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In je innigerer Beziehung des alten Mannes Berichte zu meiner Person und Vergangenheit standen, je deutlicher hervorleuchtete, daß die von ihm geäußerten Zweifel durch die ihm angeborene Vorsicht bedingt wurden, um so mehr zagte ich selber, meinen zur Ueberzeugung anwachsenden Vermuthungen Ausdruck zu verleihen. Ich meinte, den ersten Schritt auf einem schwanken, über einen Abgrund führenden Steg gethan zu haben, der jeglichen Haltepunktes für die ängstlich umhertastenden Hände entbehrte. Unter mir die unergründliche Tiefe; vor mir ein lachendes schattiges Ufer. Der leiseste Fehltritt, die geringste feindliche Einwirkung von Außen, und das Gleichgewicht war unheilbar gestört, rettungslos stürzte ich hinab. Oder sollte es mir gelingen, jenen sicheren, in ernster, verlockender Ruhe sich vor meinen Blicken ausdehnenden Boden zu erreichen? Gedanken der einander widersprechendsten Art durchschwirrten meinen Kopf, kreisten gleichsam mit den trügerischen Raststätten, an welche die unstät arbeitende Phantasie vergeblich sich anzuklammern suchte. Trotzdem lösten sich Räthsel, klärten sich Geheimnisse, welche dem alten Seltsam undurchdringlich erschienen, unlösbar erscheinen müssen. Die in dem Convict als das Wissen fördernde Unterweisungen hingenommenen Lehren erhielten plötzlich eine andere Bedeutung. Nicht einzeln und für besondere Fälle berechnet, sondern in ihrer Gemeinsamkeit bildeten sie noch immer das mir mit Ueberlegung eingeflößte, langsam aber sicher wirkende Gift. Noch nicht vollständig in's Fleisch und Blut übergegangen, wirkte es indessen in einer anderen, als der ursprünglich beabsichtigten Weise. Es erleichterte mir, zu errathen, was der Candidat und das Burg-Fräulein bezweckten, indem sie den alten Edelmann in eine todte Maschine verwandelten. Die den schwarzen Stallraum durchlodernden Blitze erschienen mir wie feurige Schrift, aus welcher ich herauslas, daß der Name jener todten Maschine das finstere Treiben nur so lange zu decken brauchte, bis alle Ansprüche sich in mir, dem umsichtig dressirten, willen- und herzlosen Jesuitenknechte gesetzlich würden vereinigen lassen, um demnächst als wohlerworbenes Erbe in den Besitz einer Gesellschaft abzugehen, welcher ich mit Leib und Seele angehörte. Und blieb ihr wirklich die Seele entzogen, versagte sie es, sich unter eine heillose Tyrannei zu beugen, welchen Einfluß konnte das auf den ruhigen Gang des Ganzen mit seinen pünktlich ineinander greifenden Rädern und Räderchen ausüben, so lange es noch Fesseln und Mauern gab, einen widerspänstigen Körper unschädlich zu machen? Ich dachte an feuchte, lichtlose Klosterzellen, verrostete Ketten und unbarmherzig geschwungene Geißeln; ich dachte an Zwangsjacken für als gefährlich verschrieene Idioten und Irrsinnige. Schaudernd und wie um mich gegen einen Sturz zu schützen, griff ich mit beiden Händen neben mich. Meine Finger schlossen sich krampfhaft um knisterndes Stroh; die Halfterketten rasselten, schwarze Finsterniß umgab mich. Ein neuer Blitz und das ängstliche Schnauben der Pferde vernichtete die Täuschung, als ob ich mich bereits in einem jener für Lebendige hergestellten Gräber befunden hätte.
»Die junge Frau unternahm keinen neuen Versuch, sich ihrem Vater zu nähern?« fragte ich tief aufseufzend.
»Keinen,« antwortete Seltsam dumpf, »auch entsinne ich mich nicht, daß jemals Nachricht von ihr oder ihrem Gatten eingelaufen wäre. Ein halbes Jahr oder mehr mochte indessen nach jenem achtzehnten Januar verstrichen sein, da legten mein Herr und das gnädige Fräulein, sogar der Candidat und die Italienerin Trauer an. Nach der Ursache zu fragen, stand mir nicht zu; dagegen verlautete, daß eine entfernte Verwandte gestorben sei. Anfänglich bezweifelte ich es nicht; als ich aber mehrfach Gelegenheit fand, zu beobachten, wie furchtbar die Erwähnung jenes verhängnißvollen Tages auf den alten Mann einwirkte, da errieth ich, daß die vorgebliche entfernte Verwandte seine eigene Tochter gewesen und man künstlich die Ueberzeugung in ihm schürte, daß er selber sie erbarmungslos in den Tod jagte. So glaubt er heute noch – im Grunde mögen seine Gewissensbisse gerechtfertigt sein – und nie tritt dies schärfer hervor, als wenn im Winter Eis den See bedeckt und, wie an jenem Tage, Schneeflocken in der Luft stöbern.
