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DRITTES CAPITEL. TRÄUMEN UND ERWACHEN.

Welch lange, entsetzliche Nacht!

Endloses Heulen und Brausen erfüllte meine Ohren, undurchdringliche Finsterniß lastete auf meinem Geiste. Ich fühlte mich gehoben, gerüttelt und geschüttelt; lautlose Stille umgab mich und dann wieder das rasselnde Getöse. Gleichsam durch die geschlossenen Augenlider hindurch sah ich eine dämonisch grinsende, braune Mestizenphysiognomie, sah ich Männer in langen schwarzen Röcken. Ihre Häupter neigten sich über mich hin, ihre Züge vermochte ich indessen nicht zu unterscheiden: Die zwischen wüsten Traumbildern schwankende Phantasie half dagegen nach, Köpfe und Gesichter, welche mich mit Grausen erfüllten, zauberte sie auf die langen Röcke. Bald erkannte ich den Director des Jesuitenconvicts und seine Collegen, bald den Candidaten, den blondhaarigen Grub, den fein lächelnden Cringe oder den heuchlerischen Antiquar mit seinen beiden Gesellen. Flüsternde Stimmen flogen über mich hin, ohne daß ich im Stande gewesen wäre, ein einziges Wort zu verstehen. Mit aller Macht kämpfte ich gegen die mich umfangende Betäubung. Kein Glied vermochte ich zu rühren, noch weniger, die Augen aufzuschlagen. Nur dumpf empfand ich die Wirkung einer zwischen künstlich erzeugter Helligkeit und Nacht wechselnden Beleuchtung. Die mein Gehirn durchzuckenden Funken schrieben auf einen vor mir niederhängenden schwarzen Schleier mit feurigen Buchstaben die verhängnißvollen Worte: ›Wahnsinn – Tod.‹

Wie lange ich in diesem Zustande zugebracht hatte, ahnte ich nicht. Als ich erwachte, dämmerte der anbrechende Tag durch ein mäßig großes Fenster zu mir herein. Unentkleidet lag ich in einer breiten Bettstelle auf harter Matratze. Von eigenthümlicher Bangigkeit ergriffen, betastete ich meinen Körper. Das war nicht der Anzug, in welchem ich das Schiff verließ, nicht jene Bekleidung, welche ich im Beisein des Mestizen anlegte. Grobe wollene Stoffe umhüllten mich, weiches Schuhzeug schützte meine Füße. Erschreckt sprang ich empor. Lautlos verhallten meine Schritte auf dem Fußboden; entweder schwere Teppiche oder gar Polsterung bedeckten ihn. Mich schwindelte; mein Kopf brannte. Um frische Luft zu schöpfen, begab ich mich nach dem Fenster hinüber. Eine Rollgardine verdecke die Scheiben. Es war noch nicht hell genug, um die der transparenten Leinwand aufgetragene Malerei zu erkennen. Eine Landschaft schien es zu sein. Indem ich tastend nach der zum Aufrollen dienenden Schnur suchte, entdeckte ich zu meinem neuen Entsetzen, daß das tief in der Mauer liegende Fenster mir unzugänglich. Ein dichtes Netzgewebe von starkem Draht zog sich von dem einen Rande der Nische nach dem anderen hinüber. Solche Vorkehrungen konnten nicht getroffen sein, um einen Gefangenen am Ausbrechen zu hindern. Starke Eisenstangen wären gewählt worden. Ein Gefühl der Ohnmacht durchrieselte mich. Ueber die Bedeutung der eigenthümlichen Vergitterung klärte mich vollends auf, daß Thür und Wände ringsum bis zu einer Höhe von acht Fuß, ähnlich dem Fußboden, gepolstert waren und die Lagerstätte, das einzige Stück Möbel in dem wenig umfangreichen Zimmer, mit der Wand und dem Fußboden aus einem Stück zu bestehen schien. Ich befand mich in einer Irrenanstalt, in einer für Tobsüchtige eingerichteten Zelle.

»Wie war ich dorthin gekommen und was war der Grund eines solchen gegen mich beobachteten Verfahrens?« fragte ich mich erschüttert; dann hielt ich mit beiden Händen meinen Kopf, um mich davor zu bewahren, daß meine Gedanken sich wirklich verwirrten. Vor meinem Geiste erstanden alle Scenen, welche ich seit meinem Eintreffen in New-York erlebte. Sie verschwammen wohl traumartig in einander und entbehrten im Grunde jeder Berechtigung, allein um die Erinnerung an dieselben für Ausgeburten einer kranken Phantasie zu halten, hätten sie in weiterer Vergangenheit zurückliegen müssen. Verzweiflungsvoll warf ich mich wieder auf das harte Lager, und meine ungetheilten geistigen Kräfte aufbietend, begann ich, die jüngste Zeit noch einmal Schritt für Schritt in Gedanken zu durchleben. Doch nur bis zu einer bestimmten Grenze gelangte ich, nur bis dahin, wo ich, durch geheimnißvolle Einflüsse überwältigt, Stella zu Füßen sank; dann aber fiel Alles in ein einziges, schwarzes, unentwirrbares Chaos zusammen. Endlich neigte ich wirklich zu dem Glauben hin, in Folge der gewaltigen Ueberreizung der Sinne, kürzere oder längere Zeit in geistiger Nacht vegetirt zu haben, und wahres Grausen ergriff mich.

