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In seiner Art, mich zu peinigen, konnte dem Antiquar ein gewisses System nicht abgesprochen werden. Er hatte sich dafür entschieden, mich wie einen Verbrecher zu behandeln, welcher ihn um ein Haar des noch unerklärten zukünftigen Schwiegersohnes beraubte, und dieser Vorsatz mußte daher auch mit aller Strenge gewissenhaft ausgeführt werden. Splint stand sich dabei am besten. Zarte mütterliche Besorgniß erkundigte sich wiederholt nach seinem Befinden und suchte den robusten Körper durch ebenso nahrhafte, wie wohlschmeckende Speisen gegen die nachtheiligen Folgen meines hinterlistigen Mordangriffs zu stählen. Die allzurunde Henriette dagegen fädelte schwerlich jemals in ihrem Leben eine Nähnadel mit mehr peinlicher Sorgfalt ein, als sie jetzt von Zeit zu Zeit den Streifen englischen Pflasters von der sommersprossigen Stirn löste und durch einen neuen, weit über die kleine Hautritze hinausreichenden ersetzte. Ich glaube, im Stillen war sie mir für den wohlgezielten Wurf mit dem Dintenfaß nicht minder dankbar, als ihre Schwester, nur daß Beider Empfindungen aus entgegengesetzten Beweggründen entsprangen. Denn hätte die herbstlich dürre Melusine dem armen Splint für den ihrer Schwester ertheilten Vorzug einen wirklichen Schädelbruch gegönnt, so hieß die runde Henriette mit Thränen der Rührung in den kleinen Augen die Duodezwunde als eine vom Himmel selber herbeigeführte Gelegenheit willkommen, dem schüchtern schmachtenden Geliebten eine untrügliche Probe von der Leichtigkeit ihrer jungfräulichen Hand zu liefern.
Doch auch Nickel war durch das verschwollene Auge den Herzen der christlich-frommen Familie um ein Bedeutendes näher gerückt worden. Trug er doch der Antiquariatsmutter erst wenig gebrauchtes Taschentuch um seine Stirn geschlungen, und dabei kaute er mit einem solchen Behagen, als ob sich wirklich etwas Schmackhafteres, als der gewöhnliche trockene Salzkuchen zwischen seinen Zähnen befunden hätte. Jedenfalls pflegte man ihn so, daß er bei den etwa nothwendig werdenden Zeugenaussagen auf Seiten seines langjährigen Herrn Principals stand und mich die undankbarste Creatur nannte, welche jemals alle ihr entgegengetragene Liebe und mit dem schwärzesten Verrath lohnte.
Den ersten Beweis ihrer zuverlässigen Treue lieferten die beiden Genossen, als Sachs mich aus dem verschlossenen Hinterzimmer abholte, um mich persönlich nach der Schule zu begleiten. Splint erklärte sich auf der Stelle bereit, trotz des schwarzen Pflasters hinter mir zu gehen, um jedem Fluchtversuch vorbeugen zu können. Ebenso bereit war Nickel, während der Abwesenheit der beiden Herren die Geschäfte im Laden allein und zwar mit überraschender Aufmerksamkeit zu versehen.
Die wohl überlegte Absicht, mich vor den Leuten auf der Straße zu erniedrigen, konnte, sollte auch wohl nicht, mir verborgen bleiben. Je tiefer ich aber gedemüthigt wurde, um so empfänglicher wurde ich – wie später ich leicht enträthselte – nach der erfahrungsreichen Ueberzeugung meiner Lehrer und unbekannten Freunde für die mir zugedachten Unterweisungen und einzuimpfenden Grundsätze.
Und dennoch verfehlten sie diesmal ihren Zweck. Im Bewußtsein meiner Unschuld bewegte ich mich so fest und aufrecht neben dem Antiquar einher, als hätten wir uns auf einem Spaziergange befunden. Weder die uns befremdet nachschauenden Nachbarn, noch den mit einem schweren Knotenstock bewehrten Splint würdigte ich der Beachtung. Ich warf sogar, nachdem wir auf die Straße hinausgetreten waren, einen kalten Blick nach dem ersten Stockwerk hinauf, wo die um das Leben von Gatten und Freund besorgten Damen des Hauses, jede aus einem besonderen Fenster, auf die Straße hinabspähten und aus der kühnen Haltung der beiden Theuren neue Lebenshoffnungen schöpften.
»Gehe nicht zu dicht neben ihm!« tönte es von den bis auf einen Gedankenstrich verschwundenen Lippen der Antiquariatsmutter angstvoll nieder.
»Herr Splint, beschützen Sie meinen theuren Vater!« flötete es süß aus dem Kirschenmunde.
»Wenn er wollte, schlüge er sie Beide zu Brei,« meinte die herbstlich dürre Jungfrau bitter, und ihre Stimme klang, als sei der Vergleich zwischen mir und meiner kühnen Eskorte zu meinen Gunsten ausgefallen.
»Seid unbesorgt, Gottes Auge wacht überall,« tröstete Sachs so christlich-fromm nach den Fenstern hinauf, daß ein vorübergehender Scherenschleifer aus der Nachbarschaft sich bewogen fühlte, die langschirmige Philistermütze vor ihm zu ziehen. Splint lüftete dagegen nur ritterlich seinen Hut, wodurch das schwarze Pflaster in seinem ganzen Umfange sichtbar wurde, und dahin zogen wir so feierlich, als hätte ich geraden Weges auf das Schaffot geführt werden sollen.
Bevor wir in den vergitterten Hof des Convicts einbogen, warf ich einen mißtrauischen Blick auf die drei Kirchenportale. Sie machten heute den Eindruck von Kerkerpforten auf mich, hinter welchen unzählige goldene Jugendhoffnungen ihr Grab gefunden. Welchen festen Boden hatten meine eigenen, in unbestimmten Formen durcheinander wogenden Hoffnungen, wenn ich, betäubt durch Orgelton und Weihrauch, geblendet durch schillernden Glanz, mich süßen, oft genug frevelnden Träumereien hingab? Alles, Alles Sinnenrausch! Gen Himmel wiesen noch immer die beiden verwitterten Thürme!
Die schleichende Pedellmumie mit den betenden Lippen bekreuzigte sich, als sie meiner in dem düsteren Kreuzgange des Convicts ansichtig wurde.
»Hat der Herr Zögling gefrühstückt?« fragte sie den Antiquar mit einem überirdisch ergebungsvollen Lächeln.
»Er hat, er hat,« antwortete Sachs hohl, indem er dem wandernden Skelett die Hand drücke, und mit Gewalt schien er seine tiefe Bewegung zu bemeistern, »Sie kennen mich; stets war ich schwach gegen meine Mitmenschen. Ich konnte es nicht über's Herz bringen – nur ein Täßchen Kaffee und ein Brödchen – das ist Alles.«
Der Pedell bekreuzigte sich wieder inbrünstig und reichte auch Splint die Hand.
