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»Sicher und trocken sitzen wir hier,« wiederholte Seltsam, nachdem er die Stallthür hinter uns verriegelt und wir neben den Pferden uns auf ein Bund Stroh geworfen hatten, »und wenn Sie von hier aufbrechen, werden Sie schwerlich bereuen, meiner Aufforderung Folge geleistet zu haben. Ich denke, 's hat doch wohl so sein sollen, daß wir uns im Walde trafen. Ich irre mich vielleicht, allein ebenso gut ist's möglich, daß meine alten verbrauchten Sinne sich nicht täuschten und das Recht schließlich den Sieg davonträgt.«
Er schwieg, wie um Das, was er mir anzuvertrauen wünschte, vorher noch einmal zu überlegen, oder dem Toben des Unwetters zu lauschen, welches nunmehr mit vollster Gewalt losgebrochen war und im Brausen des Sturmes, im Rauschen des wolkenbruchartig niederprasselnden Regens, in dem scharfen Knattern und darauf folgenden Rollen des Donners seinen guten Willen bekundete. Durch die kleinen Fenster schossen Lichtströme, den auf mindestens zwanzig Pferde berechneten Stallraum bis in die entlegensten Winkel erhellend. Unbekümmert um das Toben des Wetters kauten die beiden alten Kutschgäule das ihnen aus den eisernen Raufen entgegenduftende Heu. Das dumpfe Mahlen und Knirschen der breiten Zähne erinnerte mich an die Stunden, welche ich in Gesellschaft des Hänge-Gensdarm unter der Krippe seines Braunen verbrachte. Es klang anheimelnd, sogar tröstlich, so daß ich im Stande war, darüber meine verzweifelte Lage auf Minuten zu vergessen.
»Ueber Ihre erste Kindheit wissen Sie nichts Genaues?« hob Seltsam endlich wieder an.
»Nur die Umstände kenne ich, welche meine Aufnahme im Hause der Frau Winkler begleiteten,« antwortete ich offenherzig, jedoch befremdet über die Wendung, welche der alte Mann mit ernster Ueberlegung dem Gespräche gab.
»Die sind auch Andern bekannt geworden,« fuhr dieser etwas lebhafter fort, »und was mir seitdem im Kopfe herumgeht, begründet sich eben nur auf jene Umstände und auf Muthmaßungen, welche mir, seit ich Sie zum erstenmal sah, keine Ruhe mehr gelassen haben.
»Ich bin alt und jeder Tag kann mein letzter sein, und da war's denn eine rechte Beruhigung für mich, Alles, was mein Gewissen quält, Jemand anzuvertrauen, von dem ich weiß, daß er nicht nur die ganze Angelegenheit mit Eifer verfolgt, sondern auch, wenn Alles vergeblich wäre, keinen Mißbrauch mit anderer Leute Geheimnisse treibt. Und ist's für einen rüstigen jungen Burschen nicht eine angemessene Aufgabe, nach Demjenigen zu forschen, dessen Namen er von Rechtswegen tragen sollte?«
»Nach meinem Vater?« rief ich leidenschaftlich aus, denn des alten Mannes dunkle Worte verliehen den eigenen, betreffs meiner Beziehungen zu den Schloßbewohnern allmählich entstandenen Muthmaßungen plötzlich eine neue Bedeutung.
»So Gott will, nach Ihrem eigenen Vater,« bestätigte Seltsam, »und ist's nicht Ihr Vater, so ist es wenigstens ein Mann, welchem so viel Unrecht zugefügt wurde, daß es in einem Menschenalter nicht gesühnt werden könnte.
»Lebt er noch und treffen Sie mit ihm zusammen, so ist er der Einzige, in dessen Macht es steht, Licht in eine Sache zu bringen, welche vorläufig nicht mehr Werth besitzt, als das Geräusch, mit welchem die Pferde da ihren Hafer kauen. Denn was sind Aehnlichkeiten und wie viele Waisen, deren Eltern verschollen, werden aufgefunden? Selbst leere Namen und sonstige Kennzeichen entscheiden nicht vor dem Gesetz; am wenigsten aber, wenn es Menschen giebt, denen daran liegt, daß Derjenige, welchen ich im Sinne habe, nicht gegen sie auftrete, schlimmsten Falls in einer Lebensstellung, in welcher Glanz und Reichthum ihm nicht höher gelten können und dürfen, als mir ein Strohhalm aus diesem Bunde.
»Seit dem Tage, an welchem Sie zum ersten Mal Ihre Kinderfüße auf diesen Hof stellten, habe ich Manches gesehen und gehört, was zu verstehen man den verdrossenen Seltsam für zu einfältig hielt. Hätte man geahnt, daß ich ihre Pläne theilweise durchschaute, möchte man längst mir die Thür gewiesen haben. Wo aber hätten sie Jemanden gefunden, der mit dem alten Herrn fertig geworden wäre und welchem dieser sich auf seinen Spazierfahrten hätte anvertrauen mögen?