Die Blicke hatte ich starr auf das Fenster gerichtet. Bangen Herzens sehnte ich den hellen Tag und die entsprechenden Aufschlüsse herbei. Die auf der Rollgardine ausgeführte Malerei trat deutlicher hervor. Sie erinnerte an die ferne Heimat, an Wald und Wiese, an Bach und See, wie es einst den wilden Knaben erfreute und beglückte. Eine Wassermühle, beschattet von hohen Bäumen, erhob sich im Vordergrunde. Der Bach kam aus einem fernen Walde und schlängelte sich durch eine Wiese. Pferde und Rinder weideten auf seinem Ufer. Im Schatten eines überhängenden Felsblocks kosten die Hirtin und ein Jägersmann. Vielfach hatte ich derartige Vorhänge gesehen, ohne sie weiter zu beachten. Daß dieser meine Aufmerksamkeit in erhöhtem Grade fesselte, war weniger eine Folge des Suchens meiner Augen nach einer Raststätte, als weil die Malerei mit größerer Sorgfalt und Kunstfertigkeit ausgeführt war, als man gewöhnlich auf Dinge von so geringem Werthe verwendet. Eine gewisse Meisterschaft war sogar unverkennbar.

Die Sonne war längst aufgegangen; höher steigend lugte sie über die mir unsichtbaren Nachbarhäuser, den oberen Rand der Rollgardine berührend. Mit unbewußter Theilnahme beobachtete ich, wie die goldige Beleuchtung allmählich tiefer hinabglitt, den blauen Himmels die grünen Bäume und endlich die graue Mühle mit einem Glanze überströmend, welcher meinen, Alles verschönenden frühesten Jugenderinnerungen entnommen zu sein schien. Plötzlich stockte mir der Athem. Eine Empfindung, wie ich sie kaum jemals zuvor erlebt hatte, erschütterte mich. Als sei der Sonnenschein ein weisender Finger gewesen, schob er sich über den Felsblock, die dunklen Farben schärfer von einander trennend, und ich glaubte noch immer zu träumen, als ich am unteren Rande des Gesteins zwischen Halmen und Blättern dasselbe Monogramm hervortreten sah, auf welches ich meine ganze, meine einzige Hoffnung gesetzt hatte. Da waren dasselbe W und dasselbe Z, wie der alte Mann sie mir einst schildert waren dieselben verschlungenen Buchstaben, wie sie jeder einzelnen Zeichnung in meinem Skizzenbuch beigefügt worden.

Erschrocken sprang ich empor. Das Skizzenbuch fehlte und mit ihm waren verschwunden die übrigen Erinnerungszeichen. Mit wachsender Angst betastete ich mich; nicht einmal den kaum nennenswerthen Rest meines Reisegeldes hatte man mir gelassen. Der geheimnißvolle Wechsel meiner Bekleidung beruhigte mich indessen einigermaßen wieder. Welchen Grund man gefunden haben mochte, mich gegen mein Wissen und Wollen von dem freien Verkehr mit Menschen abzusondern, für einen Anderen hatten jene Andenken nicht den entsprechenden Werth, sie mir vorzuenthalten. Ich glaubte daher, zuversichtlich erwarten zu dürfen, daß diejenigen, welche sich bisher meiner freundlich annahmen, auch für die Zurückerstattung meines Eigenthums Sorge tragen würden.

So beschwichtigte ich meine bösen Ahnungen; doch mehr, als solche Gründe, ermuthigte mich der Anblick des Monogramms, der Anblick der mit Sonnenschein überflossenen Landschaft, welche durch jenes als ein Werk von denselben Händen gekennzeichnet wurde, die einst mit heiterem Lebensmuthe in freundlichen Bildern ihre Huldigungen der lieblichen Martha darbrachten.

Wie vor nicht allzu langer Zeit in den Magazinräumen des heuchlerischen Antiquars das in blaue Seide gebundene Buch meine Aufmerksamkeit in einer Weise fesselte, daß ich das Gefährliche meiner Lage darüber vergaß, so versenkte ich mich jetzt mit ganzer Seele in das Anschauen der transparenten Landschaft. Sie war noch wohl erhalten; es konnten wenigstens noch keine Jahre seit ihrem Entstehen vorübergerollt sein. Wo aber und in welchen Verhältnissen lebte der Mann, der sich gezwungen sah, sein hervorragendes Talent in der Anfertigung von Fabrikarbeit zu verwerthen, sogar herabzuwürdigen?

