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Im Bösen wie im Guten: Ereignisse von weittragenden Folgen kommen gewöhnlich nicht vereinzelt und allein!
Die Wirkung meines Besuches bei dem alten Gelehrten überdauerte nicht nur die Nacht, sondern machte sich auch noch am nächsten Morgen in den Schulräumen bemerklich. Mehrfache Tadel trafen mich meines zerstreuten Wesens halber. Ich lächelte. Man deutete als Trotz, was doch nur der Ausdruck des ersten schüchternen Kritisirens meiner Lehrer, eines gewissen Unheimlichfühlens in den düsteren Hallen, in welchen ich noch Jahre zubringen sollte.
Die gellende Glocke verkündete das Ende der Vormittagsstunden.
»Wie oft wird dieser Ton meine Bewegungen, mein Denken und Sinnen noch leitend bestimmen!« seufzte ich, indem ich meine Bücher nahm und auf den Flur hinaus trat. In einem Seitengange, so daß er nicht so leicht bemerkt werden konnte, stand der Director. Es war seine Lieblingsgewohnheit, die Zöglinge auch außerhalb der Klassenräume zu beobachten und sie für ein helleres Lachen oder ein in übersprudelnder, gleichsam kränkelnder Laune zu laut gesprochenes unbedachtsames Wort strenge zur Rechenschaft zu ziehen. Frühzeitig sollten wir lernen, auf Schritt und Tritt das beobachtende Auge der uns selbst unsichtbaren Vorgesetzten zu fürchten und in Reden und Bewegungen diese Scheu an den Tag zu legen; frühzeitig lernen, Andere zu beobachten, deren Fehler und Schwächen zum eigenen Vortheil auszubeuten und daher das heiligste Geheimniß in der eigenen Brust nicht mehr sicher zu halten.
Höflicher denn jemals grüßte ich ihn. Nicht mehr das Haupttriebrad einer pünktlich arbeitenden Schulmaschine erblickte ich in ihm, sondern einen, mit tiefer Berechnung den menschlichen Geist verkrüppelnden Dämon. Die wenigen Samenkörner, welche der alte Fröhlich, hingerissen von seinem Enthusiasmus achtlos ausstreute, sie hatten zu keimen begonnen; ich fühlte, daß Sophiens Ahnungen sie nicht betrogen, als sie von einer baldigen Trennung sprach.
Sehr höflich grüßte ich den Director, so ehrerbietig, daß er mich durchdringend ansah und in meinen, ihm plötzlich ohne Zweifel zu furchtlosen Blicken argwöhnisch nach den mich in meinem Benehmen leitenden Gründen forschte. Ich hätte ihm meine Bücher an den Kopf werfen, den mir begegnenden Pedell dagegen durch einen Fußstoß aus dem Wege räumen mögen, um ihm wenigstens auf einige Minuten das stille Beten oder Nichtbeten der beweglichen Hängelippen zu verleiden.
Theilnahmlos ging ich an den drei Kirchenportalen vorüber. Nur noch als todtes Mauerwerk erschienen sie mir. Dann sah ich zu den beiden Thürmen hinauf, spöttisch berechnend, wie viele Milliarden solcher Staubatome über einander gestellt werden müßten, um den nächsten Stern zu erreichen.
Festen Schrittes bewegte ich mich durch das düstere, heimatliche Gäßchen, und höher trug ich das Haupt in dem Bewußtsein, mit den mir von Fröhlich eingehändigten geistigen Waffen furchtlos jedem Feinde gegenübertreten zu können.
Vor dem Schaufenster des Antiquars blieb ich stehen. Heftig erregte Stimmen waren zu mir herausgedrungen. Die einzelnen Worte verstand ich nicht; aber neugierig, deren Bedeutung kennen zu lernen, schlich ich geräuschlos auf den Flur, von wo aus ich den Laden zu übersehen vermochte. Nur drei Menschen waren anwesend; sie standen so, daß ich von ihnen nicht gleich bemerkt wurde.
»Sie sind eine unverschämte Person, welche ich von der Polizei entfernen lassen werde!« schrie Carus Splint mit seinem an verrostete Thürangeln erinnernden Organ einer scheinbar dem Bauernstande angehörigen Frau zu, »ich wiederhole Ihnen, der Herr Doctor sind nicht zu Hause, und wäre er anwesend, würde seine Zeit ihm nicht gestatten, sich um Sie zu kümmern; Ihr Anliegen ist mir unverständlich! Der Mensch, welchen Sie suchen, ist mir fremd.«
»Das glaube, wer Lust hat!« eiferte eine Stimme, welche mir alles Blut jäh zum Herzen trieb und mich förmlich lähmte, »ich weiche nicht von der Stelle, und wenn Sie die ganze Stadtpolizei zusammentrommeln! Denn vergebens bin ich nicht so weit hergekommen!« und ein alter bekannter Strohhut schwankte resolut oberhalb eines breiten, von schwerer Arbeit gebeugten Rückens, von welchem ein uraltes, jedoch sauberes Umschlagetuch lang niederhing, »ich schere mich keinen Strohhalm, um Ihre säbelbeinige Gestalt; denn Sie thun mir noch lange nichts, und von der Stelle weiche ich keinen Schritt, bevor ich von Ihrem Doctor – ein schöner Doctor, der mit alten Büchern handelt – Auskunft erhielt und ich weiß, wo der Indigo sein Ende genommen hat!«
In diesem Augenblick war Nickel, der trotz seiner neunzehn Jahre die Neigungen eines Gassenbuben beibehalten hatte, gerade damit fertig geworden, einen Theaterzettel mittelst einer Stecknadel an die unterste Spitze des altmodischen Umschlagetuches der zürnenden Frau zu befestigen. Gleichzeitig fielen meine Bücher zur Erde; fast ebenso schnell hatte ich den mich von der geräuschvollen Scene trennenden Raum durchmessen und den überraschten Nickel mittelst eines heftigen Faustschlages bis unter das nächste Fenster gesendet.