»Ob man mich für stumpf hält, kümmert mich wenig. Ich bin zufrieden, mein Leben im Dienste Jemandes zu beschließen, dessen Vorfahren schon von meinen Vätern bedient wurden; und wohin sollte ich mich wenden, ich, der vereinsamte Sprosse einer ausgestorbenen Familie? Der alte Herr aber ist nicht besser d'ran, und wenn der die Augen vor mir schließen sollte, werfen sie seinen Kutscher aus dem Hause, und sein gewaltiger Reichthum geht in den Besitz des gnädigen Fräuleins über, und was das bedeutet, das weiß ich am besten. Ist mir doch nicht fremd, wohin die ungeheuren Geldsummen wandern, welche alljährlich hier einlaufen und dann wieder an Leute geschickt werden, vor deren Namen sie schreiben: Ehrwürden und Hochehrwürden. Mancher Brief, so schwer, daß man sich 'ne gute Büdnerstelle dafür hatte kaufen können, ist durch meine Hände gegangen, und so viel lese ich heute noch, um 'nen feinen geistlichen Titel heraus zu buchstabiren. Ja, junger Herr, da drüben im Schlosse geht mancherlei vor. Mag mir der liebe Gott verzeihen, wenn ich Hoffnungen in Ihnen erwecke, die schließlich zu Wasser werden. Aber ich hab's mir einmal in den Kopf gesetzt, und selbst auf die Gefahr hin, mich an Ihnen zu versündigen, biete ich meine letzten Kräfte mit Freuden auf, schließlich dennoch vor dem Tribunal zu Gunsten Jemandes zu zeugen, der die vielen Tausende von Thalern, welche jetzt in die Hände des Satans wandern, besser zu verwerthen wüßte. Daß der alte Herr verrückt sei und unzurechnungsfähig, mögen sie Andern einbilden; der alte Herr ist so zurechnungsfähig, wie Sie oder ich. Aber sie bringen ihn um seinen Verstand, und beging er in seinem Leben etwas, worüber ihm heute noch das Gewissen schlägt, ist's nicht ihre Sache, ihn Tag und Nacht zu ängstigen und zu quälen, daß er fremde Gesichter scheut und fürchtet, als ob die ganze Welt ihn verfolge und über geschehene Dinge zur Rede stellen möchte.«
Ein Blitz erfüllte den Stall mit feuriger Lohe. Dem Blitz folgte unmittelbar ein Donnerschlag so heftig und betäubend, daß die Pferde erschreckt an ihren Halfterketten rissen und sich erst auf Seltsams Zuspruch wieder beruhigten.
Für mich ging der Kampf der Elemente verloren, in so hohem Grade hatte mich das ergriffen, was der alte Mann an meiner Seite mit einem so unzweideutigen Ausdruck lauterer Wahrheit enthüllte.
»Giebt es keine Mittel, den hinfälligen Greis gegen die heillose Tyrannei zu schützen?« fragte ich, unter den sich in meinem Kopfe kreuzenden Ahnungen kaum noch fähig, einen und denselben Gedanken festzuhalten.
»Schützen?« lachte Seltsam feindselig, »ich möchte Denjenigen sehen, der es wagte, seinen Schutz dem alten Herrn anzubieten. Sie haben ihn längst so weit gebracht, daß er sogar mir das Wort abschneidet, wenn auf unsern einsamen Spazierfahrten ich mir herausnehme, ihm einen umgebrochenen Baum, ein Getreidefeld oder ein Stück Wild zu zeigen. Ja, junger Herr, mit ihren Schlingen haben sie den alten Mann umgarnt, daß er kein Glied mehr zu rühren wagt, und wer noch nicht verrückt ist, der muß es werden bei solcher Behandlung. Aber es ist natürlich; denn wer könnte Theilnahme und Mitleid von Menschen erwarten, welche sich selbst für Herrgötter halten? Soll doch, so lange wir hier leben, zum ersten Mal Einer der Schloßbewohner eine Kirche besuchen, um sich mit dem Himmel abzufinden. Ich gehöre zwar selbst nicht zu Denjenigen, die dem lieben Herrgott alle Tage in den Ohren liegen, allein so gänzlich Heide – Hm! – Daheim waren's andere und bessere Zeiten –«
»Daheim?« fragte ich in tödtlicher Spannung, als Seltsam zögerte, und seine Unkenntniß des in den Kellerräumen des Schlosses stattfindenden Treibens galt mir als Bürgschaft für seine Aufrichtigkeit.