Knarrendes Geräusch lenkte meine Aufmerksamkeit nach der gepolsterten Thür hinüber. Ein in deren oberer Füllung sinnig angebrachtes Fallthürchen war zurückgeschlagen worden, daß es eine Art Tisch bildete; in die Oeffnung aber drängte sich ein langes knochiges Gesicht mit kleinen schwarzen Augen, die gewohnt zu sein schienen, mit keiner größeren Theilnahme auf andere Menschen zu blicken, als etwa auf die Polsterung meines Zimmers oder die Drahtvergitterung des Fensters.

»Man befindet sich besser heute,« ertönte eine heisere Stimme so ausdruckslos, daß ich mich versucht fühlte, hinzuzuspringen und der widerwärtigen Physiognomie die Fallthür vor den Kopf zu schlagen.

»Ich befand mich nie wohler in meinem Leben,« antwortete ich indessen höflich, in der dumpfen Hoffnung, dadurch meiner grausigen Lage am schnellsten enthoben zu werden.

»So betheuerte man alle Tage,« hieß es spöttisch zurück, »und wenn ich durch die scheinbare Ruhe mich verleiten ließ, zu öffnen und einzutreten, hatte ich meine Noth, wieder herauszukommen, ohne die Spuren Eurer Nägel in meinem Gesicht davonzutragen.«

Nach dieser Erklärung mußte ich mich stützen, um nicht vor Entsetzen zusammen zu brechen. Rathlos spähte ich um mich. Meine Blicke suchten mechanisch das Monogramm, und meine Fassung kehrte wenigstens theilweise zurück.

»Ich verstehe Euch nicht,« erwiderte ich mit erzwungener Ruhe, »vielleicht seid Ihr so gütig, mir Aufschluß darüber zu ertheilen, wie ich hierher gelangte und was aus meinen Kleidern und den in denselben befindlichen Gegenständen geworden ist. Jedenfalls möchte ich Euch bitten, die Thüren zu öffnen und mir zu gestatten, mich von einem Ort zu entfernen, an welchen ich am wenigsten mit meiner Bewilligung gebracht wurde.«

»Das klingt wie Vernunft,« grinste der Wärter vertraulich, »allein nicht um eine Million möchte ich Euern Bitten willfahren, nicht um eine Million die Verantwortlichkeit auf mich laden, durch Eure Entlassung ein Unglück herbeigeführt zu haben.«

»So verschafft mir die Gelegenheit, den Mr. Grub zu sprechen,« versetzte ich bebenden Herzens.

»Ich kenne keinen Mr. Grub,« lautete die Antwort, »ebenso wenig kann ich Aufschluß über den Verbleib Eurer Sachen ertheilen. Vor mehreren Tagen brachte man Euch von einem Schiff hierher, die Pension wurde vorausbezahlt, und da bleibt Euch freilich kein anderer Ausweg – ich nehme an, Ihr begreift, was ich spreche – als Euere vollständige Genesung abzuwarten. Geduld und Ruhe sind Euch vom Arzte anempfohlen worden, und daß Beides Euch nicht fehlt, dafür trage ich gewissenhaft Sorge.«

Wiederum warf ich einen Blick auf das transparente Bild, um meine Fassung nicht zu verlieren. Bevor ich indessen etwas zu erwidern vermochte, öffnete sich die Thür und vor mir stand der Wärter, eine Gestalt von herculischem Körperbau, gefolgt von einem Diener, welcher ein mit Speisen besetztes Tischchen vor sich trug, und einem auffallend schönen bleichen Manne mit orientalischen Gesichtszügen und in der malerischen Tracht eines indianischen Häuptlings. Obwohl unverkennbar dieser Race nicht angehörend, hatte er, um sein Costüm zu vervollständigen, sich nicht gescheut, zur indianischen Malerei zu greifen und, wie auf einem Wappenschilde, durch einen breiten blauen Balken sein Gesicht in zwei Hälften getheilt. Vor sich trug er feierlich eine sehr lange Pfeife mit breitem, seltsam geschmücktem Rohr und Kopf von rothem Stein.

»Mein Freund Tenuga,« stellte der Wärter den eigentümlich melancholisch blickenden jungen Mann mir vor, »ein berühmter Häuptling und Medicinmann, welcher es liebt, mit den bei uns zuziehenden Gästen, sobald es deren Seelenzustand erlaubt, die Friedenspfeife zu rauchen und auf diese Weise zwischen allen Bewohnern unseres Schlosses ein angenehmes Verhältniß herzustellen. Und recht berühmte Persönlichkeiten beherbergen wir hier: Leute mit gläsernen Füßen, andere mit Kreuzspinnen im Kopfe, ferner Millionäre, Fürsten, Könige, auch einen Apostel, sogar eine recht umgängliche Dame, welche vor hunderttausend Jahren schon in Form eines Ichthyosaurus die Nilsümpfe unsicher machte. Auf dem Wege der Seelenwanderung durchlebte sie nach dem Darwinschen Gesetz – ihre eigenen Worte – alle Stadien einer ziemlich zahlreichen Menagerie, worauf sie endlich ihre jetzige vollkommene Menschengestalt angewiesen erhielt. Doch wie gesagt, diese Dame ist sehr unterhaltend und wird Euch manche genußreiche Stunde verschaffen, ihr selbst aber gereicht die Bekanntschaft mit einem Schutzheiligen ohne Zweifel zur großen Ehre.«

»Schutzheiligen?« rief ich erschüttert aus, denn diese Mahnung an die in dem Gespensterschloß verlebten bangen Stunden schürten den Verdacht, daß ich in jüngster Zeit meiner Sinne wirklich nicht mächtig gewesen.