»Wie die Kunde von dem Tode der armen Martha zu uns gelangte, ob bald nach ihrem Abscheiden oder später, habe ich nie erfahren. Wahrscheinlich entnahmen sie es den Zeitungen, als man nach den Angehörigen der aufgefundenen Leiche forschte, zogen es aber vor, sich fern zu halten, um Alles der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Die im Elend Umgekommene wäre ja eine Schmach für den Familiennamen gewesen. Sicher ist, daß man sich nie um die Dahingeschiedene, nicht einmal um ihre Grabstätte kümmerte – ich hätte es ja erfahren müssen – ebenso wenig, wie man Nachforschungen anstellte, ob Kinder von ihr hinterlassen worden.
»Damals sah ich nicht so klar, wie heute, nachdem ich mir im Laufe der Jahre Alles stückweise zurecht legte. Wer weiß, ich hätte sonst wohl, selbst auf die Gefahr hin, aus dem Hause gejagt zu werden, Lärm geschlagen. Und wer bürgt überhaupt dafür, daß alle meine Hoffnungen nicht dennoch auf falschen Gerüchten und Irrthümern beruhen?
»Mit dem Ablauf der Trauerzeit erstarb das letzte Leben auf dem sonst so reich gesegneten Rittersitz. Freunde und Bekannte hatten uns seit Jahren nicht besucht, nachdem sie förmlich mit beleidigender Gewalt verscheucht waren. Statt deren erschienen zuweilen geistliche Herren, welche mit dem Candidaten und dem Fräulein auf sehr vertrautem Fuße standen, bei dem Hausherrn selber dagegen nicht eingeführt wurden. Die einst so zahlreiche Dienerschaft erhielt ihre Entlassung bis auf einen einzigen neu angenommenen Ausländer, und so vereinsamten wir mehr und mehr, bis endlich der arme alte Mann keinen Menschen mehr sehen mochte, nur noch gelegentlich kleine Spazierfahrten in der altmodischen Kutsche unternahm und endlich den Entschluß faßte, seine Herrschaft einem ihm von dem Candidaten empfohlenen Administrator zu übergeben und sich gänzlich auf dieses abgelegene Erbschloß zurückzuziehen. In seinem eigenen Kopfe ist dieser Entschluß schwerlich gereift. Doch ob er selber oder ein Anderer auf diesen Gedanken gerieth, die Folgen bleiben dieselben: Wir leben hier, wie die Begrabenen, und wenn ihn wirklich etwas um seinen Verstand hätte bringen können, so sind's die Einsamkeit, zu welcher man ihn verdammte, und die bösen Erinnerungen, welche man nie einschlafen läßt. Denn wo sein schönes Geld bleibt, kümmert ihn nicht mehr, als der Wind, welcher vor seinen Augen den See kräuselt. So viel ich weiß, unterschreibt er Alles, was seine Tochter ihm vorlegt, und wenn sie nur eine richtige Form dafür wüßten, hätte er längst seinen Rittersitz sammt Forsten und Feldmarken dem Teufel verschrieben. Und dabei keine Aussicht auf eine Aenderung; keine Seele, welche Einsprache erheben dürfte! Darum denke ich oft: Wenn nur der rechte Mann kommen wollte – vielleicht der Herr Wilibald oder ein Sohn der armen Martha –«
»Aber deren Sohn ist ja hier!« rief ich leidenschaftlich aus, obwohl ich meinen mächtigen Feinden gegenüber mich nie machtloser fühlte, als in jenem Augenblick.