»Ja, daheim,« bestätigte der alte Mann unwirsch, »und Daheim nenne ich den Ort, in welchem das gnädige Fräulein sowohl, wie deren Vater und ich selber geboren wurden, nenne ich eine herrschaftliche Besitzung, auf welcher ein ganzes Regiment sein Brod fände und so viel zu 'ner Pfeife Tabak obenein.
»Hm, das waren Zeiten, als die gnädige Frau noch lebte, und wäre die nicht so früh gestorben, möchte Manches anders geworden sein. Aber mit deren Abscheiden war Alles vorbei, und ihre beiden Töchter waren nicht dazu geschaffen, die alten Verhältnisse aufrecht zu erhalten – mochten auch wohl zu jung und unerfahren sein.
»Der Vater that freilich Alles, vornehme Damen aus ihnen heranzubilden – denn sie waren sein Stolz und seine Freude – allein was half's? Was einmal dazu bestimmt ist, zu Grunde zu gehen, das halten Menschenhände nicht über Wasser.
»Nach dem Tode seiner Frau lebte unser Herr viel auswärts; dagegen vernachlässigte er nichts, was zur Erziehung seiner Töchter beitragen konnte. Obwohl bereits in einem Alter von achtzehn und neunzehn Jahren, hatten sie noch immer eine italienische Gesellschafterin und einen Candidaten, welche sie in Sprachen und anderen Dingen unterrichteten. Außerdem wurde allwöchentlich ein Maler aus der Stadt zu uns herausgeholt, um mit ihnen zu zeichnen.
»Ein größerer Unterschied, als zwischen diesen beiden Herren bestand, ist kaum denkbar. Der Candidat – nun, Sie kennen ihn – war allgemein verrufen als eine schleichende, filzige Creatur. Dagegen gab es nichts Frischeres, Lebensfroheres und Offenherzigeres, als den Herrn Wilibald – er wurde gewöhnlich bei seinem Vornamen genannt – wenn er in unserem Wagen vorfuhr und der Wind mit seinen langen, pechschwarzen Locken und eben solchem Vollbart spielte; oder er mit beiden Füßen zugleich auf die Erde sprang und sich beeilte, Jedem, der ihm in den Weg trat, gleichviel ob Edelmann oder Ackerknecht, einen freundlichen Gruß zu bieten.
»Wenn junge Leute länger freundschaftlich mit einander verkehren, hängen ihre Herzen sich leicht so fest an einander, daß sie nicht mehr getrennt werden können. So geschah es auch damals und obenein fast unter den Augen des Vaters selber. Denn der gönnte seinen Töchtern alle Freiheit, daß sie mit ihrem Maler ungehindert Feld und Wald durchstreifen durften, um Bilder anzufertigen. In seinem starren Hochmuth hielt er für ebenso unmöglich, daß ein einfacher Künstler wagen würde, seine Blicke zu einem Edelfräulein zu erheben, wie daß seine Töchter sich so tief erniedrigten, in Jenem etwas Anderes zu sehen, als ein geeignetes Mittel zum Zeitvertreib. Und doch kam es gerade so.
»Alle Leute bemerkten es und flüsterten darüber; doch Niemand wußte es besser, als der Kutscher Seltsam, welcher die lustige Gesellschaft manches liebe Mal in den Wald hinausfuhr, wo man eine verwitterte Eiche oder einen recht bemoosten und von Farrnkraut beschatteten Felsblock wie eine Art Vorzeichnung behandelte.
