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IV.

Die Pfarrersjuliska blieb also im Dorfe, ging nicht mehr nach Preßburg. Hübsch war sie geworden, das mußte ihr der Neid lassen. Ein richtiges Fräulein, wie eine Gräfin sah sie aus, und wenn Herren vom Komitat ins Dorf kamen, oder aus anderen Städten, unterließen sie es nie, im Pfarrhaus vorzusprechen, um die schöne Juliska zu sehen. Auch mancher Ulanenoffizier von Josefsfeld, besonders der eine, der blonde – sie sagen, er sei ein Graf – ritt ihr zu Gefallen oft durch das Dorf. Und sie zeigte sich gern am Fenster des Pfarrhauses, ließ sich grüßen und dankte jedem, der den Hut vor ihr zog oder die Hand salutierend erhob, mit strahlender Miene. Sie zählte achtzehn Jahre, war an Geselligkeit gewöhnt und entbehrte dieselbe hier schmerzlich.

Juliska war rabenschwarz, hatte eine feine, weiße Haut und eine keck vorspringende Nase, die sie ziemlich hoch trug, wenn es darauf ankam. Ihre blitzenden Augen, ihr kleiner Mund und ihre scharfen schmalen Zähne, die einen Elfenbeinton hatten, vervollständigten ihr schneidiges Aussehen. Sie war schlank, von zierlicher Figur, doch vollbusig, und sie lebte auf dem kleinsten Fuße, den man jemals gesehen. Gerne trug sie irgend ein Rot. War es auch nur eine kleine Schleife oder ein Band im Haar, ein Rot mußte dabei sein. Das hob die zigeunerische Wirkung ihrer eleganten Erscheinung. Denn zu kleiden verstand sie sich auch. Man hatte so etwas noch nicht gesehen in der Heimat der blonden Haare und der blauen Augen.

Wenn sie mit ihrer Mutter, der behäbigen, braunhaarigen Pfarrersköchin, die nie anders als im Schlafrock ausging, durch das Dorf kam, schauten ihnen die Leute nach. Woher hatte die Klarinéni diese Tochter? Und sie gingen recht häufig aus, denn die Juliska langweilte sich. Der Doktor hatte eine Frau, der Notär, der Stromingenieur, der Kaufmann Jellinek, und außer dem Oberlehrer waren auch zwei Lehrer verheiratet. Und Töchter waren auch da. Sonst gab es keine herrischen Familien im ganzen Dorfe. Unter den dreitausend deutschen Bauern bildeten das Pfarrhaus und diese sieben Familien die Insel, auf der man sich bewegen, auf der man Ungarisch reden konnte. Nationale Bücher und Zeitschriften gingen von Hand zu Hand; man hatte einige politische Blätter abonniert aus Pest, man kam zwei- bis dreimal jährlich in das Theater nach Temesvar, das neuestens auch ungarisch war. Und in diesem engen geselligen Kreis bildete das Haus des Oberlehrers Heckmüller eine Ausnahme; dort wurde deutsch geredet und deutsch gelesen. Er war eben ein Eingeborener, ein Bauernsohn, und die Frau Rosa war auch eine Schwäbin aus Neusatz. Sie besonders hielt alles auf deutsche Bücher und deutsche Zeitungen. Aber man hatte die beiden alten Leute sehr lieb und schätzte sie. Es war ihnen nichts nachzusagen.