»Scheusale!« rief ich mit einem mir bisher vollständig fremden Gefühl an Raserei grenzender Wuth aus, denn die zwischen der Winkelliese und Splint gewechselten Worte hatten genügt, mich über das schmachvolle Spiel aufzuklären, welches man so lange mit mir getrieben. Was ich aber weiter sagen wollte, das erstickten zwei kräftige Arme, die meinen Hals umschlangen und mein Haupt zu einem runden, gerötheten Antlitz niederzogen, ersticken zwei Lippen, welche sich krampfhaft auf meinen Mund hefteten und nur hin und wieder in abgebrochenen Worten den in dem goldenen Herzen gewaltig arbeitenden. Empfindungen Ausdruck verliehen.
»Jahnchen – Kind – Engel – Herzblatt –« seufzte und stöhnte die gute Alte, während die lieben graugrünen Augen sich in Regentraufen verwandelten, »was hat man mit Dir aufgestellt – diese Nation ohne Namensunterschrift! Keinen einzigen Brief von Dir, alle die langen Jahre hindurch – und der Hänge grüßt Dich viel tausend Mal – statt des braunen Gefreiten steht jetzt ein schwarzer Rappe im Stall – Baldrian ist er Dir zu Ehren genannt worden – und der Blech-Ulan, Du weißt, Dein alter Freund auf der Laube, ist ebenfalls noch munter – ich selbst dagegen hielt's nicht länger aus; denn steht man erst in den Sechzigen, kann jeder Tag der letzte sein, und ich wollte doch nicht sterben, ohne mit meinen eigenen Augen gesehen zu haben, was aus Dir geworden. Und ich sagte schon immer, Menschen ohne Namensunterschrift sind gar keine Menschen – sind Landstreicher – sind Proletarier – sind – sind gar nichts,« und um ihren Ausspruch zu bekräftigen, drückte die gute Alte bei jeder neuen Schmähung genau so, wie vor sechzehn Jahren, als sie mich zum ersten Mal auf ihren Armen hielt, mir einen Kuß auf die Lippen, der mir fast den Athem raubte. Dann gönnte sie mir wieder etwas Luft, und einen Schritt zurücktretend, aber noch immer meine Hand haltend, äußerte sie halb lachend, halb weinend ihr Erstaunen, daß ich so merkwürdig groß geworden, dagegen nur mit saurer Milch und Kartoffelschalen genährt sein könne, wie mein bleiches Gesicht deutlich verrathe.
»Es ist nicht so böse, wie es auf den ersten Blick erscheint, Winkellieschen,« beruhigte ich heiter, obwohl ich vor tief empfundener Rührung ebenfalls in lautes Weinen hätte ausbrechen mögen, und absichtlich nannte ich sie, wie sie selber einst mich tändelnd lehrte, nein, nicht halb so böse – aber ein Glück, daß ich zur rechten Zeit eintraf. Man hätte Dich sonst abgewiesen –« und ich warf dem verwirrt und beleidigt dareinschauenden Buchhalter einen Blick des unversöhnlichsten Hasses zu – »und dann hätten wir lange suchen mögen, bevor wir einander fanden. Nun aber will ich denjenigen sehen, der es wagt, zwischen uns zu treten. So lange Du in der Stadt weilst, gehöre ich Dir ganz allein, denn es giebt kein Gesetz, laut dessen man den Sohn von seiner Mutter reißen, die heiligsten Regungen in den Staub treten dürfte.«
Es war das erste Mal, daß ich im Hause des Antiquars eine so kühne Sprache führte.
Doch wie in den Zeiten, in welchen beim Anbellen eines übermüthigen Hundes, beim Begegnen eines Schornsteinfegers oder eines grollenden Stiers ich an der Winkelliese Hand und versteckt hinter ihrer vor mich hingezogenen Schürze allen furchtbaren Gefahren meinte Trotz bieten zu können, so beseelte mich jetzt in ihrer Nähe ein ähnliches Gefühl heiliger Unantastbarkeit. Sie dagegen, welche nie einen Widerspruch, nicht einmal von Seiten des Hänge-Gensdarm duldete, wenn sie Verfügungen zu meinen Gunsten traf, befand sich in dem Wahne, wie im heimatlichen Dorfe, so auch hier in der Stadt jede Auflehnung gegen ihren einmal ausgesprochenen Willen mit Leichtigkeit brechen zu können.
»Haben Sie's gehört, Sie sommersprossiges Gewächs?« rief sie zornig aus, sobald ich geendigt hatte, und die Fäuste auf ihre breiten Hüften gestemmt und das Haupt herausfordernd in den Nacken geworfen, trat sie Splint entgegen, welcher sich scheu hinter den Ladentisch zurückzog; »der Herr Indigo nennt mich seine Mutter, und wenn er's sagt, ist's auch wahr! Und cannibalisch hat man ihn behandelt, denn wo wären sonst seine prächtigen braunen Locken geblieben? Aber ich will's Ihnen vergelten! Ihnen mit sammt Ihrem Doctor – 'n schöner Doctor mit 'nem Bücherkramladen!« Und dann wieder zu mir: »Wäre ich nur selber mit Dir hierhergereist; nicht 'ne Minute hätte ich Dich in dieser Spelunke gelassen! Aber der Herr Hänge ist ein schwacher Mann – anstatt sofort mit Dir umzukehren, übergab er Dich diesen Menschen ohne Namensunterschrift, und das sind Proletarier, sind Niemand!«
»Indigo,« redete Splint mich an, sobald die Winkelliese, um neuen Athem zu schöpfen, schwieg, und in seinem sicheren Hinterhalt auf ein altes, als Fußbank dienendes Lexicon tretend, suchte er seine Gestalt zu verlängern und seine schrecklich herabgezogene Würde in den Augen mehrerer eintreffender Kunden wieder herzustellen: »Indigo, ich hoffe, Du bist Deiner Pflichten eingedenk und bereitest der Familie Deines Wohlthäters keine Schande. Du besitzest offenbar einigen Einfluß auf jene Person; suche daher, sie auf gütlichem Wege zu entfernen, und dann begieb Dich in's Hinterzimmer und an die Arbeit!«
Ich war empört über solch' anmaßendes Wesen, zumal die anwesenden Fremden, keineswegs unzufrieden über die Zögerung, mit neugieriger Spannung der weiteren Entwicklung der peinlichen Scene entgegensahen. Bevor ich indessen zu einem Entschlusse gelangte, raffte die Winkelliese noch einmal krampfhaft ihre ganze Resolution zusammen. Wie eine um ihre Jungen besorgte Wölfin stand sie da, die zornfunkelnden Augen fest auf den elenden Buchhalter gerichtet.