»Der Herr Candidat Leise betheiligte sich seltener an diesen Ausflügen, und ich hätte taub sein müssen, wie 'ne angebohrte Nuß, wäre mir entgangen, daß die beiden Schwestern es stets einzurichten wußten, daß sie mit Herrn Wilibald ungestört blieben. Hinterher lachten und scherzten sie sogar gemeinschaftlich mit dem Maler darüber, die unwillkommene Begleitung so listig von sich abgestreift zu haben. Ebenso wenig entgingen mir aber auch die Blicke des tiefsten Hasses, mit welchen der Candidat den fröhlichen Herrn Wilibald beobachtete, und die wachsende Leidenschaft, mit welcher er, wenn auch vorsichtig seine Grenzen haltend, Fräulein Thekla, also der älteren der beiden Schwestern, auf Schritt und Tritt verstohlen nachspähte. Schien er doch schon glücklich zu sein, wenn er dieselbe Luft mit ihr einathmete oder sie sich herabließ, eine spöttische Bemerkung an ihn zu richten. Wer hätte damals gedacht, daß trotzdem zwischen ihnen eine vertrauliche Freundschaft entstehen würde! Aber ich behauptete von Anfang an, daß in dem Candidaten der leibhaftige Teufel stecke, oder er hätte sich in den ersten Tagen nach seinem Eintreffen bei uns wieder empfohlen. Denn nur ein Dummer oder ein Spitzbube ist fähig, zu den ihm an den Kopf geschleuderten Beleidigungen sich dankbar und demüthig zu verneigen. Doch er wußte, was er bezweckte, und wie gut ihm Alles gelang – nun, ich denke, junger Herr, Sie haben's selber herausgefunden, und Derjenige, welchen Fräulein Thekla einst verachtete, gewissermaßen mit Füßen trat, der ist heute nicht nur ihr Schatten, sondern auch der Geschäftsführer des alten Herrn, und himmelschreiend ist's, daß es ihn nur ein Wort kostet, mich über alle Berge geschickt zu sehen. Und welch' ein erbärmliches Licht war er damals! Fräulein Thekla sowohl als auch die freundliche Martha –«
»Martha?« rief ich erstaunt aus, denn lauter, als einer der schnell auf einander folgenden Gewitterschläge, drang der Name mir zum Herzen, welcher das Titelblatt des auf meiner Brust verborgenen Skizzenbuches schmückte. Martha?« wiederholte ich mit einer Leidenschaftlichkeit, wie sie nur durch die heftigste Gemüthsbewegung erzeugt werden konnte. Meinte ich doch, nicht bezweifeln zu dürfen, daß die durch einen wunderbaren Zufall in meinen Besitz gelangten Zeichnungen von demselben Herrn Wilibald herrührten, von welchem der alte Mann mir eben erzählte. Mich schwindelte. Vor meinem Geiste stand das einsame Hügelchen im heimatlichen Dorfe, unter welchem ein in Gram gebrochenes Mutterherz schlummerte; erstand das Portrait eines lieblichen Mädchens, dessen erster Anblick einen so eigenthümlich milden, gleichsam befreundeten Zauber auf mich ausübte.
»Martha,« bestätigte Seltsam ernst, wie ahnend die Empfindungen, welche sich in meiner Brust kreuzten, »sie war die jüngere der beiden Schwestern und ein herziges Kind, welches ich manches liebe Mal auf meinen Armen trug und aus dessen Munde, als es mir längst über den Kopf gewachsen, ich noch immer hörte: ›Lieber, guter Seltsam.‹ Dergleichen vergißt sich nicht leicht; und erlebte ich, daß ihr Name noch einmal recht zu Ehren käme, dann wollte ich gern in's Grab hinabsteigen, wohin ich vielleicht schon lange gehöre.
»Ich wollte nämlich sagen, daß Martha sowohl wie Thekla hoch über den Candidaten hinwegsahen und für weiter nichts mehr Sinn hatten, als für ihren Maler. Aber auch dieser fühlte sich in ihrer Gesellschaft überglücklich; unvermeidlich war es dagegen, daß er Eine von ihnen bevorzugte. Martha war Diejenige, welcher er seine Zuneigung schenkte. Es war dies bald kein Geheimniß mehr. Nur der Vater schien vollständig blind zu sein. Man wußte sogar mehr; man flüsterte, daß beide Mädchen den jungen Künstler in gleichem Maße liebten und in Folge dessen Thekla eine heimliche Abneigung gegen ihre Schwester faßte. Dann wollte man bemerkt haben, daß der bis dahin mißhandelte Candidat von der älteren Tochter leutseliger behandelt wurde, und endlich, daß diese Beiden häufig mit der Italienerin zu eifrigen Berathungen zusammentraten. Was sie verabredeten, mag Gott wissen; jedenfalls legten sie den jungen Liebesleuten keine Hindernisse in den Weg, im Gegentheil, sie erleichterten es ihnen, daß sie sich heimlich sahen und sprachen, ohne indessen als ihre wirklichen Beschützer aufzutreten. Gutes bezweckten die drei Verbündeten durch ihr Verfahren am wenigsten, das habe ich später wohl eingesehen; dann aber hörte ich seit Begründung dieser Freundschaft von Fräulein Thekla nie wieder ein helles, sorgloses Lachen. Sie wurde ernst und finster, und so ist sie geblieben bis auf den heutigen Tag.
»Die scheinbare freundliche Theilnahme der eigenen Schwester trug wohl am meisten dazu bei, daß die beiden Liebesleute die sich ihnen entgegenstellenden Schwierigkeiten unterschätzten. Vielleicht wurden sie sogar auf irgend eine Art ermuthigt; genug, Herr Wilibald trat eines Tages frei und offen vor den Vater hin, wie sich's für 'nen rechtschaffenen Mann geziemt, und forderte von ihm seine jüngste Tochter zur Frau. Die Antwort errathen Sie wohl. Er verließ das Zimmer schneller, als er hineingekommen war; der Vater fluchte, tobte und schmähte auf alle niedrig geborenen Anstreicher; die drei Verbündeten jubilirten heimlich, die arme Martha aber sah man von Stunde an nur mit rothgeweinten Augen.
