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ZEHNTES CAPITEL. DER 18. JANUAR.

»Der achtzehnte Januar,« flüsterte der greise Seltsam mir zu, als er nach einer wahrhaft rührenden Aeußerung der Freude über das Wiedersehen uns in eine nach dem See hinaus liegende geräumige Halle führte; »der achtzehnte Januar,« wiederholte er geheimnißvoll, indem er mir behülflich war, das verhangene Bild in einen schattigen Winkel zu stellen; »derselbe Himmel und dieselbe Kälte, wie vor achtzehn Jahren. Auch damals wollte der Schnee nicht vom Himmel herunter; es stäubten nicht mehr Flocken, als heute, und beinahe um dieselbe Stunde ist es auch.«

Mein Vater und Will o' the Wisp waren an eins der Fenster getreten, von welchem aus man den mit einer spiegelglatten Eislage bedeckten See zu überblicken vermochte. Seit wir den Hof betraten, war kein Wort über meines Vaters Lippen gekommen. Stumm hatte er dem alten Kutscher die Hand gedrückt, dann aber waren seine Bewegungen gewissermaßen nur noch mechanische gewesen. Die ihn mit unwiderstehlicher Gewalt bestürmenden Empfindungen machten ihn unfähig, selbst zu handeln und anzuordnen. Es ruhte daher Alles in meinen Händen.

»Recht verändert hat sich der muntere Herr Willibald,« fuhr Seltsam flüsternd fort, aber noch immer ein schöner Mann. Und dann das Kind, die junge Martha – daß Gott sie segnen und Alles zu einem guten Ende führen möge. Ich ahnte, wie's kommen würde, als plötzlich die ausländische Nation von hier verschwand und der Candidat vor Unruhe nicht wußte, wohin überall er reisen und schreiben sollte. Und als er dann selber das Weite suchte, da begleitete Fräulein Thekla ihn nicht einmal bis an die Thür. Ich fuhr ihn zur Stadt; aber würgen hätte ich ihn unterwegs mögen, denn er allein war es, welcher das Unglück über unser Haus brachte, und noch in letzter Zeit muß sehr Böses vorgefallen sein, denn eine Freundschaft, welche so viele Jahre überdauerte, reißt nicht auf den ersten leichten Schlag.«

Es klingelte in der Vorhalle.

»Das gilt mir,« versetzte Seltsam lauter, als mein Vater sich erschreckt umkehrte, »Herr Wilibald werden gebeten, mit Fräulein Tochter ein Weilchen hier zu verziehen; zuvörderst soll ich den jungen Herrn hinaufführen.«

Als sei ihm diese neue Zögerung willkommen gewesen, warf mein Vater sich wie erschöpft auf einen Stuhl. Mit Will o' the Wisp wechselte ich einen Blick der Ermuthigung, dann folgte ich meinem Führer klopfenden Herzens nach.

Zu meinem Erstaunen schlug er, nachdem wir in's zweite Stockwerk hinaufgelangt waren, die Richtung nach dem Flügel ein, in welchen vor Jahren der Schloßherr mich führte und wo die Haushälterin uns überraschte. Anstatt durch den Ahnensaal erreichten wir indessen auf einem anderen Wege die alte Zechhalle. Kaum war ich eingetreten, als Seltsam von meiner Seite verschwand und hinter mir die Thür zufiel. Vor mir aber stand das Burgfräulein, mit der linken Hand sich auf den großen, von der Zeit gebräunten Tisch stützend, in der niederhängenden rechten dagegen, zwischen den krampfhaft geschlossenen Fingern einen knitternden Brief.

Ehrerbietig verneigte ich mich, dann sah ich in das immer noch schöne bleiche Antlitz, welches in seiner Regungslosigkeit sich kaum von dem einer Todten unterschied.