»Also eine Person bin ich?« fragte sie mit gewitterschwüler Ruhe, während um ihr noch immer angehendes Doppelkinn drohende Blitze zuckten, »nun, eine Person ist wenigstens Jemand, was ein jämmerliches Gewächs ohne Namensunterschrift nicht von sich behaupten kann! Und den Herrn Indigo reden Sie mit Du an? Und mich soll er entfernen? Perahldaniehr!« und wie ein electrischer Funke durchströmte es mich bei diesem kriegerischen Gensdarmenschwur – »oh, recken Sie sich immerhin aus, bis Sie mit Ihrem fuchsigen Borstenkopf den Ruß von der Decke fegen, auf mich macht das gar keinen Eindruck, und auf Ihre Reden gebe ich so viel –« hier strich sie mit der rechten Hand über die offene linke – »ich bleibe hier, so lange es mir gefällt, bis der Doctor kommt – 'n schöner Doctor mit einem Bücherkramladen – und der soll mir Rede stehen, wo die gesunde Gesichtsfarbe und die prächtigen braunen Locken meines Kindes geblieben sind!«
Rathlos sah Splint um sich. So dringend, wie jetzt, hatte er nie in seinem Leben den Principal herbeigesehnt. Das spöttische Lachen der mit freudiger Geduld harrenden Kunden führte indessen eine schnelle Entscheidung herbei. Sein sommersprossiges Gesicht erbleichte, daß es einem mit Stockflecken besäeten gelben Papierbogen nicht unähnlich, und schäumend vor Wuth ein langes Lineal ergreifend, sprang er hinter dem Ladentisch hervor.
»Verlassen Sie auf der Stelle dieses Haus!« schrie er heiser, indem er den Zipfel des Umschlagetuches der ihn geringschätzig betrachtenden Winkelliese ergriff und mit dem Lineal auf die Thür wies.
Es war dies eine That der Verzweiflung, hervorgerufen eben sowohl durch das Bewußtsein der Lächerlichkeit seiner Lage, wie durch den Umstand, das seit Jahren mit Bedacht hintertriebene Zusammentreffen mit meiner alten Pflegerin nicht mehr rückgängig machen zu können. Er hatte indessen kaum ausgesprochen, da stand ich zwischen ihm und der alten Frau, das Tuch seiner Hand entreißend und meine Augen fest auf die seinigen heftend.
»Herr Splint,« hob ich an, und die leidenschaftliche Erregung erschwerte mir die Sprache, »vergessen Sie nicht –«
»Vergessen?« schnaubte der nunmehr in Tollwuth versetzte Buchhalter und zugleich ergriff er mich am Rockkragen, »da hinein mit Dir in's Comptoir, armseliger Bursche! Ich will Dir zeigen, wer hier gebietet!«
Heftig zog er mich nach sich. Er war blind dafür, daß im Laufe der Jahre ich ihm weit über den Kopf gewachsen, zu viel für ihn geworden war. Mißhandlungen von meinen Lehrern stumm zu erdulden, hatte ich wohl gelernt; in einem sich mit Neugierigen schnell füllenden Raume von fremden Händen angerührt zu werden, erschien mir dagegen als eine so entsetzliche Schmach, daß ich im ersten Augenblick meine Widerstandsfähigkeit verlor. Doch nur Secunden dauerte diese Erstarrung; dann aber erfüllte mich nur der einzige Gedanke nach Rache, ohne in der Wahl der Mittel die Vernunft walten zu lassen.
»Zurück, Frau Winkler,« herrschte ich dieser zu, denn sie machte sich bereit, mir Beistand zu leisten; gleichzeitig ergriff ich das in meinem Bereich befindliche riesenhafte, mit einer schwarzen Kruste überwucherte hölzerne Dintenfaß, und es emporhebend, bewirkte ich, daß Splint, von Hause aus erbärmlich feige, von mir abließ und einen Schritt zurückprallte.
Doch dieser Sieg genügte mir jetzt nicht mehr; die an meiner treuen Pflegerin und mir verübten Unbilden betrachtete ich noch nicht als gesühnt, und zu erbittert, um die möglichen Folgen zu bedenken, warf ich ihm den unförmlichen Behälter mitten vor die Stirne. Ich sah, daß er taumelte, ich sah, daß die umherspritzende Dinte nicht nur sein Gesicht schwärzte, sondern auch die auf dem Pult liegenden Papiere und die mit ihm in gleicher Linie befindlichen Bücher in den Fächern besudelte. Aber auch Blut bemerkte ich, welches sich mit den Dintenflecken auf seiner Stirn vermischte, ohne deshalb die leiseste Spur von Reue zu empfinden. Im Gegentheil, ich triumphirte, die an mir versuchte Demüthigung nach Gebühr bestraft zu haben, und das Lachen und die ermunternden Zurufe der noch immer von der Straße sich hereindrängenden Neugierigen bewiesen, daß andere Menschen ebenso dachten. Weder sie, noch ihre Kundgebungen beachtete ich; ich schämte mich sogar vor ihnen und wünschte mich weit, weit fort aus dem Gesichtskreise der mich mit einer gewissen Theilnahme betrachtenden zahlreichen Augen.
Splint fluchte noch und tastete mit der einen Hand nach einer schwereren Waffe, während er mit der anderen die Dinte aus seinen Augen rieb und sich dadurch zum allgemeinen Ergötzen noch mehr entstellte, da schob ich meinen Arm unter den der wie versteinert dastehenden Plätterin.
