesem Laud laßt deutsch und treu uns reden,
Verachten den, der's nicht in Ehren hält.
O Heimat, deutschen Schweißes stolze Blüte,
Du Zeugin mancher herben Väternot,
Wir segnen dich, auf daß dich Gott behüte,
Wir stehn getreu zu dir in Not und Tod!
Tränen tropften nieder auf das verglibte Blatt. Ihm war, als höre er ein fernes Klingen und Tönen in den Lüften – die Glocken der alten Heimat läuteten wieder in ihm. Er hatte sie lange nicht mehr gehört.