»Heute möchtet Ihr unerkannt bleiben?« versetzte der Wärter sorglos, »gut, gut, ich komme den Wünschen meiner Freunde gern entgegen und empfehle daher zunächst meinen Freund Tenuga Eurem Wohlwollen. Raucht mit Ihm Bruderschaft, und baut darauf, daß wenn er alle heidnischen Stämme erst unter einem Scepter vereinigt haben wird, ein Ministerposten Euch sicher ist.«

Der bleiche junge Mann nickte zustimmend und blickte mich so eigenthümlich durchdringend an, daß ich meine Augen vor ihm senkte.

»Möchtet Ihr mit mir rauchen?« fragte er ruhig.

»Heute nicht,« antwortete ich stotternd, gleichsam instinctartig mich sträubend, durch Eingehen auf den Vorschlag, mit einem Irrsinnigen mich auf die gleiche Stufe zu stellen und den auf mir ruhenden gräßlichen Verdacht zu bestätigen; »bisher lernte ich den Genuß des Tabaks nicht kennen,« fügte ich entschuldigend hinzu, als ich in den dunkeln Augen Enttäuschung und Unzufriedenheit las, »vielleicht später – morgen oder übermorgen, wenn ich bis dahin nicht aus meiner Gefangenschaft erlöst sein sollte.«

»Es ist Zeit, daß wir gehen,« nahm der Wärter schnell das Wort, »stellt ihm einen Stuhl vor den Tisch,« wendete er sich an den Diener, und dann wieder zu mir: »den Knopf dort neben der Thür braucht Ihr nur zu drücken, und es wird Jemand erscheinen, um sich nach Euren Wünschen zu erkundigen.«

Er wollte seinen Begleiter der Thür zudrängen, als ich noch einmal meine letzte Fassung zusammenraffte.

»So sagt mir wenigstens, woher dieser Vorhang stammt!« rief ich mit innerer Verzweiflung aus.

Der Wärter und der Diener blickten sich gegenseitig erstaunt in die Augen, als wäre meine Frage ein neuer Beweis für die Gestörtheit meines Geistes gewesen, dann antwortete Ersterer beruhigend:

»Das Ding gefällt Euch? Glaub's gern, denn es ist wohl ein Stück aus Eurer Heimat. Solche Wassermühlen kennt man wenigstens hier zu Lande nicht.«

»Aber von wem rührt es her?« fuhr ich noch dringender fort.

»Wenn Euch sehr darum zu thun ist, es zu erfahren, warum sollte ich Euch die Freude nicht bereiten?« versetzte der Wärter, »ein Irländer, Namens O'Cullen und ein so geriebener Handelsmann, wie nur je einer seiner eigenen Mutter Hochzeitskleid heimlich verkaufte, lieferte uns deren einige Dutzend. Woher er selber sie nahm, ist dagegen mehr, als zu verrathen ich im Stande bin.«

»O'Cullen,« wiederholte ich, um den Namen meinem Gedächtniß einzuprägen, dann betrachtete ich wieder das Monogramm, wie um aus den verschlungenen Buchstaben einen Rath für mich herauszulesen.

Da glitt Tenuga vor mich hin.

»Also morgen,« sprach er ernst, und indem er mich scharf ansah, glaubte ich in der tiefsten Tiefe seiner dunkeln Augen einen geheimnißvoll glühenden Funken des Verständnisses zu entdecken, »fürchtet nicht die Wirkung des Tabaks; er ist vermischt mit Sumachblättern und der Rinde der rothen Weide, Beides gedörrt über Kohlen von gesundem Hickory-Holz. Also morgen,« und er nahm meine Hand, dieselbe so lange haltend, bis ich gewahr wurde, daß zwischen seiner und der meinigen sich ein kleiner fester Papierstreifen befand, welchen er offenbar vor dem Wärter zu verheimlichen wünschte, »also morgen –«