»Komm, Winkellieschen,« sprach ich, meiner Stimme nach besten Kräften einen sorglosen Ausdruck verleihend, »dies ist kein Ort für uns. Um uns vor einander auszusprechen, müssen wir ein heimlicheres Plätzchen haben – wie ist Dein Haar grau geworden, mein gutes Winkellieschen, und mehr Runzeln hast Du Dir ebenfalls angeschafft – aber komm, komm, ich begleite Dich.«
In dieser Weise zutraulich zu ihr plaudernd, trat ich mit der guten Alten auf den Flur hinaus, wo die Leute uns höflich auswichen. Sie sprach kein Wort.
Mein wilder Angriff auf Nickel, welcher demnächst spurlos verschwunden war, und auf den Buchhalter hatte plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf die Veränderung hingelenkt, welche im Laufe der Jahre in mir stattgefunden. Zum ersten Male machte sich meine geistige Ueberlegenheit über ihre treuherzige Einfalt geltend, und als hätten wir unsere früheren Rollen vertauscht gehabt, ließ sie sich, wie auf meinen Schutz bauend, willig von mir führen.
Im Begriff, auf die Straße hinauszutreten, wurden wir von Sachs beinahe umgelaufen. Ihm auf dem Fuße nach folgte Nickel mit einem verschwollenen Auge.
»Wohin?« fragte Ersterer athemlos, und er streckte beide Arme aus, wie um mich aufzuhalten.
»Wohin es mir beliebt,« antwortete ich entschlossen, während die Winkelliese, vollständig eingeschüchtert, sich fester an meinen Arm anklammerte.
»Du verläßt mein Haus nicht, ich befehle es Dir!« keuchte der Antiquar, am ganzen Körper bebend.
»Ich gehe, wohin es mir beliebt,« wiederholte ich noch entschiedener, unbekümmert um Splint, welcher hinter mir in der Ladenthür erschien und kreischend seinen Principal vor dem gefährlichen Mörder warnte, »einem Manne, der seit Jahren meine Briefe unterschlug, bin ich keine Rechenschaft schuldig.«
»Nicht 'nen einzigen erhielten wir,« flüsterte die Winkelliese mir heimlich zu.
»Still, still,« bat ich die gute Seele zärtlich, »das wird zu einer anderen Zeit zur Sprache gebracht werden.« Dann die augenblickliche Regungslosigkeit des Antiquars benutzend, der seinen entstellten und keifenden Buchhalter wie ein Gespenst anstarrte, trat ich unbehelligt auf die Straße hinaus.
Nickel schlüpfte mir scheu aus dem Wege; er schien für sein anderes Auge besorgt zu sein.
»Haltet den Mörder!« brüllte Splint mir nach. Ich dagegen gab mir nicht die Mühe, rückwärts zu schauen. Wohl aber vernahm ich, wie Sachs dringend rieth, keinen Auflauf zu erzeugen. Er selbst mochte die meiste Ursache haben, einen solchen zu fürchten. Sobald er indessen von der Polizei sprach und daß sie mich zu finden wissen würde, kehrte ich mich noch einmal nach ihm um.
»Sparen Sie sich die Mühe,« rief ich ihm hochfahrend zu; »ich beging nichts, was das Einschreiten der Gerichtsbarkeit nöthig machte. Ebenso wenig habe ich Veranlassung, mich zu scheuen, Ihre Schwelle wieder zu betreten. Sie werden mich heute noch wiedersehen; denn was zwischen uns schwebt, muß zum Abschluß gebracht werden.«
Langsam entfernte ich mich. Hinter mir aber ertönte der laute Jubel, mit welchem man meinen Peiniger, seinen geschwärzten Buchhalter und den verschwollenen Nickel verhöhnte, und mich, den allen Nachbarn wohlbekannten, stillen bleichen Schüler, als den Helden des Tages pries.
Gern hätte ich, um meine Unerschrockenheit zu beweisen, einen Blick nach dem ersten Stockwerk hinaufgesendet, wo, wie ich errieth, die Mitglieder der christlich-frommen Familie durch die blinden Fensterscheiben mir nachspähten, allein ich fürchtete, den vorwurfsvollen Augen meiner unglücklichen Freundin Sophie zu begegnen.
Erst nachdem wir das Ende der Gasse erreicht hatten, fand die bestürzte Winkelliese wieder Worte.
»Eine abscheuliche Straße,« meinte sie, und ihre Stimme klang, als wären in ihren guten Augen neue Regenwolken im Anzuge gewesen; »ein wahres Wunder, daß Du lange Jahre in derselben wohntest, ohne verloren zu gehen. Und trotzdem bist Du gewachsen, wie 'ne junge Fichte, und schön geworden, wie 'n Feldmarschall – nur so blaß, so blaß. Ich ahnte dergleichen, und vergebens ist mein Kopf nicht grau geworden. – Der Hänge hatte früher höchstens zwei oder drei weiße Haare auf jeder Seite seines Schnurrbartes, jetzt dagegen sieht er aus, als hätte er Milch genascht oder sich mit dem Müller geschlagen. Er läßt Dich übrigens grüßen und ist noch immer der Alte; Perahldaniehr!« und die gute Seele lachte herzlich, »ein unbeholfenes Kind nach wie vor, und sorgte ich selbst nicht für ihn, wäre er längst elendiglich zu Grunde gegangen – seiner Wäsche nicht zu gedenken. Der schwarze Rappe ist nicht übel, allein der braune Gefreite gefiel mir besser, schon um dessentwillen, weil er Dich kannte und steif in den Beinen wurde vor Sehnsucht nach Dir – ich kenne das an mir selber – auch mir ist's etwas in die Füße geschlagen, und da hat der Hänge eigenhändig Ameisenspiritus für mich destillirt.«
So plauderte und erzählte die beglückte Winkelliese unaufhaltsam, ohne mir Zeit zu einer Gegenbemerkung zu gönnen; und dann klopfte sie wieder meine Hand, die so schmal sei und der man nicht zutraue, daß sie dem einen Burschen das Gesicht braun und blau, dem anderen dagegen schwarz gezeichnet habe. Den Schaden gönnte sie Beiden von Herzen, allein, lieber wäre es ihr gewesen, sie hätten sich untereinander so zugerichtet, anstatt daß ich dazwischen gefahren sei. Denn sie hielt mich für einen großen Herrn, für welchen sich Raufereien mit solchem Gesindel eigentlich nicht mehr schickten.