»Sie mögen der richtige Mann sein,« fuhr Seltsam in seinem erzählenden Tone fort, »ich bezweifle es sogar keinen Augenblick, und Andere sicherlich ebenso wenig. Denn als Sie vor Jahren zum ersten Mal auf der Försterei erschienen, da entstand große Unruhe im Schloß, und mehr als eine Andeutung vernahm ich, daß man sich genau erkundigt hatte, auf welche Art Sie in das Haus der alten Plätterin gekommen waren. Diese Unruhe aber galt mir als Beweis für die Wahrheit meiner Vermuthungen. Ich wußte, was ich wußte; doch was hätte ich mit Ihnen, dem sorglosen Kinde über die Angelegenheit sprechen können? Ich mußte daher warten und auf Ihre späteren Besuche rechnen, wenn Sie erst etwas herangewachsen sein würden. Allein die Sache erhielt eine andere Wendung. Man brachte Sie auf eine hohe Schule, und ich war einfältig genug, zu glauben, man wolle einen Herrn aus Ihnen erziehen, bevor man Sie als Ihrer Mutter Sohn anerkannte. Und dennoch, wenn man Gutes mit Ihnen beabsichtigte, was hätte das Fräulein gehindert, Sie, trotz des Candidaten, frei bei sich aufzunehmen und offen nach rechtsgültigen Beweisen für ihre Geburt zu forschen, anstatt Sie zu verfolgen, wohl gar in irgend ein Schuldgefängniß einsperren zu lassen? Doch nichts giebt schlimmere Feindschaft, als verschmähte Liebe. Nimmermehr aber hätte ich geglaubt, daß Fräulein Thekla den alten Haß gegen ihre Schwester auf deren Sohn übertragen würde. Von dem Candidaten wundert's mich weniger; würde der hundert Jahre alt, vergäße er Ihnen nicht, daß Ihr Vater es gewesen, wegen dessen die von ihm wahnsinnig geliebte Thekla ihr Herz vor ihm verschloß. Und wer hätte wohl geahnt, daß aus der einst so heiteren, lebenslustigen Thekla mit den hellen Liedern und dem klingenden Lachen eine Dame werden würde, welche kein Wohlwollen mehr für andere Menschen hat, sondern Alles mit verbitterten Augen betrachtet? Eine derartige Verbitterung ist aber ansteckend, und wäre ich an des Försters Stelle, wüßte ich Besseres zu thun, als Frau und Kind täglich in's Schloß zu schicken.«
Wohl wäre ich im Stande gewesen, dem wunderlichen und doch so treuen alten Familienerbstück eine nähere Erklärung zu geben, über welche sich vor Entsetzen sein Haar gesträubt hätte, allein ich gewann es nicht über mich. Aber ein unbeschreibliches Gefühl tief empfundener Zärtlichkeit zog in meine Brust ein, indem ich die arme, todte Mutter mir zu vergegenwärtigen suchte, von deren Seite einst der biedere Hänge mich auf seine Arme hob; indem ich des grünen Hügelchens auf dem Friedhofe des heimatlichen Dorfes gedachte und des einfachen Kreuzes mit dem mir plötzlich wie ein Spott erscheinenden Namen ›Indigo‹.
»Glauben Sie, wie mich, so auch Andere durch Ihre Mittheilungen überzeugen zu können?« fragte ich nach einer längeren Pause schwermüthigen Sinnes mit scharf ausgeprägter Bitterkeit.
Seltsam lachte höhnisch.
»Was sollen meine Mittheilungen diesen Anderen?« erwiderte er düster, »die sind von Allem fester überzeugt, als wir Beide zusammengenommen, und wo solche Gesinnungen herrschen, da dringt man nur mit unantastbaren Beweismitteln durch. Hahaha! Dem Candidaten würden wir ebenso wenig etwas Neues erzählen, wie dem gnädigen Fräulein, und wer eine Sache nicht wissen will, den überführen nicht zehntausend Eide. Nein, Beweise müssen herbeigeschafft werden, richtige, vollgültige Beweise, und besitzt derjenige, welcher Ihrer Mutter den letzten Liebesdienst erwies, nicht solche, dann müssen Sie so lange suchen und forschen, bis Sie den Herrn Wilibald finden, und der wird wohl wissen, was er zu thun hat, um das Andenken an seine verstorbene Frau wieder zu Ehren zu bringen.«
»Wie lange mag auch er schon in der Erde schlummern,« versetzte ich zaghaft, »denn weilte er noch unter den Lebenden, würde er schwerlich bis jetzt gezögert haben, sich von dem Ergehen seines eigenen Sohnes Kenntniß zu verschaffen. Kaum weiß ich, was ich mehr wünschen soll: Ihn als einen theuren Todten zu betrauern, oder als verkörperten Vorwurf, wohl gar als eine Anklage vor ihn hinzutreten.«
»Ein Vorwurf kann ihn nicht treffen,« erwiderte Seltsam, »denn er sah nicht aus, wie ein Mann, welcher geringschätzig von seiner Pflicht denkt. Aber Umstände, Umstände mögen ihn gehindert haben – vorausgesetzt, er lebt noch – dahin zurückzukehren, wo man seine Frau bis in den Tod hinein kränkte. Wenn mir nur Jemand sagen wollte, wie's anzufangen wäre, auf seine Spuren zu kommen.«
Indem ich, meinen Empfindungen nachgebend, das Gesicht in die Hände barg, fühlte ich den Druck des Skizzenbuches. Wie ein rettender Gedanke leuchtete es bei dieser Berührung in meinem Geiste auf.