»Wilibald,« tönte es mir auf meinen Gruß kalt entgegen, und doch lag in dem Namen selbst eine gewisse Beruhigung. »Wilibald, einen schweren Kampf kostete es mich, diese Unterredung herbeizuführen; allein es muß sein. Männer werden nicht geboren, sondern erzogen; aus der Schule des Schicksals gehen oft genug die besten hervor. So liegen auch hinter Dir Erfahrungen, welche gestatten, daß ich zu Dir, wie zu einem gereiften Manne spreche. Erklärungen über alle Verhältnisse, welche Dir nothgedrungen räthselhaft erscheinen müssen, kannst Du von mir nicht erwarten; denn in fast jedes Menschen Leben giebt es Dinge, welche am besten der Vergessenheit anheimfallen. Frage mich daher nicht, sondern begnüge Dich mit dem, was ich Dir zeige. Gebrauche Deine Augen, laß Deinen Scharfsinn walten, entwerfe Dir Bilder von Allem, vergiß aber nie, daß es die Schwester Deiner eigenen Mutter, zu welcher Du sprichst, daß Du in ihr das Andenken derjenigen entweihst, welche nur als ein Engel der reinsten Unschuld Deinem Geiste vorschweben darf.«

Sie zögerte, bis ich, überwältigt durch den tiefen, feierlichen Ernst ihres Wesens, durch eine zustimmende Verneigung geantwortet hatte; dann nahm sie einen auf dem Tische liegenden unscheinbaren Gegenstand, und mir denselben darreichend, fragte sie ruhig:

»Kennst Du dieses?«

»Das Monogramm!« rief ich erstaunt, sobald ich meine Blicke auf das nur wenige Quadratzoll haltende Stückchen bemalten Baumwollstoffes geworfen hatte, welches augenscheinlich aus einem der von meinem Vater angefertigten Fenstervorhänge ausgeschnitten worden war.

»Das Monogramm,« wiederholte Thekla, ihre Augen auf Secunden mit der Hand beschattend: »ja, das Monogramm, welches Dir als Wegweiser diente. Dasselbe Monogramm, ich sah es unter manchen, der Hand des Künstlers würdigeren Werken; aber das ist sehr, sehr lange her.« Sie lachte bitter, und ich traute meinen Sinnen kaum, als sie mir die kleine Photographie des Apostels Johannes darreichte. Es war das Bild, welches ich kurz vor meinem Scheiden, in Ermangelung eines anderen Portraits, auf sein unablässiges dringendes Bitten dem getreuen Bechler schenkte. Der Schnitt durch die Stirne gestattete keinen Zweifel.

Bevor ich Worte fand, gab Thekla mir den Brief, welchen ich bei meinem Eintritt bemerkt hatte.

»Lies,« sprach sie strenge, »lies und erkläre Dir Alles nach besten Kräften; es kann Dir nicht schwer werden, die Räthsel zu lösen, allein enthalte Dich, aus Rücksicht für mich, aller darauf bezüglichen Aeußerungen.«