Zuletzt blieb sie gar stehen, und die Hände zusammenschlagend, bewunderte sie meine Augen, die so unmenschlich ernst und gelehrt dareinschauten. Und als sie entdeckte, daß die Rührung über die mir entgegengetragene unbegrenzte Liebe meine Augenwimpern befeuchtete, da strich sie mir zärtlich die Wangen, mich bittend, nicht so schrecklich betrübt zu sein. Kaum aber hatte ich erklärt, daß man auch vor Freude weinen könne, da öffneten die drohenden Regenwolken ihre Schleusen, und nachdem sie einen derben Guß auf das Umschlagetuch niedergesendet, blickten die treuen graugrünen Augen doppelt klar zu mir empor. Es wurde von neuem berichtet und geschildert, bis ich endlich das alte liebe, heimatliche Dorf vor mir zu sehen meinte und schließlich vor Sehnsucht nicht bezweifelte, daß ich nunmehr mindestens ebenso viel wisse, wie der Pastor, und daher alles weitere Lernen überflüssig sei. Sogar um eine angemessene Lebensstellung für mich war die Winkelliese nicht in Verlegenheit: Zuerst ein oder zwei Jährchen Ruhe und Erholung im Dorf; dann Geheimrath oder reicher Kaufmann oder gar Photograph in der Stadt; ich brauchte ja nur einen Beruf zu wählen, zu welchem ich die größte Neigung fühlte.
So waren wir wohl eine Stunde durch die Straßen gewandelt, unbekümmert um die Menschen, welche uns hin und wieder verwundert betrachteten, als ich endlich meine Pflegerin fragte, wo sie eingekehrt sei.
Die gute Seele, sie hatte sich Straße, Namen der Ausspannung und sogar die Hausnummer genau gemerkt, in ihrer Erregung aber von Allem nichts weiter behalten, als die Zahl sechsunddreißig. Doch wir wußten uns zu helfen. Sie war in einem Hauderer gekommen und so gelang es uns nach manchem Hin- und Herfragen, den Gasthof auszukundschaften, in welchem die aus einer bestimmten Richtung eintreffenden Reisewagen einzukehren pflegten.
In unserer Berechnung hatten wir uns nicht geirrt. Die Winkelliese erkannte aus der Ferne das schön gemalte vergoldete Schild ›Zum lustigen Studenten‹, und bald darauf saßen wir vor einem gedeckten Tisch und vor uns dampften so kräftige und schmackhafte Speisen, wie ich mich nicht entsann, ähnliche jemals im Hause des christlich-frommen Antiquars gesehen, geschweige denn gekostet zu haben. Doch was wären diese Speisen gewesen ohne die Würze, welche die redselige Plätterin ihnen durch ihre Mittheilungen beifügte. Nur selten ließ sie mich zu Worte kommen; denn kaum mit der Schilderung des einen Ereignisses zu Ende, fiel ihr ein anderes, noch viel wichtigeres ein, welches schnell abgewickelt werden mußte. So erfuhr ich, daß die Apfelbäume im Garten seit meinem Abschied keine gute Ernte mehr geliefert, und nicht eine einzige Pflaume, gleichviel ob gebacken oder gekocht, hatten Hänge und sie selber über ihre Lippen gebracht, ohne sich zu grämen und jener goldenen Zeiten lebhaft zu gedenken, in welchen ich noch keinen großen Unterschied zwischen reifem und unreifem Obst machte. Vielfach hatten sie auch meine Zeichnungen hervorgesucht und durchblättert und sich gegenseitig gefragt, warum meine unbekannten Freunde ihre näheren Beziehungen zu mir abgebrochen zu sehen wünschten, mir das Schreiben wehrten, ihnen dagegen freistellten, täglich einen Brief an mich abzusenden. So wenigstens hatte der Landrath im Namen der unbekannten Gönner gleichmüthig erklärt, und damit mußte man sich trösten. Hänge war denn auch nicht säumig gewesen und hatte jede Gelegenheit benutzt, mir Nachricht zu geben, und so wunderbar schön seien diese Briefe ausgefallen, betheuerte die Winkelliese lebhaft, namentlich solche, welche sie selbst dictirte und die jedesmal einen derben Zank kosteten, weil der eigensinnige Gensdarm stets nach hochgelehrten Worten suchte, anstatt genau so zu schreiben, wie ihr wirklich um's Herz gewesen. Im Uebrigen sei der › Mann des Gesetzes‹ bei weitem nicht mehr so streitsüchtig, erzählte sie munter, nur noch selten drohe er mit Kündigen und Ausziehen, was auf sie natürlich nicht den geringsten Eindruck mache und nur kalte Gewitterschläge seien, und sie sehe es noch kommen, daß er so lange ihr Miether bleibe, bis er eines guten Tages, ohne vorher gekündigt zu haben, nach dem Kirchhof ziehe und sich in der Nachbarschaft meiner Mutter begraben lasse; und eine gute Nachbarschaft sei dem schrecklich unbeholfenen Manne selbst im Grabe noch von Nöthen.
Hier verschüttete die beständig drohende Wolke einen kleinen Sprühregen, und dann behauptete die gute Seele erleichterten Herzens, daß die ganze Dorfgemeinde und viele Leute aus anderen Ortschaften sich an dem Leichenzuge betheiligen würden, wenn Hänge wirklich einmal das Zeitliche segne. »Gelber Sarg, mit gewaltigen, wie Silber glänzenden Beschlägen, Kreppschleifen und ein Buchsbaumkranz oben d'rauf,« bemerkte sie mit einer Zuversicht, als ob sie selber in's Schicksalsbuch eingetragen hätte, daß der Miether seiner Wirthin in diesem besonderen Falle vorausgehen müsse.