»Wilibald hieß der Gatte der armen Martha?« rief ich auf dem Gipfel meiner Erregtheit aus, nicht mehr bezweifelnd, daß der von der guten Winkelliese mir beigelegte Name Baldrian nur eine Entstellung des ursprünglichen Wilibald, »er muß einen zweiten Namen geführt haben!«
»Wilibald Zäuner,« antwortete ich seltsam befremdet.
»Man zählte ihn zu den namhafteren Künstlern?«
»Mancher vornehme Herr zog seinen Hut vor ihm.«
»Malte Oelbilder?«
»Oelbilder, Landschaften, daß man das Rauschen des Windes in den Bäumen zu hören meinte.«
»Und schrieb seinen Namen unter jedes?«
»Seinen Namen eigentlich nicht, sondern nur die Anfangsbuchstaben desselben, das weiß ich genau, denn mit meinen eigenen Augen sah ich's. Er war ein lieber, freundlicher Herr, und wenn ich zur Stadt kam, um ihn abzuholen, zeigte er mir wohl seine Bilder und freute sich, daß sie mir so gut gefielen. Und als er einst in meiner Gegenwart mit dem Pinsel die beiden Buchstaben schrieb – ein W und ein Z, wobei er sogar noch einen Strich sparte – und ich ihn nach der Ursache des wunderlichen Verfahrens fragte, da lachte er hell auf, und mich auf die Schulter klopfend, meinte er, daß er seinen Namen zu häßlich für gute Bilder fände, diese dagegen durch das einfache Zeichen nicht an Werth verlören. Dann fügte er noch etwas von Gramm und angenommener Gewohnheit hinzu, welcher er nicht gern untreu werde.«
»Können Sie Licht schaffen?« fragte ich mit einer Leidenschaftlichkeit, welche den alten Mann erschreckte und zugleich zog ich das Buch hervor.
»Ich könnte es wohl,« antwortete Seltsam zögernd, »allein im Schloß wachen scharfe Augen, und die Stallfenster sind von dort aus sichtbar.«
»Nur auf eine Minute,« fuhr ich dringend fort, »nur einen kurzen Blick verlange ich von Ihnen, und entscheidet der, wie ich es ahne, so ziehe ich, um eine große Hoffnung reicher, von dannen; denn vor mir liegen die Spuren, welche mich entweder bis in die Werkstatt jenes Künstlers führen, oder vor seinen Grabhügel.«
Seltsam hatte sein Feuerzeug hervorgeholt. Gleich darauf fiel der Schein einer kleinen Flamme auf das erste Blatt des Skizzenbuches.
»Kennen Sie – sahen Sie jemals Diese?« fragte ich, und die gewaltige Spannung raubte mir fast den Athem.
»Martha,« rief Seltsam erschreckt und zugleich mit dem rührenden Ausdruck ungeheuchelter Freude; »Martha, die liebe freundliche Martha –«
Das Schwefelhölzchen war aufgebrannt; in der nächsten Secunde flammte indessen ein neues auf, und über das jugendlich holde Mädchenantlitz hinleuchtend, wiederholte der alte Mann freudig erregt:
»Ja, die liebe Martha; das ist sie, so sah sie aus, als ich sie noch in ihrer Schwester und des Herrn Wilibald Gesellschaft in's Freie hinausfuhr, als sie noch das heitere sorglose Mädchen – und kein Anderer, als Herr Wilibald, hat dies Bild angefertigt!«
Ein neues Schwefelhölzchen wurde angezündet und immer wieder eins.
»Kennen Sie auch dies?« fragte ich angstvoll weiter, indem ich auf das der Zeichnung beigefügte Monogramm wies, »sahen Sie jemals ein ähnliches –«
Seltsam ließ mich nicht aussprechen.