»Nun, es schadet wohl nicht,« versetzte er seufzend, »denn auch ich bin kein Muhamedamer, und Wasser und Brod wird selbst dem kräftigsten Menschen auf die Dauer unerträglich.«
»Ist schon ein Beschluß gefaßt worden?« fragte Sachs lebhafter.
»Noch nicht,« beteten die gefälligen Lippen, »zu heute Nachmittag wurde erst die Conferenz anberaumt.«
»Und bis dahin?«
»Stille, beschauliche Einsamkeit. Der Herr Director wünschen indessen, Sie vorher zu sehen.«
»Sehr wohl, ich stehe zu Befehl. Herr Splint,« wendete der Antiquar sich an diesen, »mein lieber Freund, die von dem verblendeten jungen Manne geschlagene Wunde bedarf gewiß der Pflege, ich will Sie daher nicht länger zurückhalten.«
Der Buchhalter verstand den Wink. Er zog vor dem Pedell den Hut und kehrte ihm seine Stirn und das gewaltige Pflaster zu, was ein neues Bekreuzigen zur Folge hatte; dann entfernte er sich langsam, in seinen Bewegungen große, durch den Blutverlust erzeugte Mattigkeit verrathend.
»Ein böser Schlag muß es gewesen sein,« bemerkte der Pedell, dem Scheidenden theilnahmvoll nachblickend.
»Ein sehr böser, ein grausamer Schlag,« bestätigte der Antiquar, ohne mich zu beachten, denn ich war ja nur noch ein willenloses, etwas in Unordnung gerathenes und deshalb der Ausbesserung bedürfendes Stück Geräth, »übrigens ein braver Mann dieser Splint; steht meinem Herzen sehr nahe; er leidet offenbar weit mehr, als er äußerlich kund giebt.«
Unter solchen Gesprächen waren wir in einen schmalen Gang eingebogen, welcher vor einer kleinen, eisenbeschlagenen Thür endigte. Diese Thür kannte ich schon lange und nie hatte ich sie ohne heimliches Grauen angesehen. Seltsamer Weise erschien sie mir heute weniger schreckhaft. Ich sehnte mich sogar, durch sie von Personen getrennt zu werden, welche das Peinigen förmlich studirt hatten. Denn gerade durch ihre Nichtachtung meiner Person suchten sie am meisten entmuthigend auf mich einzuwirken, erreichten aber nicht, daß die in meinem Wesen scharf ausgeprägte Unbefangenheit mich auch nur vorübergehend verließ. Wie man bisher mir keine Aufmerksamkeit zollte, eben so wenig beachtete ich die Worte des Pedells, mit welchen er mich in den engen Raum einführte, der nur durch ein kleines vergittertes Fenster unzureichendes Licht erhielt. Zum Lohn für diese Rücksichtslosigkeit schmetterte er beim Hinausgehen die Thür in's Schloß, daß ringsum der feuchte Kalk von den Wänden rieselte. Eben so geräuschvoll schob er die schweren eisernen Riegel vor. Doch die Erfahrungen der letzten vierundzwanzig Stunden hatten mich bereits gegen die Wirkung solcher gehässigen Kundgebungen gestählt; denn die beiden würdigen Freunde waren kaum aus meiner Hörweite getreten, da hatte ich sie vergessen.
Ein schwerer Tisch, zu klein, um darauf zu liegen, und ein Brettstuhl ohne Lehne bildeten die Möbeleinrichtung der widerwärtigen Höhle. Wie aber der Fußboden zu feucht zum Lager für einen ermüdeten Körper, eigneten sich auch die Wände mit dem verwitterten Kalküberzug und den übelriechenden Schwammfeldern nicht, die fehlende Stuhllehne zu ersetzen. So war mit grausamer Ueberlegung dafür gesorgt, daß jedem dort Büßenden die Zeit möglichst qualvoll verstreichen mußte. Die Bezeichnung Carcer verschleierte einen Kerker, in welchen einen Mordbrenner einzuschließen, die weltliche Gerichtsbarkeit nie gewagt haben würde.
Mit bitterem Lachen schleuderte ich durch einen Fußtritt den Schemel vor den Tisch. Mit bitterem Lachen begrüßte ich den vollen Wasserkrug, dessen weite Halsöffnung durch eine mäßig starke Brodschnitte zugedeckt wurde; dann warf ich mich auf den Stuhl, mit nur matt gegen Verzweiflung kämpfendem Trotz, Arme und Kopf auf den Tisch stützend. Da fühlte ich den Druck des auf meiner Brust verborgenen Buches und zugleich entschlüpfte meinen Lippen ein Ausruf der Freude. Wonach ich mich seit meinem Besuch bei dem alten Gelehrten fast beständig krankhaft sehnte, das hatte ich plötzlich unerwartet erreicht: Ich durfte mich ungestört in das Anschauen jener Bilder versenken, welche von Anfang an einen so unwiderstehlichen Zauber auf mich ausübten.
Gleich darauf lag das geöffnete Buch vor mir. ›Martha‹, las ich wieder; dann sah ich so lange in das liebliche Mädchenantlitz, bis ich meinte, daß warmes Leben die holden Züge durchströmte, die freundlichen Augen mit innigem Verständniß zu mir aufschauten. Ich meinte sogar, schon früher in dieselben freundlichen Augen gesehen zu haben; denn je länger ich meine Blicke auf sie gerichtet hielt, um so vertrauter wurden sie mir, und doch wußte ich nicht, nach welcher Richtung hin eine Lösung dieses Räthsels zu suchen gewesen wäre.
Die Zeit verrann. In meinem Gesichtskreise befand sich nichts, kein Sonnenstrahl oder Schatten, wonach ich das Entfliehen der Stunden hätte berechnen können. Auch fühlte ich dazu keine Neigung. Vorwärts und rückwärts durchblätterte ich das Buch, stets mit derselben Theilnahme jede einzelne der kunstvoll ausgeführten Zeichnungen betrachtend und prüfend. Vergeblich aber suchte ich nach weiteren Namen; überall das steife, sich rückwärts neigende gothische ›W‹, überall das zwischen den geschweiften Zügen des ›W‹ sich hindurchwindende lateinische Z. Ebenso las ich immer wieder die Verse, welche manchen Bildern beigefügt waren. In ihren zarten Anspielungen auf Liebesglück erinnerten sie mich an den Gesang der Nachtigall, welchem ich in fern zurückliegenden Tagen in der Umgebung des heimatlichen Dorfes so gern zu lauschen pflegte. Damals wie jetzt wußte ich nicht, worin der eigentliche Zauber lag, daß es wie süße, geheimnißvolle Ahnungen durch meine Seele zog.