»Hochwohlgeborenes Fräulein!« begann der Brief in einer mir bekannten Handschrift. »Mit vieler Mühe und durch List gelang es mir, Ihre werthe Adresse von meinem Freunde Indigo zu erfahren. Seine Geschichte ist mir nicht ganz fremd; ich bin sogar ein Mitarbeiter an derselben. In seiner Gutmüthigkeit händigte er alle Briefe eines gewissen Leise den hiesigen Jesuiten aus. Nichts behielt er, als beifolgende Photographie, welche er in seiner Einfalt ebenso gut jedem Andern, wie mir geschenkt hätte. Der Strich durch den Kopf bedeutet: ›In's Irrenhaus mit ihm!‹ und einem Wunder ist es zu verdanken, daß er heute nicht zu den Verrückten zählt. Ein Monogramm, frisch ausgeschnitten aus einem neuen Fenstervorhang, lege ich ebenfalls bei. Die Bedeutung werden Sie errathen. Mein Freund Indigo gedenkt, Sie zu überraschen; allein da den Herren Jesuiten ebenfalls nicht fremd ist, daß ein per Dampf beförderter Brief schneller reist, als ein nicht allzuschnelles Segelschiff, sie also vor seinem Eintreffen neues Unheil angestiftet hätten, so wähle ich diesen Weg, den guten Leuten zuvorzukommen, und meinem theuren, ehrenwerthen Freunde bei Ihnen einen guten Empfang zu bereiten. Ich schließe, um nicht eine andere Ihnen zugedachte freundliche Ueberraschung zu verderben. Betrachten Sie nur das Monogramm und denken Sie dabei an schöne, weißgelockte alte Herren und an noch schönere junge Mädchen. Sehr dankbar wäre ich Ihnen, erführe mein Freund Indigo – sollte ich einen neuen Namen für ihn erfinden, würde ich ihn Wilibald Zäuner nennen – erführe mein Freund Indigo nichts von diesem Schreiben. Mit vorzüglichster Ehrerbietung, Hochwohlgeborenes Fräulein, Ihr gehorsamster Ferdinand Bechler. Vorläufig noch Vertreter der Firma O'Cullen.

Nachschrift. Sollte ein gewisser Candidat Leise Amerika besuchen – plenty Raum hier für solch' Gelichter – würde ich mich unendlich freuen, ihn persönlich kennen zu lernen.«

Der alte professionirte Philanthrop! Wie er sich, während ich das wunderliche, von einer glücklichen Redseligkeit zeugende Schreiben las, in meinem Geiste verkörperte! Wie er sich wohl bekämpfte, das Geheimniß meiner Vereinigung mit Vater und Schwester nicht zu ausführlich zu verrathen; und wie er auf der andern Seite wieder mit listiger Berechnung gerade das richtige Mittel wählte, die letzte Möglichkeit erneuter feindlicher Nachstellungen zu vernichten. Er selbst ahnte schwerlich, wie groß der Dienst, welchen er mir durch sein Vorgreifen leistete. Ob ein wirklicher Bruch zwischen Thekla und dem Candidaten stattgefunden hatte, suchte ich nie zu ergründen, wohl aber durfte ich jenen Brief als Ursache der beschleunigten Abreise desselben betrachten.

Als ich den Brief, nachdem ich ihn gelesen hatte, Thekla zurückgab, mochte sich in meinen Zügen ausprägen, daß die jüngsten Ereignisse, namentlich unsere Aufnahme im Schloß, nicht länger mich befremdeten; denn ohne weiter auf den Inhalt des Schreibens einzugehen, trat sie an mir vorbei vor den Pfeiler hin, dessen Pforte sie alsbald öffnete. Vor uns lag die nach dem Dache hinaufführende Treppe; anstatt aber dieselbe zu ersteigen, zog sie aus einer kleinen Mauernische einen gewundenen fernen Handgriff, welchen sie auf der Innenseite dicht neben dem Thürpfosten auf eine kaum bemerkbare Schraubenmutter fügte. Es war dies die Hauptaxe eines nach unten wirkenden Räderwerkes, welches hinter der Verkleidung der Thürnische verborgen war. Indem Thekla mit anscheinend geringer Mühe den Griff drehte, wich vor der untersten Stufe die auf einer Holzscheibe ruhende Pflasterung seitwärts in die Mauer hinein, und andere, nach unten führende Stufen wurden sichtbar. Eine in der Nische stehende Blendlaterne zündete sie an, dann mich auffordernd, ihr zu folgen, stieg sie in die Tiefe hinab.