»Mit dem Wettern und Fluchen erreichte der Vater indessen nur, daß Herr Wilibald das Schloß und dessen Nachbarschaft mied. Denn um die zwischen den beiden jungen Leuten waltende Anhänglichkeit zu ersticken oder ihren Briefwechsel zu hindern, hätte er ihnen das Herz aus der Brust reißen müssen. Es unterliegt sogar keinem Zweifel, daß sie sich heimlich sahen und sprachen, und bei diesen heimlichen Zusammenkünften wurde natürlich beschlossen, trotz aller Widerwärtigkeiten nicht von einander zu lassen.
»Was nun erfolgte, war wohl nicht ganz in der Ordnung; allein man konnte es ihnen nicht verargen, zumal nicht nur Fräulein Thekla, sondern auch der Candidat und die Italienerin ihr Beginnen mittelbar begünstigt haben sollen, so daß sie einen guten Vorsprung gewannen. Fräulein Martha und Herr Wilibald waren nämlich eines Tages aus der Gegend verschwunden, und vier Wochen später, da erhielt der alte Herr aus einer fernen Stadt die briefliche Anzeige, daß sie sich geheirathet hätten und zur Vervollständigung ihres Glückes seine Verzeihung und seinen väterlichen Segen erflehten. Doch sie hatten sich getäuscht, indem sie auf väterliche Milde und Nachsicht rechneten. Der Vater schmähte zwar nicht auf die entflohene Tochter, aber ihr Name durfte in seinem Hause nicht mehr genannt werden, und meine Ahnungen müßten mich sehr täuschen, trügen der Candidat und die Italienerin, und durch diese Fräulein Thekla, nicht die Schuld, daß er als Antwort auf seiner eigenen Tochter Flehen, dieser und deren Gatten seinen schriftlichen Fluch nachsandte und ihnen verbot, ihm jemals wieder unter die Augen zu treten. Aus ihrem äußeren Wesen, aus einzelnen Andeutungen und der von Tag zu Tag sichtbar wachsenden Freundschaft der drei Verbündeten entnahm ich leicht – in Gegenwart des schweigsamen, einfältigen Kutschers legten sie sich ja keinen Zwang auf – daß nur Das eingetroffen war, was sie erwarteten und woran sie mit so viel schlauer Ueberlegung gearbeitet hatten. Ich bin freilich nur ein einfacher Mann und von geringer Herkunft, allein bei dem langjährigen Nachdenken und Grübelei ist mir allmählich Manches klar geworden, was damals meinen Kopf verwirrte. Ich wiederhole also: Fräulein Thekla liebte den Herrn Wilibald über alle Maßen, und da er ihre Schwester vorzog, verwandelte sich ihre Liebe in unversöhnlichen Haß. Der Haß des Candidaten aber gegen den armen Herrn Wilibald erhielt dadurch sein eigentliches Gift, daß er in seiner Blindheit ihn für die Ursache hielt – die unschuldige Ursache war er freilich – von der älteren Schwester mit einer Art Verachtung zurückgewiesen worden zu sein. Kamen sie also in der Liebe nicht zusammen, so vereinigten sie sich in ihrem Haß; und daß auch dieser ein gutes Bindemittel ist, haben sie bewiesen, denn in der langen Reihe von Jahren sind nicht ein einziges Mal Mißhelligkeiten zwischen ihnen ausgebrochen. Im Gegentheil, in demselben Grade, in welchem der alte Edelmann einsilbiger wurde, sich abschloß und von dem Verkehr mit anderen Menschen zurückzog, wuchs die Gewalt des Candidaten. Aeußerlich erhob er sich nie über die Stellung eines unterwürfigen Dieners, welcher keinen Schritt ohne die ausdrückliche Billigung seines Gebieters thut; aber im Grunde war er selber der mit allen Vollmachten ausgerüstete Gebieter oder vielmehr der Vertreter seines Herrn, und was er gemeinschaftlich mit Fräulein Thekla beschloß, das geschah. Er entließ Leute und setzte andere an deren Stelle; er zog Gelder ein und verausgabte sie wieder; kurz und gut, er machte sich seinem Herrn allmählich so unentbehrlich und wirkte durch seine Reden so merkwürdig auf ihn ein, daß dieser zuletzt abhängig von ihm wurde, ihn sogar fürchtete. Uebrigens 'ne schöne Genugthuung für einen im Dienst ergrauten Kutscher, der schon seines Herrn Großvater gefahren, zu beobachten, wie fremde Menschen die Oberhand gewinnen und mit einer der prächtigsten Herrschaften im Lande schalten, als ob die Welt nur für lauter Ehrwürden, Hochwürden und wer weiß für welche sonstige Heiligkeiten geschaffen worden wäre.«
»Gab es denn keine Seele, welche dem armen hintergangenen Manne die Augen öffnete?« fragte ich, sobald Seltsam schwieg, besorgt und mit fieberischer Spannung seinen ferneren Enthüllungen entgegensehend.