Die Pfarrersjuliska trat jetzt, da sie erwachsen war, in diesen Kreis, und auch der Kaplan gehörte zu ihm, der Herr Michlbach István, ein magyarisierter Schwabensohn. Der Pfarrer Horvat hielt sich fern von dieser Gesellschaft. Er war alt und bequem, hielt viel auf seine Würde und Unnahbarkeit und lebte zumeist in seinem großen Garten. Nur gegen Abend machte er gewöhnlich eine Promenade vor dem Hause. Zehn runde gestutzte Kugelakazien standen vor der Längsfront des Pfarrhauses, ein Geländer und ein paar Pfähle sicherten den Gehsteig vor dem Zulauf von Tieren, und es spazierte sich dort ganz sicher und behaglich, selbst wenn die Viehherden gerade heimgetrieben wurden. Seine Hochwürden ging immer barhaupt, die Tonsur seines rabenschwarzen Kopfes leuchtete schon von weitem. Und immer rauchte er aus einer Meerschaumpfeife, die an einem langen Weichselrohr hing. Stramm und vollsaftig, mit gebräuntem Gesicht und blitzenden Augen, ging er auf und nieder. Das ganze Dorf zog den Hut vor ihm, alles grüßte, wenn es vor dem Pfarrhause vorbeikam. Er dankte nur mit einem Zucken der dunklen Brauen, manchmal winkte er einem besonders angesehenen Bauern mit der Rechten zu. In der Regel machte der Pfarrer seinen Spaziergang allein; selten begleitete ihn der jeweilige Kaplan, denn das Einvernehmen zwischen ihm und seinen Hilfskräften war nicht immer ein gutes. Neuestens sah man die Juliska oft an seiner Seite. Die Klarinéni aber blickte auch manchmal zum Fenster heraus und beteiligte sich an dem Gespräch, das die beiden im Vorübergehen führten. Sie sah alles, wußte um jedermanns Verhältnisse im Dorfe und kannte selbst die heimkehrenden Kühe. Bald wünschte sie sich von der, bald von jener ein Kalb zur Zucht, und sie erreichte auch stets, was sie sich vorsetzte.

Dieses abendliche Schauspiel, wenn das Dorf von der Arbeit heimkehrte und vor dem Pfarrhaus defilierte, ließ man sich selten entgehen. Da sah man erst, was in dieser Gemeinde sich regte, wieviel tausend Hände da schafften und welche Wohlhabenheit da sein mußte. Wagen um Wagen rollte vorbei, alle in guter Bespannung, mit kräftigen, gut genährten Pferden, und oft lief noch ein drittes und viertes Pferd, die rückwärts am Schragen angebunden waren, mit, weil man draußen auf dem Felde wohl vier Pferde gebraucht, aber nicht vierspännig aufziehen wollte im Dorfe. Und die Viehherden! Nach Zehntausenden mußte der Viehstand der Gemeinde zählen. Da war gut Pfarrer sein in solch einem Schwabendorfe. Selbst die Juliska begriff, daß der Bácsi diese Pfarre nur aufgab, wenn er einmal höher steigen konnte, und so sehr sie auch nach städtischen Freuden und Genüssen lechzte, sie mußte sich fügen. Und schließlich, ganz entfremdet war sie dem Dorfe auch nicht worden durch ihre vornehme Erziehung; daß es ihr Heimatsort war, machte es ihr doch wert. Und viele Grüße der jüngeren Generation galten ihr selbst, denn die Erinnerungen von vier Volksschuljahren verknüpften die Juliska mit ihren Altersgenossen im Dorfe. So mancher, der heute hinter dem Pfluge herging, war einst ihr Ritter, und in dieser und jener jungen Mutter erkannte sie die einstige Mitbewerberin um die Gunst der Herren Lehrer. Auch hatte sie den Schwäbischen Dialekt nicht ganz verlernt in der Fremde, und sie gebrauchte ihn gerne, wenn sie mit diesem und jenem sprach.

»Jessas, na! Seid 'r nit die Pfarrersjuuli?« rief ihr manchmal eine erstaunte junge Bäuerin zu, die sich nicht fassen konnte über ihre Schönheit. Und sie antwortete:

»Äwer freilich, Bas' Gertreid, ich bin wieder doo!« Sie zu duzen fiel niemandem mehr ein; ihr ganzes Wesen zog eine Scheidewand zwischen jetzt und einst. Und die Eitelkeit Juliskas spiegelte sich in allen Blicken, in allen Mienen. Sie war die Schönste in weitem Umkreis. Nur eine blonde, halbherrische Person hatte sie gestern beim Kaufmann Jellinek gesehen, die ihr ein wenig auf die Nerven ging. Sie erinnerte sich ihrer; sie war um zwei oder drei Jahre älter und in der Schule immer voraus, aber sie kannte kaum mehr ihren Namen. Jetzt hörte sie ihn wieder. Richtig, die »schöne Liszka« nannte man sie immer in der Schule. Und der Sohn des Kaufmanns Jellinek nannte sie noch heute so. Auch diese tat, als wollte sie die Juliska ansprechen und begrüßen, doch die kalte, abweisende Miene, der sie begegnete, verhinderte die Annäherung; die Dorfschöne ging und ließ das Fräulein stehen. Der Herr Kaplan aber, der soeben kam und der Blonden auf den breiten Steinstufen vor dem Kaufmannsladen begegnete, sah ihr gar seltsam nach. Ei, ei, dachte die Juliska. Und als ihr Hausgenosse eintrat, flüsterte sie ihm spöttisch zu:

»Mehr Würde, Hochwürden!«

* * *

Im Pfarrhof war ein Gast abgestiegen, ein vornehmer, älterer Herr. Es war der Herr Ablegat, der den Bezirk im Reichstag vertrat. Er wollte wieder einmal einen Rechenschaftsbericht erstatten, denn es kam die Zeit der Neuwahl, und da mußte er an sich erinnern. Der Pfarrer Horvat, ein großer Politiker vor dem Herrn, stellte in solchen Fällen stets sein Gastzimmer zur Verfügung. Das sicherte ihm die Verbindung mit einflußreichen Kreisen, und er erhielt seine Berichte über die allgemeine Lage aus erster Hand. Was der Abgeordnete Baron Simonyi, der seine Abstammung von den Urfamilien des Landes ableitete, den Bauern zu sagen hatte, galt dem Pfarrer nicht viel; die Gespräche unter vier Augen enthielten mehr und gaben ein besseres Bild. Ihm genügte Herr von Simonyi schon lange nicht, denn er war kein Kämpfer; er stand untätig abseits im Reichstag, er fühlte sich mehr als Zuschauer der politischen Ereignisse. Eigentlich widerten den Baron die Zustände an, und er hätte am liebsten im Auslande gelebt, auf Reisen, aber die Überlieferung seiner Familie forderte, daß er sich wählen ließ. Von jeher waren die Barone Simonyi im Rate der Nation vertreten, und immer brachte man ihnen das Mandat ins Haus. Sich darum zu bewerden war eine Mode der Neuzeit, der er sich nur widerwillig fügte. So lange man ihm die Sache aber so leicht machte, wie in diesen braven deutschen Bezirken, die an seine Besitzungen grenzten, wollte er ja mittun; doch sobald sein Sohn das vierundzwanzigste Jahr erreicht hatte, sollte nur dieser das Mandat übernehmen.Géza Simonyi war der wüsten, zänkischen Politik überdrüssig und fühlte sich nur noch als Platzhalter alter Überlieferungen gegenüber der neuen Generation. Er war ein Deákist und fühlte, daß er aus der Mode sei. Ändern konnte er seine Überzeugungen nicht.

»Mögen sie machen, was sie verantworten können,« sagte er zum Pfarrer, »ich glaube nicht, daß die Zukunft uns Gutes bringt.«

»Warum nicht?« antwortete Horvat. »Die Jugend wurde nie so national erzogen in Ungarn wie heute, ‚Ungarn war nicht, Ungarn wird sein', sprach einst Stephan Szechényi.«

Ein melancholisches Lächeln umspielte den Mund des Herrn Abgeordneten. »Und er ist wahnsinnig geworden über Kossuths Fanatismus,« sagte Simonyi. »Er billigte nie, was dieser tat. Wirtschaftlich, kulturell prophezeite Szechényi Ungarn eine große Zukunft, nicht politisch … Ich bitte Sie, reden wir nicht davon.. Wir sind ein armes Volk, dem nicht zu helfen ist. Mir graust vor all dem Humbug, der im Lande getrieben wird,« sprach er bitter.