»Vorwärts, Tenuga, vorwärts,« ermahnte der Wärter, »unser Schutzheilige wünscht allein zu sein – auf Wiedersehen, Mr. Indigo, wenn Ihr das heute lieber hört« – die Thür schloß sich hinter den Scheidenden; ich aber stand vor der transparenten Landschaft, fort und fort wiederholend den Namen des Irländers, von welchem ich Aufschluß über den verschollenen Künstler zu erhalten hoffte. Die Entdeckung des Monogramms und der Quelle, aus welcher zunächst die Vorhänge stammten, erschien mir als ein so gewaltig fördernder Schritt auf der von mir eingeschlagenen Bahn, daß ich darüber meine grausige Lage und den Verlust der mir unersetzlichen Erinnerungszeichen auf Minuten vergaß. Bei einer plötzlichen unabsichtlichen Bewegung fühlte ich in meiner Hand das mir von dem jungen Manne zugesteckte Papier. In demselben irgend einen wunderlichen Ausfluß seines kranken Geistes vermuthend, hob ich es empor. Eine kleine Photographie war es; ich hatte indessen kaum einen oberflächlich prüfenden Blick auf dieselbe geworfen, als sie meinen zitternden Händen beinahe entfiel. Wie damals in dem feuchten Gewölbe, so legte es sich auch jetzt, einer Erstarrung ähnlich, um meine Brust; denn wie damals, so sah ich auch jetzt auf mein eigenes Antlitz, erblickte ich mich in der Stellung und Bekleidung eines segnenden Apostels. Ich täuschte mich nicht, das kleine Portrait in meiner Hand konnte nur nach jenem Bilde angefertigt sein, welches der Candidat, jenes Scheusal in Menschengestalt, mit teuflischer Berechnung dazu benutzte, verwirrend, betäubend auf ein frommes, unschuldreines, jungfräuliches Gemüth einzuwirken.

Bei der Vergegenwärtigung des Candidaten ergriff mich wahres Grausen. Nie hatte ich bezweifelt, daß in jenen verhängnißvollen Morgenstunden, während welcher ich ihn belauschte, ihm sogar meine Anwesenheit verrieth, ich mir seine unversöhnliche Feindschaft zuzog, eine Feindschaft, welche alle seine anderen Zwecke zurückdrängte. Nimmermehr aber hätte ich geglaubt, daß dieselbe unauslöschlich genug, um mir über den Ocean zu folgen oder vielmehr voraus zu eilen, in dem fernen Erdtheil mir einen Empfang zu bereiten, wie ich einen solchen erfahren hatte, und mit weniger Aufsehen, als es in der Heimat möglich gewesen wäre, mich in einen lebendigen Todten zu verwandeln und damit meinen Mund auf ewig zu schließen.

»Worauf der Jesuitismus einmal seine Hand gelegt hat, das giebt er gutwillig nicht mehr heraus,« stöhnte ich zähneknirschend, indem ich mich verzweiflungsvoll auf mein Lager warf. Eine Täuschung aber konnte darüber nicht walten. In der Heimat war ich den verhaßten Finsterlingen nur entronnen, um hier, wo eine Nachfrage nie geschah, desto sicherer ihre Beute und als solche, mit meiner Kenntniß ihres Treibens und ihrer Grundsätze unschädlich gemacht zu werden. Krampfhaft preßte ich die Hände an meine Schläfen; mit lauter Stimme, als hätte ich zu einer anderen Person gesprochen, ermuthigte ich mich, die Fassung, meine letzte Ruhe nicht zu verlieren, sondern den mich bedrohenden Gefahren fest in's Antlitz zu schauen, und mir dadurch die Klarheit des Geistes zu bewahren. Wie jene Karte mit meinem Portrait in die Hände des gestörten jungen, schönen Mannes gerieth, versuchte ich nicht zu ergründen. Mir genügte, zu wissen, wer meine Feinde waren und wer diese auf meine Spuren gelenkt hatte, zu wissen, daß ein heimlicher Freund seine Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hielt. Was darüber hinausreichte, konnte nur dazu dienen, mich in unnütze Grübeleien zu versenken, zu verwirren, mich zu schwächen in dem Kampfe, welcher mir bevorstand und in welchem es sich nicht nur um mein eigenes Wohl und Wehe, sondern auch um das anderer, geliebter Menschen handelte.

Und so erzwang ich allmählich eine gewisse Kaltblütigkeit, welche mich befähigte, Ursache und Wirkung von einander zu trennen und dann wieder in ihrer natürlichen Folge an einander zu reihen. Was ich im kurzen Vollgenuß des höchsten Wohllebens flüchtig ahnte, als vollendete Thatsache lag es jetzt vor mir. Gegen die Lehren des alten Fröhlich, welche im Verlauf von Minuten die sorgfältige Dressur langer Jahre tief erschütterten, hatte man als Gegengift die durchdachteste Ueberreizung meiner Sinne in Gemeinschaft mit leichtfertigen religiösen Auslegungen angewendet. Was auf solche Art eingeleitet wurde, sollte eine furchtbare Abgeschlossenheit vollenden. Zwei Wege blieben mir nur offen: Entweder ich unterlag den auf die Abtödtung der Denkkraft berechneten Einflüssen, um fortan in geistiger Grabesnacht nur ein Scheinleben zu führen; oder ich erkaufte mit gebrochener Seele die Erlösung aus einer martervollen Lage um den Preis, Denjenigen, welche sich meiner bemächtigt hatten, als eine lebendige Leiche, als ein willenloses Werkzeug bis an das Ende meiner Tage sklavisch zu dienen. Wildes Hohnlachen sandte ich durch meine Zelle; dann sprang ich empor, um im schnellen auf und ab Wandeln die heftig erregten Leidenschaften wieder zu beruhigen, mir selbst den Freund und treuen Rathgeber zu ersetzen, indem ich meine Empfindungen wiederum in laute Worte kleidete, meinen Haß aufstachelnd, mich rüstend zur Abwehr der nach mir gezielten vernichtenden Schläge.