Gegen vierzig schmale, jedoch nicht unbequeme Sandsteinstufen hatten wir zu überwinden, bevor wir zwischen die Fundamentmauern des Schlosses hinabgelangten. Wohin die Wendeltreppe führte, ich wußte es; aber heimliche Scheu erfüllte mich, indem ich zu enträthseln suchte, was Thekla dazu bewegte, mir den Weg zu einem Winkel zu zeigen, welcher bisher vor jedem menschlichen Auge strenge verheimlicht worden war. Unten endigte die Treppe in einen schmalen Gang. Wenige Schritte legten wir in demselben zurück; dann stieß meine Führerin eine eisenbeschlagene, mit dickem Rost überzogene Thüre auf, und in den vor uns liegenden Raum hineinleuchtend, seufzte sie kaum vernehmbar: »Wir sind zur Stelle.«

Wir befanden uns in der That in der unterirdischen Kapelle, oder vielmehr in dem versteckten Raume, welcher einst von dem verkappten Jesuiten zu einer Stätte heuchlerischer Frömmigkeit und die Vernunft untergrabender Bußübungen hergerichtet worden war. Doch indem Thekla den Schein der Laterne im Kreise herumgleiten ließ, entdeckte ich nichts mehr von dem düsteren Glanze, welcher mich einst blendete. Die Wände zeigten rauhes trockenes Mauerwerk. Zerfetzte Zeugstreifen, welche hier und da von Nägeln niederhingen, bekundeten, daß die Stoffe, mit welchen sie überzogen gewesen, vor Kurzem erst gewaltsam entfernt worden. Auf der Stelle, wo früher der Altar gestanden hatte, erblickte ich ein rohes, käfigartiges Lattengebäude mit darüber hingelegten schmalen Brettern. Eine ungeübte Hand hatte Alles zusammengefügt gehabt, alle Mängel und Fehler sinnig verdeckend mittelst faltig geordneter Zeuge. Eine erstickende, übelduftende Atmosphäre herrschte in dem abgeschlossenen Raume; durch nichts mehr erinnerte er an die hier verübten Gotteslästerungen, durch nichts an die unzähligen Seufzer und Klagen, welche mit teuflischer Berechnung verzweifelnden, in unsäglichen Seelenqualen sich windenden mißleiteten Gemüthern erpreßt wurden.

Bis in die Mitte des fluchbeladenden düsteren Raumes vorschreitend, leuchtete Thekla auf eine Anhäufung von Asche nieder. Reste eines Goldrahmen und halb verkohlte Tressen und Silberstickereien ragten hin und wieder aus derselben hervor. Mit einem einzigen Blick erfaßte ich Alles. Ein Charakter, wie der Thekla's, kannte keine Mittelstraße. Von der einen äußersten Grenze nach der andern begab sie sich und finsterer Entschlossenheit hinüber; unter ihrer eisernen Willenskraft erstickte das beschämende Gefühl, von einem elenden Verbrecher als Spielball, als ohnmächtiges Werkzeug zu den verwerflichsten Zwecken benutzt worden zu sein.

Ein Weilchen standen wir einander gegenüber, zwischen uns den Aschenhaufen. Die Blicke zu meiner Führerin zu erheben, wagte ich nicht.

»Begreifst Du, was hier geschah?« fragte sie endlich leise, wie von Besorgniß erfüllt, ihre Worte könnten über die uns umschließenden Mauern hinausgetragen werden.

»Ich errathe es,« antwortete ich dumpf.

»Gut,« versetzte Thekla, indem sie sich dem Ausgange zukehrte, »in einsamen Stunden wirst Du darüber nachdenken; was aber das Resultat Deiner Betrachtungen sein mag, ich fordere von Dir, die hier empfangenen Eindrücke nie zwischen uns zur Sprache zu bringen.«

Ohne meine Erwiderung abzuwarten, begann sie die Treppe zu ersteigen und bald darauf trat ich wieder in das alterthümliche Zechgemach ein. Thekla blieb auf der Schwelle der Pforte stehen, die Drehscheibe in ihre alte Lage zurückschraubend.