Erstaunt und betreten zog der Pfarrer die schwarzen Brauen hoch. »Und was werden Sie den Bauern morgen sagen, Nagyságos? Großmächtiger Herr

»O, wir sind ja unter uns,« erwiderte Herr von Simonyi. »Den Bauern werde ich sagen, daß ich vieles mißbillige, was geschieht, und daß sie sich weniger um Politik, als um die Bestellung ihrer Felder kümmern sollen und um die Erziehung ihrer Kinder zu braven Menschen. Die Zukunft liegt bei Gott. Unsere beiderseitigen Söhne werden einst abrechnen mit den Überspanntheiten von heute. Sie sollen nur brave Schwaben bleiben; daß sie gute Ungarn, sind, das weiß ohnehin jedermann. So werde ich zu Ihren Bauern sprechen, Hochwürden, die mich kennen und die schon mein Großvater im Reichstag vertrat.«

Jakob Horvat richtete sich hoch auf vor seinem Gaste.

Er lächelte ironisch. »Das dürfte ein wenig veraltet sein, Herr Baron,« sagte er, »aber es wird vielleicht diesmal noch seine Schuldigkeit tun. Künftig nicht mehr. Auch unsere Leute sind wach geworden.«

»Ja, man hat sie gewaltsam aufgerüttelt durch dumme Schulgesetze, durch Ortsnamengesetze und anderen Humbug, der den Frieden stört und die Eintracht im Lande. Ich bedaure das alles. Hat jemand daran gezweifelt, daß wir Magyaren die Herren sind in diesem Lande? Nein! Aber wir wollen es demonstrieren, wir wollen es den Leuten täglich in die Ohren schreien, und wir wollen Europa einen blauen Dunst vormachen. Man soll unserer Landkarte nicht mehr anmerken, daß hier auch andere Völker wohnen. Das ist dumm. Historisch Gewordenes soll man nicht durch politische Kunststücke ändern wollen. Es gelingt ja doch nicht. Die natürlichen Verhältnisse waren immer stärker als die Politiker. Unsere Zukunft ist sehr dunkel.«

»Verehrtester Baron!« rief der Pfarrer, »Sie verlassen unsere Sache?«

Herr von Simonyi blickte überrascht auf, dann sagte er lächelnd: »Wir sind doch unter uns …«

»Wenn auch, wenn auch,« eiferte Jakob Horvat, »wir dürfen nicht so pessimistisch sein. Sie haben gewiß nicht recht … Die Zukunft wäre dunkel, wenn wir nicht vorbauten. Unser Volk ist unfruchtbar, und es will unfruchtbar sein. In dem Komitat blüht das zwei-Kinder-System, in jenem das Ein-Kinder-System, ganze magyarische Dörfer veröden; es gibt keinen Nachwuchs. Aus Furcht vor der Armut dezimieren die magyarischen Bauern sich selbst. Sie haben keinen Raum, sich auszudehnen, der adelige Großgrundbesitz ist überall im Wege.« -

»Erlauben Sie, erlauben Sie, da hat die Kirche einen redlichen Anteil daran!«

»Ja, Herr Baron, auch diese. Unser Volk hat nicht den Mut zur Vermehrung, weil es nicht den Mut hat zum Kampf ums Dasein, weil es adelig leben und wenig arbeiten will.«

»So ist es!«

»Darum«, so fuhr der Pfarrer eifrig fort, »müssen wir immer mehr aus dem Volksüberschuß der anderen schöpfen. Aus 80 000 Schwaben, die hier im Süden einst angesiedelt wurden, sind im Laufe von 170 Jahren mehr als 500 000 geworden. Das blüht und lebt, arbeitet wie das liebe Vieh und ist wohlhabend. Der dörfliche Volksüberschuß studiert, wird vom deutschen Bauern abgestoßen und geht ins Land hinaus; dort aber wird er in unsere Intelligenz eingeschmolzen. Nie hört man, daß mehr Deutsche in Ungarn werden, immer bleiben es beiläufig zwei Millionen, weil wir die Kraft haben, ihre Blüte zu brechen, sie zu magyarisieren. Wir sind nicht schwach, Nagyságos, wir sind stark.«