Durch solche Andeutungen wurde meine Besorgniß wachgerufen und dringend fragte ich nach dem Befinden meines väterlichen Freundes. Darob lachte aber die Winkelliese, daß der ganze Körper wie eine umgestürzte Mehlspeise zitterte, worauf sie heiter erklärte, daß solche Dinge bei Lebzeiten besprochen werden müßten, indem es nachher zu spät sei. Wohlweislich verschwieg ich, daß von allen an mich gerichteten Briefen mir kein einziger zu Händen gekommen, zumal sie vergaß, sich nach dem Eindruck zu erkundigen, welchen deren Inhalt jedesmal auf mich ausgeübte. Ich wollte ihr den herben Kummer des Bewußtseins ersparen, daß alle die mit so viel herzlicher Liebe und gewiß oft genug mühsam zusammengestellten Worte nur an den christlich-frommen Antiquar verschwendet worden. Aber nach den Zwillingen fragte ich, nach deren Eltern und der lieblich gelegenen Försterei, und da erfuhr ich, daß Alle sich wohl befanden, jedoch auch an ihnen die Zeit nicht spurlos vorübergegangen sei. Ihr eigenes Hannchen war ernster geworden und sprach gern von gottseligen Dingen, wogegen der Förster Wallmuth lange nicht mehr so schnell mit seinen scherzhaften Einfällen zur Hand war. Ebenso waren die beiden Zwillinge nicht mehr die kleinen lockenköpfigen Waldgeister, und man konnte sie sehr gut ohne die Beihülfe der rothen und blauen Bänder von einander unterscheiden. Nur das wußte die gute Seele nicht genau, ob Hannchen die ernste stille Lilie geworden und Hedwig das muntere Haideröschen, oder umgekehrt. Sicher war indessen, daß Beide entsetzlich viel lernten und alle Ursache hatten, dem Burgfräulein und dem Herrn Candidaten ewig dankbar zu sein.
Nach den anderen Schloßbewohnern fragte ich nicht. Wie eine schwarze Ahnung zog es durch meine Seele. Gespenstisch erschien mir der Einfluß der bleichen Dame und ihres steten Begleiters auf die sonst so glückliche Familie des anmuthig umrankten Schweizerhäuschens. Sinnend blickte ich vor mich auf den Tisch. Vor meinem geistigen Auge schwebten die kalte marmorne Waldgöttin und der dämonisch grinsende Flötenbläser mit den Bocksfüßen, schwebte ein lachendes Haideröschen, schwebte eine stille bleiche Lilie.
Doch nicht lange war ich der mich fast überwältigenden Schwermuth unterworfen; denn die Winkelliese bemerkte nicht sobald meinen Ernst, als sie in ihrer resoluten Weise gegen denselben auftrat. Sie futterte mich mit Kuchen und Kaffee bis zum Uebermaß, und doch durfte ich ihre immer wieder erneuerten Einladungen wenigstens nicht ganz zurückweisen, wollte ich sie nicht betrüben. Und als dann nothgedrungen eine Pause eintrat, da sprach sie von mancherlei Veränderungen, welche sie auf ihrem Grundstück beabsichtige, jedoch vorher mein Urtheil darüber zu vernehmen wünsche.
So ging sie damit um, die beiden Buchsbaumringe im Vorgarten in zwei Herzen zu verwandeln – eins für sich und eins für den Mann des Gesetzes – und in jedes, wie auch die Leute darüber dächten, einen großen Baldrianbusch hineinzupflanzen zum treuen Angedenken an mich. Diese Idee bewunderte ich selbstverständlich, und ebenso bereitwillig stimmte ich zu, als sie vorschlug, die Bilderbogen in ihrem Zimmer von den Wänden zu lösen und in einer besseren Ordnung wieder aufzukleben. Die gute Alte! Als ob ich sie nicht durchschaut hätte, wie sie nur Gelegenheit suchte, irgend welche kleinen Aufträge von mir auszurichten, selbst die bizarrsten, um später den erstaunten Hänge resolut damit abzufertigen: »So und nicht anders wünscht's der Jahn!« Und bei den Bilderbogen blieb es nicht; das Sperlingsehepaar, welches das Schwalbennest oberhalb der Hausthüre hinterlistig eroberte, wurde dazu verurtheilt, selber vertrieben zu werden, und über den Hausanstrich wurde berathen und über ein altes Hufeisen, welches, auf der Landstraße gefunden, unbedingt als Wegweiser des Glücks auf die Thürschwelle genagelt zu werden verdiente. So aber ging es fort und fort, vom Mittag bis zum Abend. Ich fand natürlich Alles schön und weise erdacht, und jeden neuen Vorschlag begrüßte ich mit meinem besten Lachen; dazu versprach ich, binnen kurzer Frist mich von der gewissenhaften Ausführung meiner Aufträge durch Augenschein zu überzeugen, worüber der guten Winkelliese Antlitz vor Entzücken erglühte, wie ein zunftgerecht durchwärmter Plättbolzen, und meine Finger knackten vor der Gewalt, mit welcher sie dieselben zwischen ihren Händen preßte.
Hätte sie nur in mein Herz geschaut! Hätte sie gesehen, wie die heißen Tropfen, anstatt, ihr wahrnehmbar, meinen Augen zu entrollen, mit einem unendlichen Wehgefühl gewissermaßen heimlich in meine Brust hinabsanken, wo wäre dann ihre Heiterkeit, ihre frohe Zuversicht auf einen glücklichen Wechsel der Zeiten geblieben? Denn nur unter großen Anstrengungen drängte ich zurück die Zeugen der qualvollen Empfindungen, welche sich meiner bemächtigten, indem ich in Gedanken verglich meinen Verkehr mit der treuen Beschützerin meiner ersten Jugend mit den Tagen, welche ich in dem Hause des verrätherischen Antiquars und den düsteren Convicträumen verlebte. Wie ein mit Schauder erregenden Ungethümen angefüllter Abgrund lag die Zukunft vor mir. Was brachten die nächsten Tage? Ich fühlte es: Ich stand vor einem neuen Wendepunkte meines Lebens. Meine Augen lächelten, während ich die Wintelliese über meine Stellung und die Folgen des feindlichen Zusammenstoßes mit dem Buchhalter beruhigte; in meiner Seele aber spiegelten sich geheimnißvoll ein rothes Haideröschen und eine stille bleiche Lilie.
Die Sonne näherte sich ihrem Untergange und geheimnißvolles Zwielicht schlich durch die Straßen, als der Hauderer vorfuhr und die Winkelliese sich reisefertig machte.