»Dasselbe Zeichen,« betheuerte er mit dem Ausdruck unerschütterlicher Ueberzeugung, »hier das Z und hier das W, und hier die wunderliche Art, 'nen Strich und 'ne Kleinigkeit Farbe zu sparen. Dann wendete er seine ganze Aufmerksamkeit dem Portrait wieder zu; er schien sich nicht satt sehen zu können. In meiner Brust aber erwachten Empfindungen, als ob ich jetzt erst festen Fuß im Leben gefaßt hätte; als ob ein guter Engel über mir wache, die Vorsehung selber mir das Skizzenbuch in die Hände spielte, meine Schritte mit weisem Bedacht zu immer neuen Entdeckungen lenkend, um mich endlich an das meinem Geiste in unentwirrbar verschlungenen Bildern vorschwebende Ziel zu führen. Zu dem wild aufflackernden Triumphgefühl aber gesellte sich tiefes Weh. In welch gräßlicher Gestalt mußte die Noth an die arme Martha herangetreten sein, daß sie sich gezwungen sah, ein gewiß theures Liebeszeichen, ohne Zweifel mit anderen Dingen aus den Händen zu geben? Wie hatte wohl der elende Antiquar oder vor ihm ein Anderer mit der darbenden und verlassenen Mutter gefeilscht, um ihr die letzten Bissen Brod noch zu verkümmern? Wo war zu jener Zeit Derjenige, auf dessen Schutz sie ein heiliges Anrecht hatte? Derjenige, welcher in glücklichen Stunden jenes Portrait schaffte und ein Bildchen nach dem andern, ein Liebeszeichen nach dem andern diesem anreihte?
Draußen strömte der Regen weniger heftig. Blitz auf Blitz zuckte noch immer durch den Stallraum. Die schweren Donnerschläge hatten dagegen aufgehört. An deren Stelle war wieder das ununterbrochene Rollen getreten. Mechanisch kanten die Pferde duftende Heuhalme. Die Atmosphäre in dem abgeschlossenen Raume war schwül und drückend. Ich sehnte mich hinaus in's Freie, um in tiefen Athemzügen die erfrischte Luft einzuathmen, meine Brust weiter und weiter auszudehnen, Raum zu schaffen für die wehmüthige Freude, welche ich empfand, das Bild meiner eigenen Mutter zu besitzen; Raum zu schaffen für die süßen und doch so bangen Hoffnungen, welche mich bei dem Gedanken an die stilles bleiche Lilie, an meinen eignen heiligen Schutzengel erfüllten.
Ach, die bleiche Lilie, sie durfte, sie konnte ja nicht dahinsiechen bei der heißen Liebe, welche ich für sie in meinem Herzen barg; sie mußte auf's Neue erblühen, mußte sich schmücken mit den Farben des Haideröschens. Sie mußte unterscheiden lernen den düsteren Schiller, welcher die giftigen Blüthen des Nachtschattens unheimlich ziert, von den Thautropfen, wie sie in den Kelchen der lieblichsten Frühlingskinder im goldenen Sonnenschein funkeln, oder von dem herbstlichen Duft, wie er sich gern auf gesunde, reifende Früchte lagert. Sie mußte – sie mußte gefunden, und dann – wie eine unerschöpfliche Kraft, wie ein starker männlicher Wille und festes Vertrauen durchschauerte es mich – und dann mochte sie immerhin mich ihren treuen Schutzheiligen nennen, zu mir ihre Arme erheben und ihr Haupt an meine Brust lehnen, mir die Lippen zum innigen Kuß reichen, in meinen entzückten Blicken aber eine heißere, unvergänglichere Liebe entdecken, als in jenen starren Augen auf der farbigen Leinwand, welche weiter nichts verstanden, als heuchlerisch gen Himmel zu stieren.
»Ich muß fort, es duldet mich nicht länger hier!« rief ich Seltsam zu, indem ich emporsprang, »ich muß hinaus in's Freie, muß eilen und wirken, oder es wird zu spät und über meinem Haupte schlagen die Wogen zusammen.«
Das Buch hatte ich wieder zu mir gesteckt, die schwere Jagdtasche über die Schulter geworfen, und meinen Wanderstab ergreifend, schritt ich auf die Stelle zu, auf welcher bläulich zuckende Lichtstreifen mir die Lage des Ausganges bezeichneten. Ob mein Ungestüm dem alten Manne Vertrauten oder Zweifel einflößte, ich weiß es nicht. Aber es war still geworden und mit einer gewissen Ehrerbietung öffnete er die Thür.