»Ihm die Augen öffnen?« fragte jener höhnisch zurück, »o, die will er selber nicht mehr geöffnet haben, und macht er wirklich einmal Miene, seinen eigenen Weg zu gehen oder in irgend einer Sache den eigenen Willen durchzusetzen, so rufen sie ihm schnell den achtzehnten Januar in's Gedächtniß – ich war mehrfach Zeuge – und dann schauert er in sich zusammen und ängstlich und fügsam wird er, wie ein kleines Kind.«
»Aber um Gottes willen, was bedeutet der achtzehnte Januar?« fragte ich, wie in einem Traume, in welchem man, durch die mechanische Thätigkeit des Geistes in eine verhängnißvolle Lage versetzt, unter Todesängsten vergeblich den freien Gebrauch der Glieder erstrebt.
»Das ist eine traurige Geschichte,« erwiderte Seltsam ernst, »ich habe sie so viele Jahre hindurch für mich behalten, und wenn ich mich heute entschließe, darüber zu sprechen, so geschieht's, weil's vielleicht von Wichtigkeit für Sie ist; und ein Kutscher, mag er nun das Vertrauen seiner Herrschaft besitzen oder für einfältig gelten, erfährt oft mehr, wenn er Augen und Ohren gebraucht, als zehn andere Menschen, vor welchen man auf der Hut ist. –
»Vier Jahre waren nach dem Scheiden der freundlichen Martha aus unserem Hause verstrichen, und andere, als verbitterte und verbissene Gesichter sah man überhaupt nicht mehr, als eines Tages eine dicht verschleierte Dame bei uns eintraf. Sie kam in einem offenen, unansehnlichen Miethswagen; eine angemessene Fahrgelegenheit zu benutzen, hatten ihr wohl die Mittel gefehlt. Als sie in geringer Entfernung von meinem Pferdestalle dem sie fahrenden halberwachsenen Bauerburschen befahl, zu halten – vorzufahren, wagte sie offenbar nicht – und abstieg und mit unsicheren Schritten und freundlich begrüßt von den Hunden sich nach dem Schlosse begab, da wußte ich, wen ich vor mir sah. Gern, herzlich gern wär' ich zu ihr herangetreten, um ihr guten Erfolg zu ihrem Beginnen zu wünschen – ich ahnte ja, was sie bezweckte – allein sie wollte unerkannt, vielleicht unbemitleidet bleiben, und da hatte ich kein Recht, ihren Wünschen zuwider zu handeln. Aber um's Schloß schlich ich herum nach der Hinterthür, und in der Gesindestube und in der Küche, wo meine Anwesenheit nicht befremdete, machte ich mir zu schaffen, die Blicke beständig auf die angelehnte Flurthür gerichtet, um, wenn nicht zu sehen, wenigstens zu hören. Auf diese Art entdeckte ich, daß die verschleierte Dame neben der Hausthür stand und geduldig auf die Antwort harrte, welche man für gut befinden würde, ihr zu ertheilen.