»Wenn Deine Zeit da ist, wirst Du den Canal sammt den anstoßenden Räumlichkeiten zuschütten lassen,« bemerkte sie ausdruckslos, »auf dem See sind Fischlöcher in's Eis gehauen worden, wohl geeignet, diesen Schlüssel,« und sie hob die gewundene Handhabe empor, »der Tiefe zu überantworten. Durch Nichts will ich an Geschehenes erinnert werden.«

Auf demselben Wege, welchen wir gekommen waren, begaben wir uns in ein Vorzimmer des Ahnensaals. Zu meiner Ueberraschung erblickte ich meinen Vater und Martha. Kurz vor unserem Eintreffen waren sie von Seltsam dorthin geführt morden. Bei meinem Erscheinen leuchtete helle Freude in ihren Zügen auf, um indessen bei Thekla's Anblick sogleich wieder in einen Ausdruck besorgnißvoller Spannung überzugehen. Die Begrüßung zwischen Thekla und ihnen beschränkte sich auf leichte äußere Formen. Der Ernst der Stunde lastete schwer auf Allen. In der Hast aber, mit welcher Thekla die nach dem Saal führende Thür öffnete, verrieth sich das Verlangen, eine Scene zum Abschluß zu bringen, deren sie bisher vielleicht nur unter bangen Zweifeln gedachte.

Anstatt einzutreten, blieb sie auf der Schwelle stehen, durch eine Handbewegung die Richtung unserer Blicke lenkend.

Vor uns lag die Hauptwand des Saales mit der doppelten Reihe der nach den verschiedenen Zeitabschnitten geordneten Ahnenbilder. Die geharnischten Herren mit den steifen Halskrausen, und die Damen mit den helmartigen Hauben schienen nachdenklich auf eine gebeugte Greisengestalt niederzuschauen, welche, uns den Rücken zukehrend, auf einem der von der Tafel fortgerückten Stühle saß und die Blicke starr auf die Wand gerichtet hielt. Sogar meine Schwester erkannte ihn, so genau hatte ich ihn geschildert, den greisen Schloßherrn in seinem Sammetpelz und dem Sammetkäppchen. Indem wir aber unsere Aufmerksamkeit dem von ihm betrachteten Bilde zukehrten, blickten wir wiederum in ein uns Allen vertrautes, unbeschreiblich liebliches Antlitz. Es war dasselbe Antlitz, welches in Jugendfrische die erste Seite meines Skizzenbuches schmückte, dasselbe Antlitz, welches auf dem noch unten befindlichen Gemälde die Spuren der erstarrenden Hand des Todes trug. Es war das Portrait, welches einst dadurch meine Neugierde erregte, daß es schwarz verhangen war, dessen Augen ich aber flüchtig sah und deren Blick seitdem unauslöschlich in meiner Seele haften geblieben. Es war das Portrait der armen Martha, der Gattin meines Vaters, meiner und Will o' the Wisp's im Elend gestorbenen Mutter; ein Portrait, gemalt in goldenen, glücklichen Zeiten. –

Der Anblick des Bildes und des vor demselben sitzenden hinfälligen Greises war ein überwältigender. Bevor indessen meine Fassung zurückkehrte, tönte eine matte Stimme durch den weiten Raum.

»Thekla, bist Du es?« fragte der greise Schloßherr, ohne seine Blicke von dem Portrait abzuziehen.

»Ich bin es, Vater,« antwortete die Angeredete milde, und indem ich sie verstohlen ansah, entdeckte ich, daß ihre Lippen convulsivisch zitterten.

»Ist es kalt draußen?« fragte der alte Herr weiter.

»Sehr kalt,« hieß es eintönig zurück.

»Es schneit?«

»Nur vereinzelte Flöckchen wirbeln in der Luft.«

»Gerade wie vor achtzehn Jahren am achtzehnten Januar. Dasselbe Wetter kehrt wieder, allein der Unglückstag selber entfernt sich weiter und weiter.«

»Es ist der Weg aller Dinge, und dennoch erleben wir Vergangenes oft zum zweitenmale in unseren Träumen, nur daß die Träume weniger unfreundlich, als einst die Wirklichkeit.«

»Oder auch schrecklicher,« seufzte der Greis.