Blatt auf Blatt schlug ich um, rückwärts und vorwärts. Die düsteren Wände, welche mich umschlossen, verwandelten sich in heiteres Waldesgrün; sorglos trank ich von dem frischen Wasser und aß ich mein trockenes Brod. Es schmeckte nicht schlechter, als die Speisen auf dem Tische des Antiquars; und als mich endlich die Müdigkeit übermannte, und ich, Kopf und Arme auf dem offenen Buche rastend, einschlief, da sah ich wieder das liebliche Mädchenantlitz vor mir, wie es mir holdselig und tröstlich zulächelte. –
Harsch weckte mich aus meinem süßen Träumen das geräuschvolle Zurückschlagen der Riegel. Erschreckt fuhr ich empor. Ich mußte mich besinnen, wo ich war, und kaum hatte ich das Buch wieder auf meinem Körper geborgen, als die Thür kreischend nach außen wich und das wandelnde Skelett vor mir stand.
»Die hochwürdigen Herren sind versammelt,« zitterten die unermüdlichen Lippen gräßlich feierlich, »folgen Sie mir, man erwartet uns.«
Obwohl eine derartige Aufforderung voraussehend, strömte es fröstelnd durch meine Glieder. Ich faßte mich indessen, und mein Haupt trotzig bedeckend, trat ich an dem Pedell vorbei auf den Flurgang hinaus. Die Lage des Conferenzzimmers kannte ich. Anstatt daher dem Pedell zu folgen, der mit seinen feuchten Lippen ungewöhnlich eilfertig die Perlen eines unsichtbaren Rosenkranzes abzählte, schritt ich ihm stolz voraus. Ebenso zuversichtlich klopfte ich an die Thür des Conferenzsaales. Eine Aufforderung von innen wartete ich nicht ab, sondern mit festem Griff öffnend, trat ich zum Entsetzen der elendiglich zusammenschrumpfenden Pedellmumie ein. Sobald ich aber die erstaunten Blicke von zehn oder zwölf Herren im schwarzen Ordensanzuge auf mich gerichtet sah, sank mir der Muth wieder. Denn hier, wie auf andern Stätten, hatte man alle nur denkbaren äußeren Mittel zu Hülfe genommen, verwirrend, einschüchternd auf eine jugendliche, leicht erregbare, gleichsam ängstlich umherflatternde Phantasie einzuwirken.
Oben an einem langen grünen Tisch saß der Director oder vielmehr der Superior. Vor ihm standen zwei silberne dreiarmige Leuchter mit brennenden Wachskerzen. Rechts von ihm saß ein hervorragender Caplan der nahen Kirche. Die übrigen Herren reihten sich zu beiden Seiten an einander, so daß das untere Ende des Tisches offen blieb. Der Pedell hatte mit gefalteten Händen neben der Thür seinen Posten eingenommen. Die Fenstervorhänge waren niedergelassen worden; die Wechselwirkung von gedämpfter Tageshelle und Kerzenschein erzeugte eine an Leichenhallen und Katafalke mahnende Beleuchtung.
Mehrere Minuten verrannen in lautloser Stille. Nicht um mich zu sammeln und mich an die Umgebung zu gewöhnen, gönnte man mir diese Frist, sondern um meinen Athem zu verkürzen, meinen Pulsschlag zu beschleunigen, mir den Ernst meiner verhängnißvollen Lage recht eindringlich und erschütternd vor Augen zu führen.
»Furchtbare Anklagen gegen Dich sind eingelaufen,« hob der Director endlich an, während sein glattes Gesicht die kalte Regungslosigkeit einer Todtenmaske bewahrte; »nicht genug, daß Du ohne Erlaubniß oder triftigen Grund die Unterrichtsstunden versäumtest, hast Du Dich zu feindseligen, sogar mörderischen Angriffen auf unschuldige Häupter hinreißen lassen.
»Meine alte Pflegemutter, meine Wohlthäterin,« begann ich höflich, als der Superior mit eisiger Ruhe mir das Wort abschnitt.
»Du bist nicht hierher beschieden worden, um Dich zu entschuldigen,« hob er an, während die übrigen Herren beifällig nickten, »sondern zu vernehmen, was über Dich verfügt wird. Nur einige Fragen stelle ich an Dich, um Dir die Möglichkeit des Verdachtes zu rauben, Du seist ungerecht verurtheilt worden. Beschränke daher Deine Antworten auf ›Ja‹ und ›Nein‹. Was darüber ist, ist vom Uebel und ändert Deine Lage höchstens zu Deinem Nachtheil.
»Erkläre also; hast Du gestern Nachmittag ohne genügende Entschuldigung die Lehrstunden versäumt?«
»Ja,« antwortete ich fest, denn dieser Ansprache hatte es nur bedurft, um mich gewissermaßen mir selbst zurückzugeben.
»Hast Du gestern um Mittag die beiden Gehülfen Deines nächsten Vorgesetzten lebensgefährlich verwundet?«
»Nein,« erwiderte ich entschlossen, »wenigstens nicht lebensgefährlich.«
»Halte Dich an meine Befehle,« ermahnte der Director mit der Regungslosigkeit einer Pagode unter dem Beifall spendenden Rücken mehrerer Stühle; »doch ich will meine Fragen anders stellen: Hast Du einen jungen Mann, Namens Niklas, mit der Faust in's Gesicht geschlagen, und einem gewissen Herrn Splint einen schweren Gegenstand an den Kopf geworfen?«
»Ja,« versetzte ich schnell und aus vollem Herzen, denn meine mit nichtswürdiger Berechnung aufgestachelten Leidenschaften glichen nunmehr dem gestauten Wasser eines Mühlbachs, vor welchem nur die Schleuse geöffnet zu werden braucht, um eine unaufhaltsame Strömung zu erzeugen. »Ja, ich that es,« wiederholte ich tief aufseufzend, »und geriethe ich heute in eine ähnliche Lage, würde ich genau ebenso handeln.«
Wiederum das Rücken der Stühle. Dieses Mal bedeutete es Entsetzen über meine beispiellose Verstocktheit.
»Ist Alles vorbereitet?« fragte der Superior die Pedellmumie, anstatt mir meine Kühnheit zu verweisen.
»Alles,« betonten die regsamen Lippen, und in erschütternder Weise rangen sich die gefalteten Hände ineinander.