Von den Dächern rieselte und plätscherte es noch; hohl rauschte es in den Baumwipfeln, indem unzählige Tropfen melancholisch von Blatt zu Blatt niedersanken. Des bleichen Mondes mildes Licht überströmte den düsteren Hof; hier funkelte ein Sternlein, dort eins; nur noch wenig ragten die scheidenden Wolkenberge über die hohe Waldmauer empor, aber Blitze, spielten vor dem schwarzen Hintergrunde, begleitet von dumpfem, ersterbendem Grollen.
»Vielleicht noch ein halbes Stündchen,« meinte Seltsam fast schüchtern, »wenigstens so lange, bis das Wasser in den Wegen sich einigermaßen verlaufen hat.«
»Keine Minute länger,« entschied ich, dem anhänglichen Alten die Hand zum Abschied herzlich drückend, »was gelten mir jetzt noch Feuchtigkeit und aufgeweichte Wege? Nur noch eine Bitte, und Sie sind der Mann, an welchen allein ich mich vertrauensvoll wenden darf. Zu der Wohlthat, welche Sie mir durch Ihre Enthüllungen erwiesen, fügen Sie eine andere hinzu, und meine Dankbarkeit wird endlos sein. Sie sprachen von der Familie des Försters und dem schädlichen Einfluß, welchen die Bewohner des Schlosses auf dieselbe ausüben. Wachen Sie über die armen, tiefbetrübten Leute; warnen Sie die Theuren, wenn Sie Ursache zu haben meinen. Wenden Sie sich indessen nur an das muntere Hannchen; von ihr allein brauchen Sie nicht zu befürchten, daß unbedachte Worte ihren Lippen entschlüpfen; und vor Allem hüten Sie sich, die Erbitterung des Försters zur hellen Flamme anzufachen. In der Verteidigung seines von frevelnden Gewalten angetasteten Familienglückes möchte er sich entsinnen, daß in seinen jagdgeübten Händen auch das Leben von Menschen ruht.«
»Hannchen, das muntere Hannchen,« sprach Seltsam erstaunt, jedoch nicht unzufrieden, als sei ihm plötzlich klar geworden, weshalb ich so innige Anhänglichkeit für die Försterfamilie verrieth. Das Geständniß der Wahrheit schwebte mir auf den Lippen; doch was hätte ich weiter schildern können, als daß ein neues Leben in mir aufgegangen, ein Leben, von welchem ich nicht wußte, ob es, von der grausamen Hand eines zürnenden Geschickes unheilbar getroffen, nicht schon in nächster Zeit zu den verrauschten Träumen gezählt werden müsse?
Unwillkürlich, wie um die in meiner Phantasie auftauchenden trüben Bilder zu verscheuchen, schüttelte ich verneinend das Haupt; dann schritt ich rüstig dem Thorwege zu, bis wohin Seltsam mir das Geleite gab.
»Möge das Glück Sie begünstigen,« sprach der alte Mann, als ich ihm zum letzten Mal die Hand drückte, »möge es Sie begünstigen, Sie und Ihr Beginnen, auf daß Sie heimkehren, bevor es zu spät ist, bevor das Grab sich über Menschen geschlossen, welche allein einen Umschwung zum Besseren zu bewirken vermögen.«
»Auf Wiedersehen,« antwortete ich bewegt. Mehr zu sagen, war ich nicht im Stande.
So schieden wir; Seltsam kehrte in seine neben dem Pferdestall befindliche Kammer zurück. Mich aber umgab bald darauf der vom Mondlicht zauberisch unterbrochene Schatten des Waldes. –
Der Wind war gänzlich eingeschlummert. In den triefenden Baumwipfeln brauste es indessen noch immer. Der Weg war schlüpfrig geworden. Ich achtete dessen nicht. Wie von unerschöpflicher Kraft getragen, schritt ich eilfertig einher.
Die Frösche und Unken hatten ihr gestörtes Concert längst wieder aufgenommen. Schwächer und schwächer tönte das Krächzen und geisterhafte Läuten hinter mir her, bis es endlich in der Ferne ganz erstarb.
Als ich nach mäßig schneller Wanderung den Waldessaum erreichte und auf das freie Feld hinaustrat, da flammte purpurn im Osten das erste Morgenroth.