»Die in der Gefangenschaft aufgewachsene und unter der Peitsche sich ängstlich krümmende Pantherkatze gelangt unter einem Uebermaß von Mißhandlungen zum Bewußtsein ihrer Kraft, und es erscheint ein Tag, an welchem sie Krallen und Zähne wollüstig in das warme Herzblut ihres Peinigers taucht. So habt Ihr« – und ich schüttelte drohend meine Faust gegen ein Heer mir vorschwebender schwarzer Gestalten – »so habt Ihr mich gefoltert, gemartert, geknechtet und mir feindlich nachgestellt, bis endlich das, mir von einem höheren Willen zuerkannte Gefühl der Manneswürde und der Freiheit aus dem künstlich erzeugten Scheintode in's Leben zurückgerufen wurde! Fort daher jetzt mit allen Zweifeln, hervorgegangen aus einem Gewirre der einander widersprechendsten Anschauungen. Fort mit allen überschwänglichen Träumen und religiösen Empfindeleien! Fort mit allen wehmüthigen Erinnerungen und der verweichlichenden Trauer um Verlorenes! Fort mit Allem, was den klaren Blick trübt, den Willen hemmt und die Kraft des Armes lähmt! Eine doppelte Aufgabe liegt vor mir – und Ihr selbst habt sie vor mich hingestellt – eine Aufgabe, bei deren Lösung keine anderen Rücksichten walten dürfen, als diejenigen, welche den Erfolg sichern. Mein Wille ist treu, mein Zweck ein gerechter, und tausendfacher Fluch mag diejenigen treffen, welche verschulden, daß ich unauslöschlichen Haß und Rachedurst zu Bundesgenossen wähle! Die Mauern, welche meinen Kerker bilden, ich werde sie durchbrechen, und dann« – ahnungsvoll legte ich die Hand auf das Drahtgitter, hinter welchem das Monogramm im Sonnenschein verheißend glühte – »und dann werden sich die Räthsel lichten, welche Dein Handeln bestimmten, Räthsel, welche stärker waren, als die berechtigtsten und natürlichsten aller Gefühle, stärker, als das Andenken an eine Heilige, stärker, als die Liebe des Vaters zu seinem einzigen Kinde.«

Langsam kehrte ich mich ab. In dem lautlosen Verhallen meiner Schritte auf der weichen Polsterung lag etwas Unheimliches, Geisterhaftes; von Neuem erhob ich meine Stimme, um mich einer Anwandlung von Grauen zu erwehren.

»Und die Abrechnung,« sprach ich mit finsterer Entschlossenheit, »o, auch ihre Zeit wird kommen, die Abrechnung mit Allen, welche feindlich in die Geschicke argloser, treuer Menschen eingriffen, mit Allen, welche ein armes Mutterherz brachen und zermalmten, schnöden Gewinns halber die geheiligsten Familienbande zerrissen und das, was nicht elendiglich unterging, mit teuflischer Grausamkeit auf die Straße hinauswarfen. Ha, die Abrechnung! Bei Heller und Pfennig soll sie erfolgen; und ein Geringes ist es nicht, wegen dessen man Hunderte von Rädern und Triebfedern in Bewegung setzte! Tiefer liegende Gründe, als der Haß gegen einen verwaisten Knaben, weiter reichende Zwecke, als die erbärmliche Aufgabe, einer prunkenden Kirche einen neuen Bekenner zuzuführen, sind die belebende Kraft jenes unheimlichen Räderwerkes.«

Beruhigter wallte mein Blut; schärfer, zuversichtlicher richtete ich meine Blicke in die Zukunft. Hinter mir verschleierten sich liebliche, von Wehmuth umwobene Bilder. Kalt und starr vergegenwärtigte ich mir dunkel glühende Augen. Der von ihnen ausströmende Zauber verlor seine Kraft; mitleidig gedachte ich ihres verkäuflichen Feuers, tief mitleidig, denn es war dazu bestimmt, nachdem häßliche, nachtliebende Geschöpfe es zur Genüge, bis zum Ueberdruß umflatterten, durch einen Gifthauch getödtet zu werden.