»Sie mögen recht haben, Hochwürden, aber das wird anders werden. Was in die Mode kommt, kommt aus der Mode. Unsere ganze Gentry, die einst auf eigenem Grund und Boden saß, ist entwurzelt, verarmt, und sie flüchtet sich in die Beamtenschaft. Sie überschwemmt alle politischen Berufe, lernen aber will sie nichts. Es wird künftig kein Platz mehr sein an der Staatskrippe für die anderen. Unser Kleinadel frißt die Stellen, die man sonst den Renegaten gab … Glauben Sie mir, es wird anders werden! Unsere Volkszahl geht zurück, unser Wohlstand ist schon zurückgegangen; wir leben alle über unsere Kraft, der Staat und jeder Einzelne. Ämter, Ämter will unsere Gentry, und jede Partei versorgt sie; aber sie ist einsprachig, sie akkommodiert sich nicht, und sie ist heute unfähig, diesen Völkerstaat zu verwalten … Wir sind ja hier unter uns, Hochwürden, und ich sage Ihnen: hauptsächlich unser Beamtenadel ist es, der die Nationalitäten durch seinen Hochmut aufpeitscht. Die Urbanität von einst ist tot, man kennt kaum noch das Wort; mit nationalem Dünkel aber regiert man kein solches Land. Ich sehe die Zukunft schwarz. Ungarn wird sein, gewiß, aber es wird anders sein, als die Herren glauben.«

Wie ein Fanatiker warf Jakob Horvat den Kopf zurück. »Nein, nein, wir sind auf gutem Wege, nur wünsche auch ich, daß wir klüger seien und vorsichtiger,« sagte er. »Das nächste Geschlecht wird schon stärker sein, als wir es waren, und das zweitnächste wird siegen. Der Unabhängigkeitsgedanke muß schließlich triumphieren, aus dem Völkerstaat Ungarn muß der Nationalstaat Madjarien werden. Wenn es möglich war, daß aus den drei Millionen Madjaren von Anno 1830 acht und neun Millionen geworden sind, dann ist auch die Möglichkeit gegeben, daß aus diesen neun Millionen in weiteren achtzig oder hundert Jahren achtzehn oder zwanzig Millionen werden. Wir brauchen nur fest hineinzugreifen in den Volksüberschuß der anderen … Wir sind unter uns, Herr Baron. Nun denn: ein Statistiker hat einmal berechnet, daß wir in den letzten hundert Jahren allein durch Übertritte etwa zweieinhalb Millionen Seelen gewonnen haben. Das zeigt den Weg unserer Zukunft. Der Aufsaugung der Intelligenz aller anderen Völker muß auch die der Volksschichten folgen. Die Kindergärten und Volksschulen bereiten diese Assimilierung Schritt für Schritt vor. Man darf uns nur nicht stören; ein halbes Jahrhundert noch muß man uns Zeit lassen, dann ist das Kulturwerk nicht mehr zurückgängig zu machen.«

»Und wozu?« seufzte der Baron. »Wozu – wenn mir dann dem Blute nach doch keine Magyaren mehr sind?«

»Es ist eine Machtfrage, sonst nichts. Es zeigt, wie Nationen entstehen und groß werden. Denn so sind sie immer entstanden, die Stärkeren haben immer die Schwächeren in sich aufgenommen. Ungarn war nicht, Ungarn wird sein! Es wird zwanzig Millionen Magyaren zählen, wird die Südslawen beherrschen und den Balkan und künftig einmal an drei Meere grenzen.«

»Hahaha! Hahaha! Und Österreich?«

»Interessiert uns nicht. Hört an der Leitha auf.«

»Und die Dynastie?«

»Wird sich bei uns madjarisieren und drüben slawisieren,« entgegnete Horvat hart und bestimmt.

»Hochwürden, ich beneide Sie um ihren nationalen Spleen. Verzeihen Sie, aber den haben Sie, so gut wie einer. Mir fehlt dieser Glaube, dieser fanatische Optimismus. Ich habe oft schlaflose Nächte, in denen ich schwören möchte, daß es in fünfzig Jahren gar keinen ungarischen Staat im heutigen Sinne mehr gibt.«

»Sie sind der einzige Ungar, Baron, der das denkt! Ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Mag sein. Wir sind ja unter uns … Wollen mir nicht abbrechen?« entgegnete Simonyi müde und gelangweilt.