»So mögen wir fortfahren,« las der Superior feierlich von dem grünen Tuche des Tisches ab; »Indigo, ich mache Dich darauf aufmerksam, daß Du durch den langjährigen Besuch dieser Anstalt Verpflichtungen gegen Deine unbekannten Wohlthäter, wie gegen die Menschheit im Allgemeinen übernommen hast; Verpflichtungen, von welchen Du durch keine Macht der Erde entbunden werden kannst. Deine Zukunft gehört der Kirche, welche sich Deiner annahm, durch reichlich gespendete Segnungen und, leider bisher ohne sichtbaren Erfolg gebliebene Heilsmittel Dich zu ihrem ausschließlichen Eigenthum machte. So gebieten es heilige Gesetze, so wollen es Diejenigen, welche ein Recht besitzen, über Deine Zukunft zu bestimmen. Stehend am Vorabend Deines wirklichen Noviziates und Deiner gänzlichen Uebersiedelung in diese Anstalt, mußt Du als reif erachtet werden, Solches ohne weitere Erläuterungen von meiner Seite zu begreifen. Gleichermaßen ist Dir nicht fremd, daß mir alle Mittel zu Gebote stehen, selbst die schärfsten, abirrende Gemüther in die ihnen streng vorgeschriebenen, ihr eigenes Seelenheil wie das Anderer bedingenden Bahnen zurückzuführen. Bei Dir ist das eine schwierige Aufgabe, weil es Dir trotz der sorgfältigsten Ueberwachung gelang, mit Elementen zu verkehren, welche das Höllengift der Menschheit genannt zu werden verdienen. Es fehlte nur noch, daß Du heimlich dem allen göttlichen Gesetzen Hohn sprechenden, die Weltordnung untergrabenden, entsittlichenden, in Ewigkeit verfluchten Freimaurerorden beiträtest, um das Maß der Verruchtheit zum Ueberströmen zu bringen.
»Dein feindlicher Angriff auf harmlose Menschen könnte als eine menschliche Schwäche gesühnt und verziehen werden. Anders verhält es sich dagegen mit Deiner frevelhaften Behauptung betreffs der Menschheit Christi. Solche Gedanken sind nicht in Deinem eigenen Kopfe entstanden; Du mußt nothgedrungen in Beziehung zu Jemand stehen, welcher, unermeßliches Uebel bezweckend, Dir die willkürliche Benutzung der Bibel gestattete. Diesen Mann nenne jetzt, bevor ich Maßregeln gegen Dich in Anwendung bringe, welche Deinen Körper schmerzlicher treffen, als Deine verstockte, so Gott will aber zu erhöhtem, frommem Verständniß erwachende Seele.«
Diese Androhung körperlicher Strafen war gleichbedeutend mit dem Oeffnen der meine wild erregten Leidenschaften nur noch matt hemmenden Schleuse. Ich fühlte, wie ich erbleichte; mein Athem stockte auf Secunden. Dann aber richtete ich mich freier empor und meinen Inquisitor fest ansehend, sprach ich mit wahrer Todesverachtung, daß es laut durch den düsteren Raum schallte:
»Woher ich jene Worte nahm, welche Ihnen so dienstfertig von dem Antiquar übermittelt wurden, verrathe ich nie, obwohl Derjenige, der mich zuerst auf sie hinwies, sich wenig darum kümmern würde –«
»Das Weib!« zischte der Caplan, der nur noch mit Mühe an sich hielt.
»Nicht sie!« rief ich mit wachsender Entrüstung aus, »denn so weit reicht die Gelehrsamkeit jener einfachen, biederen, hochachtbaren Frau nicht; doch wenn meine Aeußerungen Ihre Mißbilligung finden, warum versuchen Sie nicht – und Sie sind mein Lehrer – dieselben zu widerlegen?«
»Verfluchter!« donnerte nunmehr der Caplan mir zu, indem er geräuschvoll emporsprang und ein dreifaches Kreuz gegen mich schlug, wozu die übrigen Anwesenden pflichtschuldigst Beifall nickten; »Du mit Blindheit geschlagener, vom Bösen besessener Aussätziger! Du wagst es, aus dem Pfuhle Deiner Verruchtheit Deine Lehrer herauszufordern, sich mit Dir in frevelhafte Dispute einzulassen über Dinge, welche Dir der Antichrist selber eingab? Meinst Du, es gäbe keine Geißeln mehr, Dein verfluchtes Fleisch so lange zu züchtigen, bis dem Teufel der Aufenthalt in demselben zu heiß und zu enge?«
Dumpfes Schweigen folgte auf diese allerdings nur für ein jugendlich unerfahrenes, leicht einzuschüchterndes Gemüth berechnete fanatische Beschwörung. In dem spöttischen Lächeln aber, mit welchem ich den Blicken des Wüthenden begegnete, mußte er lesen, daß ich den Ausbruch seines kochenden Zornes nur als eine in Scene gesetzte Drohung betrachtete, um mich auf den ersten nach mir geführten Stoß wieder in ein willenloses Individuum zu verwandeln, mich noch unterwürfiger zu machen, als ich je zuvor gewesen. Denn mit dem Ausdruck des Entsetzens, sogar rathlos starrte er seine ebenso entsetzten Collegen der Reihe nach an, bevor er wieder Worte fand. Ich dagegen fühlte noch immer meinen Muth wachsen; lieber wäre ich auf der Stelle unter den gräßlichsten Martern gestorben, bevor ich eine Silbe widerrufen oder meinen Verführer genannt hätte. Die sichtbare Wirkung meines unerschrockenen Auftretens auf das ganze Collegium aber erschien mir als der untrüglichste Beweis für die helle Wahrheit der mir von dem alten Gelehrten gewordenen Andeutungen, für die Berechtigung der durch diese in meiner Seele wachgerufenen Zweifel.