»Jahre sind seitdem vorübergerollt; wenn ich aber an jene Stunde denke, schnürt sich heute noch mein altes Herz zusammen. – Hu, wie's wetterleuchtet und kracht! Ruhig da, Ihr einfältigen Gäule! Aber Blitz und Donner, Kettengerassel und Hufschläge, junger Herr, das ist die richtige Musikbegleitung, wenn ich Ihnen erzähle, wie man die liebe, herzige Martha vor ihres eigenen leiblichen Vaters Thür abfertigte, um sie der Verzweiflung und dem Elend zu überantworten. Die arme Martha dagegen, wie groß muß ihre Noth, muß ihr Herzeleid gewesen sein, daß sie zu einer entsetzlichen Demüthigung sich entschloß! Hahaha! junger Herr, nicht umsonst heiße ich Seltsam, denn seltsam bleibt's, daß ich die vielen Jahre hindurch niemals Lust verspürte, zu einem Anderen, als den Gäulen den Mund aufzuthun, und heute mit einem Male ein ganzes Buch voll darüber sprechen möchte. Aber das ist die Folge davon, daß ich in jener Stunde den letzten Glauben an die Gerechtigkeit der Menschen verlor, daß ich, ohne helfen zu können, Zeuge war, wie eine verstoßene Tochter in der Vorhalle unter dem heimatlichen Dache verzweifelnd die Hände rang – und ich sah es deutlich, denn die Italienerin kam in die Küche geschlichen und öffnete die Flurthür ein wenig, um die unglückliche, verschleierte Dame heimlich zu beobachten. Ja, die Hände rang sie, und doch wagte sie nicht, bis zu ihrem Vater vorzudringen, wie sie wohl ursprünglich beabsichtigte, und sich ihm zu Füßen zu werfen. Hätte sie das nur gethan, es wäre Alles gewiß anders gekommen; denn so unversöhnlich konnte der alte Herr nicht sein, daß er beim Anblick seines in Gram vergehenden Kindes ungerührt geblieben wäre. Dergleichen sahen der Candidat und seine Verbündete indessen wohl vorher, und deshalb sorgten sie dafür, daß die Zusammenkunft nicht stattfand. Selbst Fräulein Thekla zeigte sich nicht vor der Schwester, sondern saß bei ihrem Vater und weinte und klagte über die ihrem Hause widerfahrene Schmach, und beschwichtigte sein Gewissen und bestärkte ihn nach des Candidaten Eingebungen in der Ueberzeugung, daß er sein entflohenes Kind, die Frau eines Anstreichers, die Schande seiner Familie, nicht wiedersehen dürfe. Zu dem verzweifelnden Kinde aber in der Vorhalle trat der Candidat – o, ich höre seine heuchlerische Stimme noch heute – und in traurigem, feierlichen Tone sprach er zu seiner früheren Schülerin von den Sünden der Kinder gegen ihre Eltern, wodurch diese an den Rand des Grabes gebracht wurden.
»›Was soll das heißen?‹ fuhr die Aermste stolz und mit dem Muthe der Verzweiflung empor, daß es mir wie eine schartige Messerklinge in der Seele wühlte, ›was soll das heißen, daß in meinem elterlichen Hause ein Fremder mir in solcher Weise begegnet? Besitze ich keine Schwester mehr, deren Pflicht es wäre, zwischen mir und meinem Vater zu vermitteln?‹
»›Sie hat vermittelt,‹ versetzte der Candidat noch ernster, ›sie hat Alles gethan, was eine treue Tochter thun darf, ohne zugleich das Leben ihres Vaters in Frage zu stellen. Sie aber persönlich begrüßen? Ach, die Trauernde weilt neben dem Schmerzenslager des gnädigen Herrn und darf ihn keine Minute verlassen, um nicht seinen ganzen Zorn wach zu rufen und dadurch zur Mörderin an ihm zu werden. Sie bezweifeln meine Worte; dann bleibt mir leider nur der einzige traurige Ausweg, Ihnen mitzutheilen, was ich lieber verschwiegen hätte. Seitdem Sie ohne Vorwissen des gnädigen Herrn sein Haus verließen, ist es mit seiner Gesundheit langsam rückwärts gegangen. Den nach seinem Herzen geführten Schlag hat er nicht überwinden können, und indem er fühlt, daß seine Kräfte abnehmen, stößt er die entsetzlichsten Klagen gegen diejenigen aus, welche er als die Urheber seiner Leiden betrachtet. Ich will sie nicht wiedersehen, sprach er kalt, als ich gemeinsam mit dem gnädigen Fräulein Ihre Bitte um eine Audienz vortrug; dann kehrte er sich in seinem Bett mit dem Gesicht der Wand zu. Damit aber nicht zufrieden, verbot er Fräulein Thekla, Sie zu begrüßen, und das Einzige, was diese unter heißen Thränen von ihm erlangte, war, daß er Ihnen eine Unterstützung gewährte. Dort liegt Geld, rief er mir zu, geben Sie ihr hundert Thaler und wiederholen Sie ihr ausdrücklich: Ich habe einst eine zweite liebe Tochter besessen, allein diese sei bereits vor vier Jahren gestorben, durch ihren Tod den Keim zu einem verfrühten Ende in meine Brust pflanzend.‹
»Auf diese Ankündigung folgte tiefes Schweigen. Ueber die Schulter der lauschenden Italienerin fort durch die schmale Thürspalte sah ich, wie der Candidat der verstoßenen Tochter zwei Geldrollen auf die vor ihrer Brust gefalteten Hände legte. Gleich darauf vernahm ich einen dumpfen Schlag, welchem leises Klirren nachfolgte. Sie hatte das Geld zur Erde fallen lassen, daß die Papierhülsen zersprangen und die harten Thaler auf den Marmorfliesen umherrollten. Mit einem tiefen, schmerzlichen Seufzer – ich meinte, es hätte Ihr das arme Herz abstoßen müssen – zog sie Mantel und Schleier um sich zusammen, und ohne einen Laut der Klage, das Haupt tief geneigt, schwankte sie auf die Hausthür zu. Als diese hinter ihr zufiel, kam ich zu mir selbst. Der Anblick so vielen Jammers und solch grausamer Härte war selbst für meine Natur zu ergreifend gewesen. Mit einer Miene, als hätte ich nichts gesehen oder gehört, und durchaus nicht übereilt – ich fürchtete die Italienerin – trat ich in den Garten hinaus. Dann aber beschleunigte ich meine Schritte. Ich wollte an der Scheidenden vorüberschlüpfen, wollte ihr zuraunen, daß ihr Vater nicht so krank sei, wie man vorgebe, daß er in seinem Lehnstuhl sitze und, wenn er ihr harte Worte habe sagen lassen, dieselben von Anderen herrührten. Ich wollte ihr rathen, mit Gewalt bei ihm einzudringen oder unter seinem Fenster nach ihm zu schreien, allein ich kam zu spät.