»Bitte sehr, Nagyságos! Meine Nichte wird ja schon ungeduldig sein. Lassen wir die Jugend herein!«

Und er öffnete die Tür, hinter der das Fräulein Juliska mit dem Kaplan plauderte und kicherte, während die Klarinéni den Tisch bereitete für das Abendessen.

Der Gast war plötzlich wie verwandelt. Er begrüßte das Fräulein ritterlich wie ein jugendlicher Lebemann und führte ein neckendes Gespräch mit ihr; er schüttelte auch dem Kaplan die Hand, freute sich über das schöne Ungarisch, das beide sprachen, und das man nicht voneinander zu unterscheiden vermochte, obwohl der Michlbach ursprünglich doch ein Schwabe sein mußte.

»Das war einmal, Herr Baron!« rief der Pfarrer. »So einheitlich, wie die beiden, geht jetzt die Jugend aus unseren höheren Schulen hervor; die französischen Schwestern vom Sacré Cœur in Preßburg erziehen Madjarinnen, und das bischöfliche Seminar in Temesvar tut dasselbe. Ehemals deutsche Städte tun das für uns. Sie werden doch an die Stärke unserer Kultur glauben müssen, Nagyságos!«

»Ja, wenn man solche Produkte sieht …« Und der elegante alte Baron verschlang das junge Mädchen mit den Augen. Er kannte Mêre Maria Gilm in Preßburg, die greise Oberin vom Sacré Cœur. Und es erschien ihm in diesem Augenblick so seltsam, daß auch sie, die Schwester eines bedeutenden deutschen Dichters, die Oberin eines in Frankreich wurzelnden Ordens, in ihren alten Tagen dahin gekommen war, die ihr anvertraute weibliche Jugend in madjarischem Geiste zu erziehen. Genau so wie der Bischof von Temesvar, der ein geborener Schwabe war, madjarische Kleriker zu Hunderten heranbildete. Der Baron hatte darüber seine eigene Meinung, aber er behielt sie für sich. Er wurde stets an den alten Haß der römischen Kirche gegen die deutsche Reformation erinnert, wenn er die vielen entnationalisierten deutschen Priester im Lande sah. Die Slowaken, die Rumänen, die Serben, die Madjaren besaßen eine für ihr Volkstum begeisterte Geistlichkeit; die katholischen deutschen Pfarrer waren sämtlich volksfremd. Wie kam das? Er fragte sich's oft. Aber was ging das ihn an?

»,Nun wohl, die Macht ist unser, mißbrauchen wir sie!' könnte man da ausrufen«, sagte der Baron ironisch zum Pfarrer und wandte sich wieder an Juliska. Ob sie vielleicht musikalisch sei und singen könne, wollte er wissen, und sie bejahte es freudig. Er höre so gerne ein Chanson, wie die Yvette Guilbert sie singe, oder sonst etwas Modernes.

Juliska errötete. Sie kannte wohl ein Lied der Guilbert, aber sie hätte nicht gewagt … Und sie redete französisch mit dem Baron, was die anderen nicht verstanden, und sang ihm das Lied. Sie trug es vor mit all dem Charme ihrer achtzehn Jahre und mit einem Talent, das den Baron entzückte. Man hatte so unheilige Strophen in diesem Hause nie gehört, und Juliska gestand, daß sie das nur heimlich gelernt hätten im Kloster. O weh, wenn die Mêre Maria das geahnt haben würde!

Der Pfarrer war stolz darauf, daß seine Nichte eine französische Konversation führen und ein französisches Lied singen konnte, und der Kaplan hörte stumm und verzückt zu, wie das Sprühteufelchen lachte und lockte, schmeichelte und flirtete, wie sie keck tat, pikant das Röckchen hob und mit frommem Augenaufschlag wieder alles von sich abstreifte, was dieses fremde Lied ihr zugemutet haben mochte. Denn das witterte der Kaplan, daß dieses Chanson nicht ganz zimmerrein war. Nur der Pfarrer merkte nichts, und der Klarinéni, die unter der Tür lehnte, mit offenem Munde zuhörte und bestaunte, was ihre Tochter konnte, kam kein Gedanke an den etwaigen Inhalt des Liedes.