»Schon heute?« fragte ich erstaunt.
»Schon heute, Jahnchen,« antwortete die Winkelliese, und sie suchte eifrig in ihrem großen Arbeitsbeutel. »Ich habe Dich wiedergesehen; ich weiß, daß Du uns bald besuchst, und was soll ich da noch weiter hier? In einem Bett schlafen, in welchem wer weiß Wer gelegen? O, das fehlte mir! Tag und Nacht reise ich; ein Omnibus schließt sich an den andern an und in dreimal, höchstens viermal vierundzwanzig Stunden bin ich wieder daheim, wo Arbeit auf mich wartet. Mit der Post ging's freilich schneller, und mit der Eisenbahn noch schneller, allein ich bin doch nun einmal für das Solide und Sichere. Und nun, Balde, sei guten Muths – das soll ich Dir nämlich von dem Hänge-Gensdarm bestellen – und dann Jahnchen,« – hier drückte sie mir ein Packetchen in die Hand – »nimm diese achtzehn Papierthaler – ach was – genire Dich nicht, ich habe sie redlich verdient und Du bist der Nächste dazu. Aber sprich nicht darüber, sondern gehe hierher und verzehre es allmählich mit Gesundheit. Namentlich Hammelfleischbrühe und ein Ei darin abgequirlt, das ist nahrhaft, und 'n Stück Rindfleisch, nicht zu scharf gebraten, und ein Gläschen Bier, das wird meinem Kinde die gesunde Farbe zurückbringen.«
Draußen knallte der Kutscher mit der Peitsche zum Einsteigen.
Die Winkelliese blickte zu mir empor. Auf dem lieben breiten Antlitz zuckte es seltsam. Auf ihren Zügen und in den treuherzigen Augen lagen sichtbar in Streit die eigenen Empfindungen und die ihr von Hänge dringend anempfohlene Selbstbeherrschung. Ein Brettschemel stand in unserer Nähe. Ihre Blicke waren kaum auf denselben gefallen, als sie ihn hastig erstieg, mich zugleich vor sich hinziehend.
»Du bist so groß geworden, daß ich mich beinahe vor Dir genire,« sprach sie scheinbar ruhig, »nun aber, da ich mit dem Kopfe wieder über Dich hinausreiche, ist mir um's Herz, wie damals – Jahnchen – als Du mit Deinen braunen Locken mir gerade bis an's Handgelenk reichtest. Ja, ja, das waren schöne Zeiten, und hoffentlich kehren sie wieder.
»Und nun, Jahnchen« – weiter konnte sie nicht sprechen. Ihre kräftigen Arme umschlangen meinen Hals; sie küßte mir Stirn und Augen und abgebrochene Worte stieß sie aus, während ein wahrer Wolkenbruch von Thränen über mich hinrieselte.
Wiederum knallte der Fuhrmann.
»Kind, Der wartet nicht,« ermannte sich meine alte Beschützerin, indem sie, von mir sorgfältig unterstützt, von dem Schemel stieg, Hut und Umschlagetuch ordnete, und ihre Reisetasche ergriff. Dann eilte sie so schnell auf die Straße hinaus, daß ich ihr kaum zu folgen vermochte.
Behutsam half ich ihr in den klapperigen Wagenkasten hinein.
»Tausend, tausend herzliche Grüße –«
»Schon gut, Jahnchen,« fiel die Winkelliese mir in's Wort, noch einmal meine Hand krampfhaft drückend; »aber jetzt bin ich müde, Kind; ich muß nach der vielen Aufregung durchaus 'ne Kleinigkeit schlafen – Perrahldaniehr – Du entsinnst Dich – doch nun gehe, – ja, gehe lieber,« und sich in die Ecke lehnend, zog sie das Umschlagetuch so über ihr Antlitz, daß Niemand sah, wie ausgiebig die Regenwolken noch immer spendeten.
Die gute Alte, ich kannte sie genau, wußte, daß mein längeres Verweilen ihr nur schmerzlich sein würde.
»Lebe wohl, mein geliebtes Mütterlein,« rief ich der anderen Fahrgäste wegen, erhielt indessen keine Antwort. Sie ahmte die Stellung einer Schlafenden so vorzüglich nach, daß man wirklich dadurch getäuscht werden konnte. Dann begab ich mich auf einem Seitenwege vor das nahe Thor hinaus, wo ich die Chaussee eine Strecke weit zu überblicken vermochte.
Bald darauf rollte der Hauderer vorüber. Es war noch hell genug, die in die Ecke hineingedrückte Gestalt der Plätterin zu erkennen. Meine Nähe verrieth ich nicht, aber lange noch blickte ich dem sich mäßig schnell einherbewegenden Wagen nach. Die heiteren Stimmen der anderen Fahrgäste waren für mich verloren gegangen, obgleich ich im Geiste mich unter ihnen dicht neben meiner alten Pflegerin befand.
»Segne Dich Gott, Du treues, treues Herz,« hallte es in meiner Brust so andächtig, wie schwerlich jemals, seit ich mich der Erziehung in dem Convict erfreute, ein Gebet über meine Lippen drang. »Segne Dich Gott, Du liebe gute Winkelliese! Tage und Nächte hindurch bist Du auf unbequeme Art gereist, um Deinen Liebling wiederzusehen; wenige Stunden des Zusammenseins, und heimwärts rollst Du auf demselben langweiligen Wege, aber beruhigt und getröstet. Segne Dich Gott für Deine Thränen, für jedes Deiner Worte, für Dein seltsames Wesen, welches ich um keinen Preis auch nur um die Breite eines Haares verändert wissen möchte. Segne er Dich und ihn, der mich auf seinen Armen Dir zutrug und so lange Vaterstelle bei mir vertrat! Segne er Euch Beide und die traute Heimstätte, in welcher meine einzigen, wahrhaft glücklichen Jugendtage begraben liegen.«
Der Wagen verschwand in der Ferne im Schatten der die Dämmerung verdichtenden Baumeinfassung. Grübelnd kehrte ich mich der Stadt zu. Wie gewaltige Kerker lagen sie da, die in einander verschwimmenden, bereits nächtlich beleuchteten Bauwerke. Deutlich erkannte ich vor dem noch abendlich gerötheten Himmel die beiden Thürme, unter deren Bedachung ich so vielfach mit ganzer Seele mich jener eigenthümlichen, sinneberauschenden Wirkung des Hochamtes hingab, oder in phantastischen, gleichsam geistig wollüstigen Träumereien des Lebens einzige Genüsse suchte. Heute, nach meiner Begegnung mit der treuen Pflegerin meiner Kindheit, nach dem feindlichen Zusammenstoß mit dem Buchhalter, erschienen sie mir wie zwei unförmliche Finger, unter dem Schleier der Dämmerung gen Himmel gehoben zum – falschen Schwur.