»Mir erscheint die arme Martha jetzt häufiger, als sonst,« nahm Thekla mit eigenthümlich gepreßter Stimme wieder das Wort, »an der einen Hand führt sie ein junges Mädchen, an der andern einen jungen Mann. ›Das sind meine Kinder,‹ spricht sie zu mir, ›nimm sie und führe sie unserem Vater zu. Bitte in meinem Namen um seine Liebe für sie –‹«

»Warum marterst Du mich mit Visionen?« fiel der alte Herr klagend ein.

Thekla antwortete nicht, sondern meine und Will o' the Wisp's Hand ergreifend und unserem Vater winkend, zu folgen, führte sie uns zwischen das Bild und den Schloßherrn.

»Hier sind sie, Vater,« entwand es sich kaum verständlich ihren bebenden Lippen, »nimm sie hin, Deiner armen Martha Kinder; hier eine neue Martha, und hier Deinen Enkel Wilibald. Du zweifelst vielleicht noch,« fuhr sie etwas lebhafter fort, als ihr Vater bald mich, bald meine Schwester mit verstörten Blicken, wie nach Klarheit des Geistes ringend, ansah, »aber frage die Züge des Bildes dort, und siehe, ob Du sie wiederfindest in dem Antlitz Deines Enkels; und betrachte Deine Enkelin und dann wieder – ihn, welchem die arme Martha folgte –«

»Zäuner!« rief der Schloßherr mit ergreifend schmerzlichem Ausdruck aus, als nunmehr mein Vater vor ihn hintrat, »Zäuner!« und indem er versuchte, sich zu erheben, sank er wieder kraftlos auf seinen Stuhl zurück, »warum haben Sie mir das gethan? Warum säumten Sie bis heute?«

Dann breitete er seine Arme aus, und zuerst meine Schwester und dann mich zu sich niederziehend, erstickte, was er weiter sagen wollte, in der krampfhaften Zärtlichkeit, mit welcher er uns an sich preßte.

Wie ein Traum liegen jene Minuten vor mir. In ihnen drängten sich eine Welt der Wehmuth, eine Welt inneren Friedens und reinen Glückes zusammen. Woher soll ich die Worte nehmen, jene Minuten zu schildern? Wie über weite Klüfte und Abgründe fort neigten die Herzen einander sich zu, verschmolzen sie gleichsam in einander!

Mein Vater und Thekla standen abseits. Trockenen Auges, aber sichtbar gegen heftige Gemüthsbewegungen ankämpfend, beobachteten sie die sich vor ihren Blicken entwickelnde Scene. Wie um neue Kräfte zu sammeln und sich in seinen Entschlüssen zu stählen, starrte mein Vater zuweilen zu dem von ihm selbst gemalten Portrait empor. Er mochte der Zeiten gedenken, in welchen die arme Martha ihm wirklich so holdselig zulächelte, des achtzehnten Januars, an welchem sie von ihres Vaters Thür grausam fortgewiesen wurde, und endlich der elenden Torfhütte, in welcher ein treues Mutterherz in Verzweiflung brach. Wie ihr Todesurtheil von ihm erwartend, suchten Thekla's Augen scheu sein Antlitz. Jedes leise Zucken desselben beobachtete sie angstvoll. Endlich seufzte sie tief auf. Ein letzter Entschluß war in ihr zur Reife gelangt.