Der Herr Ablegat führte die hübsche Sängerin zu Tisch und redete kein Wort mehr von Politik und ungarischer Kultur; er erzählte von Paris und der großen Welt, von Nizza und Monte Carlo. Und auch von Wien und seinem Kunstleben, von Bayreuth, das er sehr liebte und wo er nie fehlte, sprach er. Er kannte alles, hatte alles gesehen und gehört und wurde nicht müde, Erlebnisse und Anekdoten zum besten zu geben, um den kleinen Kreis zu erheitern, der ihn da umgab. Niemand hätte in ihm einen Mann vermutet, der gekommen war, seinen Wählern von der Tätigkeit des ungarischen Reichstages zu erzählen, einer Sache, die diesem internationalen Geiste im tiefsten Grunde fremd und widerwärtig sein mußte. Denn dieser Mann suchte offenbar Freude und Schönheit im Leben, und die politischen Leidenschaften besaßen nicht sein Herz. Plötzlich wurde er an seine Abgeordnetenwürde erinnert.

Vor dem Pfarrhause draußen war es lebendig geworden; man hörte Tritte und leise Stimmen. Und jetzt erscholl Gesang.

»Ein Ständchen für den Herrn Baron!« rief die Klarinéni und eilte, die beiden Fenster zu öffnen.

Ein schönes, etwas schwermütiges madjarisches Lied wurde da draußen von hellen Knabenstimmen gesungen, und der Baron schaute den Pfarrer erstaunt und fragend an. Dieser verstand ihn.

»Ja, Nagyságos‚« sagte er, »das sind unsere Schwabenkinder! Es ist die Klasse des Herrn Halmos!«

Und er drängte den Baron zum Fenster hin und zeigte sich an seiner Seite. Das andere Fenster besetzten die Frauen und der Kaplan.

Der Baron verneigte sich und winkte den Sängern dankend zu, als sie das erste Lied beendet hatten. Mittlerweile waren viele Zuhörer auf der Gasse zusammengelaufen, und es stieg ein zweites und drittes Lied. Dann brachte der Lehrer Halmos, der sich als Dirigent sehr bemerkbar machte, ein dreimaliges »Éljen!« auf den Herrn Abgeordneten aus, in das nicht nur die jugendlichen Sänger, sondern auch die Zuschauer einstimmten.

Lebhaft angeregt dankte der Baron den braven Kindern für die Überraschung und die Freude, die sie ihm bereitet hätten. Und auch ihrem Lehrer, der sie so schöne patriotische Lieder gelehrt, sprach er seinen Dank aus.

Wieder erbrauste ein »Éljen«. Und jetzt wollte der Baron sich zurückziehen; nun erscholl aber das Kossuthlied … Hell und schmetternd sangen es die schwäbischen Knaben in die dunkle Nacht hinaus und marschierten langsam weiter. Sie schwenkten die Hüte und defilierten vor dem Ablegaten; in der Ferne verhallte das trotzige Lied.

Man ging zu Tisch und war sehr angeregt durch die abendliche Episode. Nur der Baron schien nachdenklich, er schwieg.

»Das hat der Halmos famos gemacht!« meinte der Kaplan Michlbach.

»Und verstehen diese Knaben, was sie singen?« fragte nach einer Pause der Baron.

»Kein Wort!« rief munter das Fräulein Juliska. »Es sind lauter Papperln!« Papageien.

Ein böser Blick des Pfarrers traf sie. »Du irrst s« rief er. »Wir sind heute weiter in der Volksschule als zu deiner Zeit.«

Es entstand wieder eine Pause. Der Baron zuckte mit den Achteln. »Seltsam, diese Schwaben … Meine Slowaken täten das nicht«, sagte er.


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