Noch einmal betrachtete ich das kleine Portrait aufmerksam. Quer über die Stirn des gen Himmel stierenden Heiligen war mittelst eines scharfen Werkzeuges ein Strich gezogen worden. Die Bedeutung dieses Zeichens ahnte ich; schaudernd verbarg ich das Bild auf meinem Körper. Ein kurzer Spaziergang noch durch das Gemach mit lautlos verhallenden Schritten, dann setzte ich mich zum Essen nieder. Ich meinte in der letzten Stunde um viele Jahre gealtert zu sein, zum letzten Mal in meinem Leben gelächelt zu haben.

Ein Tag folgte auf den andern in trüber Einförmigkeit. Meine einzige Unterhaltung bildete das Betrachten der mir unerreichbaren transparenten Landschaft mit dem verheißenden Monogramm, bildete das unablässige Schüren meines Hasses, das Entwerfen von Plänen und das sich stets erneuernde Ringen gegen entnervende Rückerinnerungen. Wäre es am ersten Tage meines Erwachens in der Gefangenschaft mir geglückt, zu entkommen, so würde ich vielleicht in mein unseliges Schwanken, in mein kraftloses Nachgeben äußeren Einflüssen und den durch solche bedingten augenblicklichen Regungen und Verhältnissen zurückgesunken sein. So aber dienten jene Tage einsamen Grübelns dazu, mich vorzubereiten, gleichsam zu rüsten für bevorstehende Prüfungen und erbitterte Kämpfe.

Doch wenn die unablässige Wachsamkeit des Wärters zuweilen meinen Muth zu brechen drohte, so wirkte mein Verkehr mit dem jungen ernsten Manne in der indianischen Bekleidung dafür wieder tröstlich auf mich ein. Wie Wärter und Aerzte außerdem über mich dachten, kümmerte mich bald nicht mehr. Schon am zweiten Tage gab ich es auf, sie von der Klarheit meines Geistes zu überzeugen. Je verständiger und einleuchtender ich sprach, um so mehr bestärkte ich sie, die Erfahrungszeichen, in dem Wahne, daß die in meinem Wesen sich offenbarende Ruhe der Vorbote eines baldigst zu erwartenden Anfalles von Tobsucht, um so vorsichtiger behandelte man mich und um so leichter bewirkte ich, den zu bestimmten Tagesstunden sich im Freien ergehenden Kranken fern bleiben zu dürfen. Ich vermochte die Abneigung und Scham nicht zu überwinden, im engen Verkehr mit den Unglücklichen gesehen und daher von fremden Beobachtern ebenfalls als ein, unheilbarem Wahnsinn verfallener junger Mann bedauert zu werden.

Mit Tenuga beschäftigte ich mich dagegen gern. Täglich besuchte er mich, selbstverständlich unter Aufsicht, und nie versagte ich es, die Friedenspfeife mit ihm zu rauchen. Die Photographie kam nicht wieder zur Sprache zwischen uns, nur als ich einst, die Nähe des Wärters berücksichtigend, eine ihm allein verständliche Andeutung darüber wagte, blickte er mir so ruhig und durchdringend in die Augen, als hätte er mich zur äußersten Vorsicht mahnen wollen. Am folgenden Tage schmückte statt des blauen Querbalkens ein rother Stern sein Antlitz, und nachdem wir die gewöhnlichen Züge aus der Friedenspfeife gethan hatten, fragte er mich freundlich, ob ich die Bedeutung des als Schmuck gewählten Zeichens kenne.

»Ein Stern ist es,« antwortete ich, und meine ganze Kraft mußte ich aufbieten, um meine äußere Ruhe zu bewahren, denn es unterlag ja keinem Zweifel mehr, daß er im Verein mit Stella handelte.

»Ja, ein Stern,« bestätigte Tenuga träumerisch, »ein Stern der Hoffnung; ich werde ihn fortan als meinen schönsten Schmuck betrachten, bis die vereinigten Stämme –«

»Schon gut, schon gut,« fiel der Wärter ungeduldig ein, indem er sich zum Gehen anschickte, denn er mochte schon bis zum Ueberdruß von der beabsichtigten Vereinigung aller Eingeborenen zu einer einzigen Nation gehört haben, »morgen mehr über diesen erstaunlich wichtigen Gegenstand; für heute wollen wir uns bescheiden und dem Mr. Indigo die ihm vom Arzte anempfohlene Ruhe nicht länger verkümmern.«

Der junge Mann senkte wieder einen verständnißvollen Blick in meine Augen, dann folgte er zögernd dem Wärter und in der nächsten Minute hörte ich, wie die Riegel der Thüre vorgeschoben wurden und mich in meiner Zelle von der Welt absonderten.