Zum falschen Schwur: Sieben Jahre waren der einfachen Plätterin in Sehnsucht nach mir verstrichen, und dann hatte sie es nicht länger ertragen. Unbekümmert um die ihr dadurch entstehenden schweren Opfer hatte sie sich auf den Weg begeben, um Denjenigen wiederzusehen, der einst als hülfloses Kind an die Pforten ihres treuen Herzens anklopfte. Zweimal sieben Jahre und mehr hätten vorüberrauschen können, ohne daß ich unter Hintenansetzung aller anderen Rücksichten, allein nur dem Drange meines Herzens folgend, zu ihr geeilt wäre. Undankbarkeit oder Mangel an Anhänglichkeit lagen nicht in meinem Charakter, dafür zeugten die Empfindungen, welchen ich während des kurzen Zusammenseins mit meiner Wohlthäterin unterworfen gewesen. Wie aber sollte ich es erklären, daß jene Empfindungen, wenn auch rein und unverfälscht, sich nur auf die Eindrücke des Augenblicks beschränkten, nicht mit kühnem Flügelschlage sich über alle Schwierigkeiten und Fährnisse erhoben, wie es bei der alten einfachen Frau geschah? Mit tiefem Widerwillen gedachte ich des Antiquars, welcher sich durch die Briefunterschlagungen eines schwarzen Verbrechens schuldig gemacht hatte. Ob er im Auftrage Anderer handelte, oder nach eigenem Ermessen, die Folgen blieben dieselben. Wenn aber der gänzliche Mangel an sichtbaren Liebeszeichen von den beiden getreuen Alten im heimatlichen Dorfe mit dazu beitrug, meine einst so lustig und frisch emporflackernden Gefühle zu dämpfen, abzustumpfen, warum unterlagen die beiden guten Alten nicht einer ähnlichen Wirkung?
»Sie sind nicht täglich Zeuge eines widerwärtigen Familienlebens,« sprach ich unbewußt laut vor mich hin, indem meine Füße wie angewurzelt stehen blieben und meine Blicke scheu auf den beiden Thürmen hafteten, »sie verkehren nicht, gleich mir, ausschließlich mit Vorgesetzten, welche gar kein Familienleben kennen und deren Züge daher nie ein wahrhaft freundliches, theilnahmvolles Lächeln erhellt.«
Mich schauderte.
»Oder sollte es Gründe geben,« vibrirte erschreckt und scheu die Frage in meinem Herzen, »sollte es Gründe geben, welche die Menschen veranlassen, bei ihren unerfahrenen Mitmenschen die natürlichsten und berechtigsten aller Gefühle, die Liebe zu Angehörigen und Freunden gänzlich zu ersticken?«
Meine Begriffe drohten sich zu verwirren. Wie auf schwindelnder Höhe sich vor jähem Hinabstürzen in einen schwarzen Abgrund zu bewahren, spähte der Geist ängstlich nach Haltepunkten. Ich versuchte, mich anzuklammern an die mir durch den greisen Fröhlich kundgewordenen Zaubersprüche. Eine schwanke Raststätte boten sie mir wohl, allein in ihrer Nacktheit nicht den Felsen, auf welchen ich fest hätte fußen können. Aber zum Samenkorn waren sie geworden, in welchem ein zarter, lebensfähiger Keim schlummerte, der nur der Wärme und des Lichtes bedurfte, um zu wachsen, um ein allmählich zum kräftigen Stamme erstarkendes Reis empor zu senden. Und Erstere war ihm bereits geworden, eine heilige, göttliche Wärme, welche aus dem biederen, treuen Herzen, diesem Herzen voll Liebe der alten Plätterin ausströmte, eine Wärme, welche den sich noch verschlafen dehnenden Keim aus seinem Scheintode rüttelte, aber nicht ausreichte, seinem Mark die erforderliche Widerstandsfähigkeit zu verleihen. Er verlangte auch Licht, helles, klares Licht, um nicht, ähnlich einer schwächlichen Ranke auf dem Erdboden dahin zu kriechen oder unselbstständig sich an anderen Körpern empor zu winden. Licht, helles klares Licht; und solches konnte sich nicht entzünden in dumpfem Hinvegetiren und ohnmächtigem Unterwerfen unter unklare Einflüsse, sondern nur im feindlichen Zusammenstoß mit einer giftigen Atmosphäre, im kühnen Auflehnen gegen aufgedrungene, unbegreifbare, den Geist verkrüppelnde Lehren.
Ohne zu wissen, was ich that, hob ich die Faust empor.
»Zum falschen Schwur,« wiederholte ich in Gedanken, indem ich die beiden in der Dämmerung allmählich zerfließenden Thürme bedrohte. Gerade über ihnen funkelte ein prächtiges Sternbild. Ueber die Thürme fort betrachtete ich ahnungsvoll die räthselhaften Weltkörper, deren jeder still die ihm von der gewaltigen allverbreiteten Kraft vorgeschriebene Bahn vollendete, ohne jemals seine Stellung zu den ewigen Gefährten zu verändern. Welche Unendlichkeit! Welche Erhabenheit! Banges Sehnen ergriff mich. Ich dachte an ein liebliches Haideröschen, an eine bleiche Lilie. Neue Wärme strömte aus einer fernen, fernen Waldung zu mir herüber; verheißendes Licht grüßte mich geheimnißvoll von dem milde strahlenden Firmament.