»Verworfener Gottesleugner!« donnerte der Caplan von neuem unter dem beifälligen Stuhlrücken seiner Collegen, während der Director mit niedergeschlagenen Augen dasaß und offenbar alle ihm zu Gebote stehenden Züchtigungsmittel erwog, »verworfener Gottesleugner!« wiederholte er plötzlich sanfter, »ich wage nicht einmal die Heiligen zur Fürbitte für Dich anzurufen.«
»Bemühen Sie sich nicht, Hochwürdiger,« versetzte ich, als er zur Verschärfung des Eindruckes eine kurze Pause machte, denn die Schleuse war jetzt vollständig durchbrochen und mit wildem, jede Gefahr verhöhnenden Entzücken beobachtete ich die nächsten Folgen meiner Verwegenheit, »nein, bemühen Sie sich nicht; ich bedarf keiner Fürbitte fremder Vermittler, nur eine einzige Gewalt erkenne ich an, und die ist zu groß, zu erhaben, um nur einen einzigen besonderen Namen für sich zu beanspruchen, zu heilig, zu gerecht, als daß Ihre Strafandrohungen, indem ich auf jene Macht vertraue, mir Furcht einzuflößen vermöchten!« und wilder, enthusiastischer, wie in einem keine Grenzen kennenden oder scheuenden Paroxismus, unbekümmert, ob der Anschluß an das bereits Gesagte ein logischer, nur beseelt von dem einzigen Gefühl der Rache und der Sehnsucht – wie Fröhlich mir ankündigte – die Finsterlinge zusammenschauern zu sehen, fuhr ich fort:
»Was durch die Berührung feuchter, ungleichartiger Theile erweckt, in allen Organen der Thiere und Pflanzen umtreibt; was die weite Himmelsdecke donnernd entflammt, was Eisen an Eisen bindet und den stillen, wiederkehrenden Gang der leitenden Nadel lenkt. Alles, wie die Farbe des getheilten Lichtstrahls, fließt aus einer Quelle; Alles schmilzt in eine ewige, allverbreitete Kraft zusammen!«
Langsam und mit einem Ausdruck, wie ich ihn vielleicht an dem alten Fröhlich bewunderte, hatte ich die durch vielfaches Lesen mir geläufig gewordene Stelle hergesagt, und als ich schwieg, da hätte man in der geräumigen Halle ein Blatt können fallen hören. Nur hinter mir, da, wo die Pedellmumie auf die Kniee gesunken war, ertönte ein verzweiflungsvoll geseufztes:
Secunden verrannen. Ueber den Tisch hin kreuzten sich starre Blicke. Man schien seinen Sinnen nicht zu trauen. Jedoch nicht, weil ich etwa durch mein unerschrockenes Auftreten Scheu eingeflößt hätte oder meine Gegner von Zweifeln befangen gewesen wären, mich bändigen zu können. Nein; in dem wunderbar beredten Schweigen aller Anwesenden prägte sich nur Entsetzen aus, nur der tiefe, unversöhnliche Haß gegen Denjenigen, welchen sie als ihren gefährlichsten Feind betrachteten und dessen Naturschilderungen, trotz aller Wachsamkeit, dennoch den Weg bis unter ihre Augen gefunden hatten. Nur auf dem glatten Antlitz des mit einer gewissen Ueberlegenheit vor sich niederschauenden Directors spielte ein bezeichnendes, jedoch kaum wahrnehmbares Lächeln. Dann aber, als bereits ein dumpfes Gefühl der Besorgniß über meine eigene Kühnheit sich meiner bemächtigte, brach der Sturm los.
»Alexander von Humboldt!« entwand es sich auf der einen Seite des Tisches geifernden Lippen. »Seelenmörder!« gellte der Caplan mit gen Himmel erhobenen Händen. »Heuchlerische Ansichten der Natur,« bewiesen andere Stimmen, daß man die Quelle, aus welcher ich schöpfte, weit besser kannte, als ich selbst.
»Ich bitte um Ruhe,« ließ des Superiors sonores Organ sich vernehmen, und seine Augen ruhten mit einem mich durchschauernden Mitleid auf mir. »Wohl ist es erklärlich, gerechtfertigt, wenn die Leidenschaften höher wogen bei diesem neuen Beweise, daß das seelenmörderische Treiben des Hauptvertreters der modernen Naturwissenschaften seine Einflüsse bis in die verborgensten Winkel hinein übt; denn man darf und kann diese Prädicirung der Ewigkeit von der Einen, allwirksamen Naturkraft für keine leere Floskel halten, weil viele Stellen in den Werken Humboldts beweisen, daß er in der Theologie über den Pantheismus nicht hinausgekommen ist, und daß er von einer Weltschöpfung in christlichem Sinne keine Ahnung hat.1 Allein zu weit wäre es gegangen, wollte man die sinnlosen Wiederholungen eines wahnwitzigen Knaben für etwas Anderes ansehen, als den ausdruckslosen Ton einer zufällig angeschlagenen zersprungenen Glocke. Gestatten Sie mir daher, einfach nach meinem eigenen Ermessen und frei von jeder Leidenschaftlichkeit zu verfahren und mir demnächst erst Ihr Gutachten zu erbitten. Pedell, wo ist das Gewand?«
Der Angeredete brach mitten im ›Ave Maria‹ ab und erhob sich.
»Hier ist es,« antwortete er dienstfertig, indem er einen grau leinenen Gegenstand unter seinem Rocke hervorzog.
»Indigo, lege an das Kleid der Buße,« befahl der Director mit einer so zuversichtlichen Ruhe, daß ich zitternd in die Rolle eines ohnmächtigen Sclaven zurücksank. Indem aber der Pedell die Leinwand auseinander rollte und ich die langen Aermel einer Zwangsjacke erblickte, mittelst deren meine Arme auf der Brust kreuzweise zusammengeschnürt werden sollten, bäumte das Gefühl verletzter Menschenwürde sich unwiderstehlich in mir empor. Im Geiste sah ich mich schmachvoll gebunden und fühlte ich die mir zuerkannten unbarmherzigen Geißelhiebe. Eine Ahnung sagte mir, daß ich aus einem solchen, mit weitgehender Berechnung gegen mich eingeleiteten Verfahren mit gebrochenem Gemüthe und an der Zukunft verzweifelnd hervorgehen würde, um mich fortan den Blicken meiner Mitmenschen ängstlich Aus der Wiener Kirchenzeitung. zu entziehen, wohl gar zerknirscht und nach einem letzten Halt suchend, meinen Peinigern selbst in die Arme zu taumeln. Hierzu gesellte sich die Furcht, durch das auf meinem Körper verborgene Buch des Diebstahls überführt zu werden. Trotzdem war die mir anerzogene Unterwürfigkeit noch immer so groß, daß ich anfänglich nur einen Schritt zurücktrat und die Hände auf dem Rücken faltete, um dadurch den mir von dem Pedell vorgehaltenen Aermelöffnungen auszuweichen.
»Lege das Gewand der Buße an, verstockter Sünder!« befahl der Superior zum zweiten Male, indem er sich erhob, und auf einen Wink von ihm trat der Pedell zwischen mich und den Ausgang.
»Nimmermehr!« schrie ich auf dem Gipfel meiner Todesangst.
»Wir werden uns an dem Werk betheiligen müssen,« bemerkte der Director ruhig, als hätte er meinen Ruf nicht vernommen. Dann schritt er um den Tisch herum, für das Collegium ein Zeichen, sich ebenfalls zu erheben.
Einen einzigen, gleichsam ersterbenden Blick warf ich noch um mich. Nirgend entdeckte ich eine Miene des Bedauerns oder der Theilnahme. Nur noch einen letzten Weg der Rettung gab es für mich, und mit dem Muthe der Verzweiflung und unbekümmert um alle möglichen Folgen schlug ich ihn ein.