»Indem ich um den mich von dem Vorplatz trennenden Gartenzaun herumtrat, rollte das Wägelchen bereits vom Hofe hinunter. Sie selbst hatte ihrem Kutscher die Peitsche entrissen und hieb verzweiflungsvoll auf die schwerfälligen Miethsgäule ein, um sie in eine schnellere Gangart zu bringen. Sie mußte von der Thür des Schlosses nach dem Fuhrwerk hinübergeflogen sein, sonst wär's nicht möglich gewesen. Das war das Letzte, was ich von dem armen lieben Kinde sah; und was ich später hörte, wer konnte die Wahrheit verbürgen? Denn der Candidat und seine Verbündeten, die sprengten aus, was ihnen am besten gefiel; und wenn bei aller Schurkerei nur noch Verstand d'rin läge. Aber 's ist unbegreiflich. Der alte Herr besitzt so viel, daß seine beiden Töchter sich in die Hinterlassenschaft hätten theilen können und dennoch reiche Leute geblieben wären, und wäre Fräulein Thekla habsüchtig, möchte sie schwerlich dulden, daß der Candidat fast unser ganzes Einkommen den Ehrwürden und Hochehrwürden in die Hände spielt. Nein, ich fasse es nicht, und zuweilen erscheint mir's, als wären der alte Herr und ich die beiden einzigen Gescheidten im Schloß, so verrückt stellen sich alle Anderen an.
»Mein lieber junger Herr, ich weiß zwar nicht, ob ich mich an den Richtigen wende, aber indem ich Ihnen Alles anvertraue, wird mir leichter um's Herz. Denn auch mein Gewissen bedrückt jener achtzehnte Januar, und ich meine oft, ich hätte wohl anders auftreten, der armen verstoßenen Tochter die Hand bieten und mit einem Holzscheit Jedem den Kopf entzwei schlagen sollen, der auf unserem Wege zum Vater uns entgegengetreten wäre. Aber die besten Gedanken kommen gewöhnlich nach, und war ich auch nicht so einfältig, wie die Leute mich verschreien, so verzagte ich doch leicht aus angeborenem Respekt, und dann dauerte es jedesmal etwas länger, bevor ich einen Entschluß faßte.
»Ist nun jener achtzehnte Januar für mich ein Tag der Trauer – und der achtzehnte war's, ich entsinne mich, wie's fror und die Flocken in der Luft spielten – so ist er für meinen armen Herrn ein Tag des Entsetzens. Man hat es wenigstens verstanden, ihn zu einem solchen zu machen; denn er braucht nur eine Miene des Widerspruchs zu zeigen, und auf der Stelle heißt's: Der achtzehnte Januar. Ich glaube, sie machen ihn verantwortlich für den frühen Tod der armen Martha.«
Wiederum schwamm der Stall in phosphorisch bläulichem Licht. Seltsam hatte das Haupt auf Arme und Kniee gestutzt; er schien entschlafen zu sein.
»Der achtzehnte Januar,« wiederholte ich in Gedanken, von unnennbarem Weh erfüllt. In meiner Phantasie verkörperte sich gleichsam ein längst zerronnenes Bild; ich gedachte jener unvergeßlichen Minute, in welcher der Candidat durch Erwähnung des verhängnißvollen Tages den Greis im Sammetpelz zwang, von mir abzulassen. Der Donner krachte und rollte; durch die hundertjährigen Baumwipfel brauste der Sturm; rauschend strömte der Regen vom Himmel und von den Dächern nieder. Im Aechzen und Seufzen des Windes, im betäubenden Kampfe der Elemente wie in dem Auflodern der elektrischen Flammen meinte ich fortgesetzt zu verstehen: »Der achtzehnte Januar!«