»Herr Wilibald,« sprach sie mit fester Stimme, »an Ihnen ist es, dieser Stunde eine ernste Weihe zu geben. Das Bild bringen Sie uns, das Bild und vollenden Sie ein Werk, an welchem Sie so lange mit unermüdlichem Fleiße und eisernem Willen schafften.«

Ich erschrak. Es erwachte der Argwohn, daß Thekla diese Aufforderung nur in der Absicht an meinen Vater richtete, um im letzten entscheidenden Augenblick dennoch alle eben erst in's Leben tretenden Hoffnungen unheilbar zu zertrümmern. Aber auch in den Zügen meines Vaters las ich eine Unheil verkündende Entschlossenheit; zu gewaltig war er durch den Anblick des Portraits und des greisen Schloßherrn an seinen in der Torfhütte abgelegten Schwur erinnert worden. Verzweiflungsvoll suchte ich seine Augen. Er vermied offenbar mit Ueberlegung, den Blicken seiner Kinder zu begegnen. Einige Secunden sah er forschend in Thekla's Augen, dann entfernte er sich festen Schrittes.

Ich rief ihm nach.

Er hörte nicht.

»Er wird bald wiederkehren,« antwortete Thekla auf die ängstliche Frage ihres Vaters, der uns noch immer hielt. Dann starrte sie in's Leere. Ihr Antlitz konnte nicht bleicher werden; aber ihre Lippen erhielten eine bläuliche Farbe, und wie gegen eine Ohnmacht kämpfend, stützte sie sich auf einen in ihrer Nähe befindlichen Stuhl.

Für mich und für sie verrannen furchtbare Minuten. Erschienen mir doch als unverständliches Gemurmel die zärtlichen Worte und Schmeicheleien, welche der, mit fast kindlicher Neugierde Will o' the Wisp betrachtende Greis an seine Enkelin richtete. Hätte er meine Hand nicht so fest umspannt gehabt, ich wäre meinem Vater nachgeeilt, um ihn zu warnen vor einem Verfahren, welches uns Allen verhängnißvoll zu werden drohte.

Endlich unterschied ich seine Schritte wieder und neue Hoffnung durchströmte mich. Er kam allein; um das Bild zu tragen, hätte er des alten Seltsam Hülfe in Anspruch nehmen müssen.

Mit sicheren Bewegungen, wie er den Saal verlassen hatte, trat er ein. In der Hand hielt er das Brustbild der todten Martha, welches er mitten aus dem Gemälde herausgeschnitten hatte. Durch nichts wurde die letzte Umgebung der armen theueren Dulderin angedeutet. Die über das schöne Antlitz hingehauchte matte Beleuchtung des nunmehr abgetrennten Herdfeuers verlieh demselben sogar den Charakter einer friedlich Schlummernden, welche, in Kummer und Gram versenkt, süßen Trost in holden Träumen findet.

Einen Blick warf der alte Herr auf das Portrait; dann ergriff er es mit beiden Händen, und es vor sich haltend, betrachtete er es lange und mit sichtbar wechselnden Empfindungen. Er konnte nur glauben, daß es allein zu dem Zweck angefertigt worden, ihm eine letzte Freude zu bereiten. Seine Gedanken waren getheilt zwischen der verklärten Tochter und demjenigen, der in treuer Fürsorge gleichsam deren letzte Athemzüge nach dem elterlichen Hause trug, im Bilde ihren letzten Hauch in des Vaters Hände zurückgab.

Meine Schwester und ich hatten uns erhoben und waren zur Seite getreten. Da lenkte eine Bewegung unsere Aufmerksamkeit auf Thekla. Wo sie die schmerzlichsten, die furchtbarsten Eindrücke erwartete, hatte der Engel des Friedens die tiefen Klagen eines wild und verzweiflungsvoll aufjammernden Herzens gesegnet und in versöhnliche, der Verstorbenen würdige Regungen verwandelt. Gegen die härtesten Schläge war sie gewappnet; allein der Gedanke, daß eine Arbeit vieler Jahre zerstört worden, um nicht einmal dem Schein eines Vorwurfs eine Stätte zu gönnen, überwog ihre Fassung. Einige Secunden stand sie wie versteinert; dann trieb das Blut mit Gewalt in ihre Wangen, und das Antlitz mit beiden Händen bedeckend, sank sie kraftlos auf den Stuhl. Sie weinte bitterlich; so bitterlich, als hätte sie nunmehr in dem seit vielen Jahren verhaltenen Thränenstrome ihre ganze Seele ergießen wollen.