Mit voller Wucht mich auf den einen solchen Angriff nicht ahnenden Pedell werfend, schleuderte ich den Ueberraschten durch einen heftigen Stoß zur Seite, und bevor die auf mich eindringenden Herren die Thür erreichten, hatte ich sie geöffnet und vom Flur aus wieder krachend in's Schloß geworfen. Wohl vernahm ich hinter mir Poltern und mit lauter Stimme ertheilte Befehle, allein das diente nur dazu, meine Schritte zu beflügeln, und ohne mich nach meinen Verfolgern umzuschauen, eilte ich über den Hof durch das den Tag über nur eingeklinkte Gitterpförtchen auf die Straße hinaus. Sobald ich meinte, vom Schulgebäude aus nicht mehr gesehen zu werden, blieb ich stehen, um nicht den Argwohn Vorübergehender zu erwecken, und behutsam über den vergitterten Hof spähend, ging ich mit mir zu Rathe, wohin ich mich zunächst wenden sollte. Zu meinem Befremden setzte Niemand mir nach. Man scheute entweder, öffentliches Aergerniß zu geben, oder kannte sichrere und weniger auffällige Mittel, sich meiner wieder zu bemächtigen. Zur Fortsetzung der Flucht erforderte es daher die äußerste Vorsicht und meinen gespanntesten Scharfsinn, oder ich gerieth dennoch in die Lage, eine Züchtigung zu erleiden, gegen welche das mir bereits angedrohte Verfahren kaum ein Schatten genannt zu werden verdiente.
Erfüllt von Mißtrauen gegen alle Menschen und überall Verrath befürchtend, bog ich in den schmalen Gossengang ein, welcher den die Straße begrenzenden Seitenflügel der Anstalt von dem Nachbargrundstück trennte. Nach wenigen Schritten erreichte ich eine feste Thür, und einen von der Straße aus unbewachten Augenblick benutzend, schwang ich mich über dieselbe hinüber. Dort befand ich mich wieder auf dem Boden der Anstalt. Es war der abgeschlossene Winkel, in welchem durch ein Seitenpförtchen der Kehricht aufgeschüttet wurde. Fensterlose Wände erhoben sich zu beiden Seiten, vor mir hatte ich dagegen die Aussicht auf eine Mauer, über welche mehrere dichtbelaubte Bäume hinausragten. Sie standen in dem zu dem Convict gehörenden Garten und beschatteten, wie ich bei meinen gelegentlichen, streng beaufsichtigten Spaziergängen in demselben beobachtete, eine kleine Laube, welche zu seiner eigenen Benutzung zu errichten, der Pedellmumie großmüthig gestattet worden war.
Bis an diese Mauer drang ich behutsam vor, und einige lose umherliegende Ziegelsteine dicht an derselben übereinander schichtend, schaffte ich mir mit geringer Mühe einen verhältnißmäßig bequemen Sitz. Ueber mir wölbten sich die Zweige eines von der andern Seite herübergewachsenen Hollunderbusches. Die Nähe der grünen Bäume, deren Anblick so sehr, sehr selten mich erfreute, wirkte tröstlich, beruhigend auf mich ein, gewährte mir sogar inmitten der düstern Mauern ein gewisses Sicherheitsgefühl. An die nächste Zukunft wagte ich kaum zu denken; denn wohin sollte ich mich wenden in meiner Noth? – Die Mildthätigkeit der Menschen ansprechen? Betteln? Mich schauderte, und dennoch schwankte ich keinen Augenblick in dem Entschluß, zu fliehen, mich wieder mit meinen alten Freunden und Wohlthätern zu vereinigen, von welchen ich weiteren treuen Rath zuversichtlich erwarten durfte. Wie aber sollte ich sie erreichen, selbst wenn es mir gelang, die Stadt unentdeckt zu verlassen? Wie ohne jegliche Mittel die lange Reise zurücklegen? Ich gedachte des alten Gelehrten, der mir so bereitwillig die scharfen Waffen gegen meine Peiniger einhändigte, und der armen Sophie, der ich feierlich angelobte, nicht von dannen zu ziehen, ohne ihr wenigstens Lebewohl gesagt zu haben. Doch in dem Hause des Antiquars wachten argwöhnisch zahlreiche Augen, lauerten unversöhnliche Feinde darauf, mich meinen unbarmherzigen Richtern zu überantworten, mich hohnlachend in Verhältnisse zurückzustoßen, welche mich in meiner Phantasie wie ein unergründlicher Höllenpfuhl angähnten.
Träge versank das Tageslicht und langsam ging die Dämmerung in Dunkelheit über. Da vernahm ich Stimmen hinter mir. Ich erschrak, und kaum wagte ich zu athmen, als ich des Antiquars mir unvergeßliches Organ unterschied, wie er betheuerte, sein Möglichstes aufbieten zu wollen, den entlaufenen Bösewicht wieder anzufangen.
»Sie werden wenig genug ausrichten,« versetzte der Pedell ungewöhnlich lebhaft, und ich vernahm, wie er eine Flasche und zwei Gläser in der Laube auf den Gartentisch stellte, »übrigens ein prächtiger Abend, so recht geeignet für ein trauliches Plauderstündchen bei einem Glase Wein, wie es die hochwürdigen Herren selber nicht besser auf ihrem Tisch haben. Bitte, mein guter Doctor, ein Schwefelhölzchen, damit ich nicht vorbeigieße.«
Das Schwefelhölzchen knisterte, ein matter Lichtschein verlor sich in meiner grünen Hollunderbedachung, eine Flasche sprudelte, dann wurde es wieder dunkel und still.
»Auf gute Freundschaft,« hieß es gleich darauf, die Gläser klangen melodisch, und nach einer kurzen Pause nahm der Antiquar wieder das Wort:
»Ein sehr guter Wein – doch ich bin neugierig, was der Hochwürdige mir noch mitzutheilen hat.«
»Vorläufig nichts,« antwortete der Pedell mit beinah menschlich heiterer Stimme, »denn wenn die Herren erst bei Tische sitzen, lassen sie sich ungern stören. Tafelfreuden gehen ihnen über Alles, und ich verdenk's ihnen nicht, zumal sie nur des Abends einige gänzlich ungenirte Stunden abstoßen können. Er wird Sie wahrscheinlich wegen des ausgefeimten Burschen fragen wollen. Aber wenn ich gern Alles glaube, so bezweifle ich doch, daß dieser einfältig genug ist, aus freien Stücken noch einmal seine Füße über Ihre Schwelle zu setzen. Ich bleibe dabei, das Weib, welches ihn aufsuchte, hat ihn verführt, und zu ihm wird er auf alle Fälle zurückkehren.«
»Will man ihn etwa entschlüpfen lassen?« fragte der Antiquar gleichmüthig.
»Behüte,« erwiderte der Pedell munter, »nur kein Aufsehen will man erregen und erst dann die Hand nach ihm ausstrecken, wenn man sicher ist, ihn zu fassen. Ich kenne den Hochwürdigsten. Vor Allem muß man dem Flüchtlinge Zeit gönnen, die Stätte seiner Kindheit aufzusuchen, und ist er erst dort, macht sich Alles ziemlich von selbst. Zu Ihnen in Pension wird er indessen schwerlich wieder gegeben werden. Abgesehen von seinem vorgeschrittenen Alter, haben die Herren auch ihre eigenen Mittel und Wege, widerspänstige Gemüther zu beugen, und ich müßte mich sehr irren, brächten sie ihn nicht an einen Ort, wo es ihm weniger gefällt, als – aber bitte, ein anderes Schwefelhölzchen; lieber ein Auge aus dem Kopfe, als einen Tropfen von diesem kostbaren Gewächs verloren.«
»Jetzt oder nie,« dachte ich, als ich das Geräusch des bei der sich schnell verflüchtigenden Beleuchtung in die Gläser sprudelnden Weines hörte und gleichsam unter dem Schutz desselben mich behutsam erhob, »jetzt oder nie,« wiederholte ich, indem ich, trotz meiner verzweifelten Lage, von unsäglichem Widerwillen gegen die beiden verstohlen zechenden Heuchler erfüllt, der Straße zuschlich und über die mäßig hohe Pforte kletterte. Dann schlüpfte ich in die nur durch die bereits tief stehende Mondsichel beleuchtete, jedoch noch belebte Straße hinaus, wo ich mich sogleich der heimatlichen Gasse zukehrte. Nach wenigen Minuten bog ich in diese ein und gleich darauf befand ich mich dem Hause des Antiquars gegenüber. Es war die Stunde, in welcher vorzugsweise leselustige Schüler, Köchinnen und Schneiderinnen, kurz solche Persönlichkeiten ihre Bücher umzutauschen pflegten, welche entweder ihre Vorliebe für Ritter, Räuber- und Gespenstergeschichten zu verheimlichen wünschten, oder den Tag über durch ihren Dienst gefesselt wurden. Sie kamen und gingen, Splint und Nickel in steter Bewegung erhaltend. Bangen Herzens betrachtete ich das düstere Gebäude, welches mir die vielen Jahre hindurch eine wenig freundliche Heimat gewesen. Auf dem schadhaften Dach ruhten dürftige Mondlichtstreifen. Das vorgebaute Bodenfenster, welches mir so lange Das gewesen, was andern jungen Leuten meines Alters der Turnplatz, Wald und Flur, lag außerhalb meines Gesichtskreises. Niederwärts gleitend begegneten meine Blicke den beiden, matt erhellten Fenstern, hinter welchen der alte Fröhlich über seinen Büchern kauerte. Auf ihn hatte ich zunächst meine Hoffnung gesetzt; es mußte mir nur gelingen, unentdeckt seine Thür zu erreichen. Auch im ersten Stockwerk war man noch munter; doch wenn die beiden erleuchteten Fenster, hinter welchen die Damen des Hauses versammelt waren, mich anwiderten, so meinte ich in den beiden Schaufenstern zur ebenen Erde mehr, denn jemals einen feindseligen Ausdruck zu entdecken. Da standen sie noch immer die beiden großen Kugeln, auf welchen durch atmosphärische Einflüsse die verschlungenen Zeichnungen zum größten Theil verwischt worden waren. Nie hatte ich sie angesehen, ohne sie scheu mit riesenhaften Augäpfeln zu vergleichen. Der Eindruck, welchen sie damals auf mich ausübten, als ich zum ersten Mal an der Hand des biederen Hänge ihrer ansichtig wurde, war ein unauslöschlicher geblieben. Die sie treffende Beleuchtung der hinter ihnen brennenden Gasflammen erzeugte in der Vertheilung von Licht und Schatten die wunderliche Täuschung, als ob das eine getrübte Fensterauge die Gasse aufwärts, das andere abwärts schielte. Nach wem konnten sie spähen, als nach mir? Wie vor Jahren, so zitterte ich auch heute vor ihnen oder vielmehr vor Allem, was hinter ihnen verborgen war.
Doch die Zeit enteilte, der Leselustigen wurden es weniger; in jeder Minute konnte der Antiquar heimkehren und dann war es zu spät.
Entschlossen, wenn auch bange klopfenden Herzens, betrat ich, mehreren Kunden auf dem Fuße nachfolgend, den dunkeln Hausflur. Dort zog ich schnell die Schuhe aus, und wiederum das Heraustreten eines Kunden zu meinen Gunsten benutzend, schlüpfte ich an der Ladenthür vorbei und ich war in Sicherheit. Auf der Treppe hatte ich weniger zu fürchten. Mein Weg lag in undurchdringlicher Finsterniß, und ich hatte ihn ja so unzählige Male in meinem Leben zurückgelegt, daß ich jede einzelne Stufe genau kannte und daher wußte, wohin ich meine Füße stellen mußte, um das verrätherische Knarren zu vermeiden.
Im ersten Stockwerk lauschte ich. Die drei christlich-frommen Familienmitglieder waren in lautem Gespräch begriffen. Eine ihrer gewöhnlichen Meinungsverschiedenheiten schien einen ernsten Streit herbeigeführt zu haben. Um was es sich handelte, gab ich mir nicht die Mühe zu erfahren, obwohl ich mehrfach glaubte, meinen Namen genannt zu hören. Mit derselben Vorsicht setzte ich meinen Weg aufwärts fort und eben so unbemerkt gelangte ich in's zweite Stockwerk hinauf. Als ich indessen meinen Fuß eben auf die letzte Stufe stellen wollte, fühlte ich mich zu meinem Entsetzen von zwei Armen umschlungen; zugleich aber tönte mir Sophiens Stimme tröstlich und beruhigend entgegen.
»Indigo,« flüsterte sie, ihre Lippen meinem Ohr nähernd, »ich wußte, daß Du kommen, daß Du nicht von dannen gehen würdest, ohne mir Lebewohl zu sagen. Darum saß ich, seitdem ich die Kunde von Deiner Flucht erhielt, beständig am Fenster.