Auf mich wirkte der heftige Ausbruch ihrer Empfindungen beruhigend. Will o' the Wisp dagegen trat zutraulich neben sie hin. Zu sprechen wagte sie nicht; aber in der schüchternen Art, in welcher sie die Hand auf Thekla's Arme legte, offenbarte sich eine so rührende Theilnahme, daß selbst der gewaltigste Schmerz verstummen mußte.

»Das soll mir gehören? Für mich – für mich allein schafften Sie dies?« fand der Schloßherr endlich Worte.

»Ich versuchte es, meine Schuld abzutragen,« antwortete mein Vater ernst, »ihre Kinder und ihr Bild, mehr zu bieten vermag ich nicht.«

»Ihre Kinder, ihr Bild,« wiederholte der alte Herr träumerisch, »ja, das ist wohl eine Gabe, werth, die vielen traurigen Jahre verlebt zu haben. Und dennoch können Sie mehr bieten, Sie können erzählen von ihr –«

Mehr vernahm ich nicht. Thekla hatte sich erhoben, und meiner Schwester Hand ergreifend und mich durch einen Blick bedeutend, verließ sie mit uns den Saal. Von der Thür aus sah ich noch einmal zurück. Mein Vater starrte grübelnd vor sich nieder, sich gleichsam rüstend zu Schilderungen, geeignet, den späten Lebensabend des hinfälligen Greises tröstlich zu erhellen.

»Lassen wir sie allein,« flüsterte Thekla, sobald sie die Thür geschlossen hatte, »was eine lange Zeit der Trübsal vorbereitete, was edle, großmüthige Herzensregungen förderten, es kann nicht mehr rückgängig gemacht werden; wenige Worte vollenden es. Frei aufathmend und ohne Scheu werden sie einander in die Augen schauen.«

Wir waren vor ein Fenster getreten, von welchem aus zwischen den entlaubten Baumwipfeln hindurch wir den See zu überblicken vermochten. Wie um in den Pulsschlägen das nahverwandte Blut sich begegnen zu lassen, hielt Thekla fortgesetzt meiner Schwester Hand. Sie schien sich von ihr nicht trennen zu können. Aus dem freundlichen Antlitz Will o' the Wisp's und aus ihren großen schönen Augen schwand mehr und mehr der Ausdruck ängstlicher Befangenheit. Im warmen vermittelnden Pulsschlage sprachen die Herzen zu einander, ebneten sie die Bahnen für eine innige Zuneigung, für eine über Tod und Grab hinausreichende treue Anhänglichkeit.

Schweigend betrachteten wir den winterlich erstarrten See. Die Fernsicht verschleierte sich vor den dichter rieselnden Flocken; weiß färbte sich die spiegelglatte Eisfläche, weiß bekleideten sich die schmalen Uferstreifen. Nirgend regte sich Leben. Die kalten Flocken dagegen, indem sie melancholisch sich niederwärts wiegten, schienen eigenen Willen und eine gewisse ruhige Ueberlegung gewonnen zu haben. Warum vergaß ich in jener Stunde Vater und Schwester und alle zwischen uns und dem Gespensterschloß waltenden Beziehungen? Warum trat zudringlich an mich heran jener abgenutzte Vergleich der Schneedecke mit einem Leichentuch? Im Geiste weilte ich tief unten auf dem schwarzen Boden des See's bei den verschlafenen Unken. Wenn sie im Frühling erwachten, was bedeutete dann ihr melodischer Ruf für mich? Waren es begleitende Accorde zum lieblichen Gesange der Nachtigall, oder war es Grabgeläute? Mich schauderte. Von der weißen Eisfläche erhob ich meine Blicke zum Himmel. Wie war er so grau, so trostlos eintönig! Selbst im wechselvollen Spiel der Schneeflocken lag eine melancholische Einförmigkeit. –


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