»Trotz der Dunkelheit erkannte ich Dich von weitem – ach, Indigo, ich sah nur einen Schatten drüben an den Häusern hinschleichen, und doch wußte, ich, daß es kein Anderer sein konnte – so scharfsichtig machte mich die Angst, daß man Dich ergreifen würde. Sobald Du aber in's Haus hinein schlichst, eilte ich hierher – auf des Aschenputtels Bewegungen achtet ja Niemand – um zur Hand zu sein und es auf mich zu nehmen, wenn unter Deinem Gewicht die Treppe vielleicht zu laut ächzte oder Du gar stolpertest. Denn seit man Dich entflohen weiß sind alle noch mißtrauischer geworden.«
»O, Sophie,« antwortete ich ebenfalls flüsternd, und krampfhaft zog ich das treue, opferwillige Wesen an mich, »ich wußte, daß Du mich in meiner Noth nicht verlassen würdest, und jetzt habe ich ja wirklich keinen anderen Menschen auf der Welt, dem ich trauen dürfte, als Dich; denn selbst meine alten Wohlthäter, in deren Nähe man mir Fallen zu stellen gedenkt, muß ich meiden, oder man schleppt mich an einen Ort, wo mir vielleicht nicht einmal der Genuß der freien Luft gestattet ist – ich hörte zu schreckliche Dinge. Ach, Sophie, es ist ein furchtbares Loos, so allein, so mittellos dazustehen und wie ein wildes Thier gehetzt und verfolgt zu werden. Was habe ich verbrochen, um ein solches Loos zu verdienen?«
»Traure nicht,« hauchte Sophie mir zu, »es liegt ihnen wohl sehr viel an Deiner Person, und das ist der Grund – aber wenn sie Dich mißhandeln wollen, bleibt Dir freilich kein anderer Ausweg, als zu fliehen –«
»Ja, fliehen,« seufzte ich verzweiflungsvoll, »aber wie es ausführen? Das Geld, welches meine alte Pflegemutter mir gab, wurde mir genommen.« –
»Es soll Dir zu seiner Zeit zurückerstattet werden,« fiel Sophie unbeschreiblich traurig ein, »ja, Indigo, und müßte ich Tag und Nacht arbeiten, um es heimlich zu verdienen – glaube mir, es Dir gänzlich vorzuenthalten, liegt gewiß nicht in der Absicht meines Vaters. Doch ich darf nicht länger säumen – fort kannst Du heute noch nicht, etwas Geld mußt Du jedenfalls haben, gleichviel, woher ich es nehme, damit es Dir gelingt, Denjenigen zu entrinnen, die augenscheinlich ein gewisses Anrecht an Dich haben.«
»Wo soll ich bleiben in diesem Hause?« klagte ich bangen Herzens, »mir ist, als stände ich auf einem Vulkan.«
»An Alles habe ich gedacht,« versetzte das treue Wesen, meine Hand krampfhaft drückend, »Herr Fröhlich ist in das Geheimniß eingeweiht und bereit, Dich aufzunehmen und zu beherbergen. Bei ihm vermuthet man Dich am wenigsten, und Speisen für Dich – kärglich genug sind sie leider – trug ich ihm ebenfalls schon zu – sagte ich Dir nicht vor Jahren, daß ich Dein Mütterchen sein wollte?« und sie seufzte tief, obwohl sie eine gewisse Heiterkeit in ihr Flüstern zu legen suchte, »und die Noth muß bereits an Dich herangetreten sein.«
Wir hatten uns der Thür unseres Verbündeten genähert. Sophie klopfte in einem bestimmten Rhythmus, und gleich darauf stand vor uns der alte Sonderling, der sonst das heftigste Pochen gern überhörte.
»Muth, Indigo, Muth,« flüsterte Sophie mir noch zu, dann verschwand sie hinter mir in der Dunkelheit. Fröhlich dagegen zog mich zu sich herein, aber erst nachdem er die Thür auf jede ihm mögliche Art verriegelt und verbarrikadirt hatte, kehrte er sich mir zu.
»So, mein Freund,« hob er an, und seine Stimme, wenn auch gedämpft, klang so sorglos, als hätte es in seiner Macht gelegen, Flügel an meine Schultern zu heften und durch das geöffnete Fenster mir den sichersten und bequemsten Weg in die Welt hinaus zu zeigen, »Du gehst auf Strümpfen, und das ist gut, denn unten hört man scharf; die elenden Fenstervorhänge verhindern, daß man von drüben hereinspäht, das ist noch besser. Am besten aber ist es, daß ich Gelegenheit finde, mich Dir dankbar zu zeigen; denn durch das Herbeischaffen des ersehnten Buches hast Du mir einen Dienst von unschätzbarem Werthe geleistet.
»Doch die Arbeit ruft; da ist mein Bett, räume die Scharteken zur Seite und mach' es Dir bequem – dort steht Dein Abendbrod – das gute Kind sorgt schwesterlich für Dich und band mir auf die Seele, Dich zu trösten, was ich hiermit als geschehen betrachte. Iß, trinke und schlafe, das ist der vernünftigste Trost.«
»Wo wollen Sie selber sich betten?« fragte ich schüchtern.
»Kümmere Dich nicht um mich, Adolescens,« versetzte Fröhlich, geräuschlos lachend, »ich finde überall eine gute Stätte, oder meinst Du, ich hätte mir im Laufe dieses Sommers oft die Mühe gemacht, das Bett abzuräumen? Gute Nacht, daher, Jüngling, gute Nacht, gute Nacht – gute –«
Die letzten Worte klangen undeutlich. Er hatte vor seiner Hobelbank Platz genommen; die Gänsefeder hielt er mit den Lippen, seine Hände dagegen wühlten förmlich zwischen den Blättern des geheimnißvollen Buches.
Leicht begriff ich, daß der seltsame alte Herr es als eine besonders freundliche Rücksicht betrachtete, wenn ich ihn nicht mit Fragen belästigte, sondern pünktlich nach seinen Rathschlägen handelte. Ich säumte daher nicht. Die Hälfte des Bettes war bald von Büchern, Heften und Papierrollen gesäubert; dann legte ich mich unentkleidet nieder, und die von Sophie hinterlassenen Speisen in meinen Bereich ziehend, aß ich mit dem vollen Appetit eines neunzehnjährigen jungen Mannes. Nur auf meine dringend wiederholten Bitten und auf die Betheuerung, daß durch die für mich entrichtete Pension Alles ausgeglichen sei, ließ Fröhlich sich herbei, von dem Speisevorrath etwas anzunehmen. Er legte es neben sich auf die Hobelbank, wo es natürlich in der nächsten Minute der vorläufigen Vergessenheit anheimfiel.
Trotz des Bewußtseins meiner gefährlichen Lage, trotz der jüngsten Ereignisse, welche immer und immer wieder vor dem fieberisch erregten Geiste vorüberzogen, erschlafften allmählich meine Augenlider. Nicht lange dauerte es, und vor meinen Blicken verschwammen in einander der alte Gelehrte und die Hobelbank, die grüne Schirmlampe, die umherliegenden Bücher und der Riesenschatten der über ihre Arbeit gebeugten Gestalt. Meine Hand ruhte auf dem unter der Weste verborgenen Skizzenbuch. Ich hatte mich mit dem Gedanken vertraut gemacht, es zu behalten, es gewissermaßen als ein Pfand für das meinem Besitz entwundene Geld und meine Kleidungsstücke zu betrachten. Hin und wieder schnarrte die Feder geheimnißvoll auf dem Papier. Fremdartig, wie Zauberformeln klingende Worte entwanden sich halblaut den Lippen des alten Herrn. Einschläfernd wirkten sie auf mich ein. Meine letzten Gedanken galten den fernen trauten Stätten, nach welchen ich mich mit ganzer Seele sehnte; dann legte Bewußtlosigkeit sich um meine Sinne.