Zehn oder zwölf Tage hatte ich in der entsetzlichen Gefangenschaft zugebracht, welche mir ohne die durch Tenuga geschürte Hoffnung leicht zu einer verhängnißvollen hätte werden können, als ich, wie gewöhnlich, frühzeitig mein Lager aufsuchte. Das marternde Gefühl gänzlicher Vereinsamung, welches durch die eintretende Dunkelheit verschärft wurde – Licht war mir ebenso wenig gestattet, wie die geringsten Mittel zur Zerstreuung – suchte ich durch Schlaf zu bekämpfen. Die Blicke auf die transparente Landschaft gerichtet, war ich in erhöhtem Grade der Wirkung des allmählich schwindenden Tageslichtes unterworfen. Wie Farben, Linien und Formen in einander verschwammen, erhielten auch meine Gedanken einen eintönigen Charakter, bis endlich Träume die Nacht wieder verdrängten und an Stelle des eingeschlummerten Sonnenscheins traten.

Das Wasser rauschte, die Mühle drehte sich klappernd. Siebenfarbiger Regenbogenduft ergoß sich über die ganze Landschaft. Die in dem Azur des Aethers schwebenden langbeschwingten Raubvögel wuchsen und erhielten die Physiognomien des Candidaten und des Antiquars. Gierig spähten sie zu dem Jäger und der Hirtin nieder. Es befremdete mich nicht, in Ersterem plötzlich mich selbst zu erkennen, in der Hirtin dagegen Stella, die betäubenden Duft ausströmende exotische Blüthe.

»Nimm Dein Gewehr und schieße sie herunter, bevor sie ihre in Opium getauchten Krallen in Dem Herz schlagen,« flüsterte Stella.

Doch der Jäger rührte sich nicht; er hatte nur Sinne für die dunkeln Augen, für die süße, einschmeichelnde Stimme seiner Hirtin.

Das Wasser rauschte, die Mühle drehte sich klappernd. Die beiden zum Monogramm verschlungenen Buchstaben schlichen aus ihrem traulichen Winkel hervor. Sich reckend und dehnend erlangten sie allmählich eine riesenhafte Größe. An ihren Schnörkeln hingen eine alte abgeschabte Jagdtasche und ein Knotenstock, hingen ein Skizzenbuch und ein Päckchen Papier, hing ich endlich selber, in den letzten Todeszuckungen eine Opiumflasche schwingend und mit dem Ausdruck scheinheiliger Verzückung gen Himmel stierend.

»Es ist zwar ein Vorzug, die eigenen Füße als Isolirstuhl betrachten zu können,« flüsterte der Jäger geheimnißvoll, »allein gläserne Füße wollen mit äußerster Vorsicht behandelt sein; eine unvorhergesehene Erschütterung, und sie zerspringen in unzählige Scherben.«

»Ihr vergeßt, daß durch den Rauch des Sumachs, gepflückt im Vollmondschein, das Glas seine Sprödigkeit verlor und die Eigenschaft des Bergkrystalls erhielt,« ertönte eine andere Stimme aus dem Schilf, und entgegen flatterte mir ein bunter Laternenträger, mit seinem Licht mich förmlich blendend, »darum streift die Besorgniß von Euch ab und gedenkt, daß die Zeit nicht fern, in welcher Ihr beim Gehen mit Euern Füßen helle Funken aus den Steinen schlagt. Aber die unbedingteste Folgsamkeit mache ich Euch zur Pflicht, oder der Zauber ist gebrochen –«

»Ihr mögt auf meine Ergebenheit zählen,« flüsterte es wieder auf der andern Seite, »ich versäume zwar den gelehrten Vortrag des verkappten Ichthyosaurus, allein ich tröste mich mit dem Gedanken, daß sein Beistand –«

»Still, still,« beschwichtigte die andere Stimme, und der Laternenträger näherte sich mir schneller, »Kinder und Narren sprechen die Wahrheit – doch bleibt dort stehen und achtet auf meine Winke.«

Ich fühlte einen leichten Druck an meiner Schulter. Schlaftrunken schlug ich die Augen auf; aber noch immer meinte ich, von Traumgestalten umringt zu sein, als ich Tenuga erkannte, wie derselbe in der linken Hand ein brennendes Licht, sich über mich hinneigte, während einige Schritte hinter ihm ein kleines, spitznasiges, kahlköpfiges Männchen seinen Hals lang ausreckte und einen Blick auf mich zu erhaschen suchte.

Der nächtliche Besuch von Irrsinnigen, welchen es gelungen war, die Wachsamkeit der Aufseher zu täuschen – denn nur so konnte ich mir deren Anwesenheit erklären – erschreckte mich dergestalt, daß ich sprachlos liegen blieb und nur meine Augen gebrauchte, um jedem gegen mich gerichteten Angriff sogleich in begütigender Weise begegnen zu können. Doch nur Secunden verharrte ich in dieser beängstigenden Ungewißheit; dann tönte des jungen Mannes Stimme mit freundlicher Entschiedenheit zu mir nieder.

»Mr. Indigo,« hob er an, und seltsam contrastirte die klare Ausdrucksweise zu den bemalten Gesichtszügen und dem wilden indianischen Schmuck, »ich bin gekommen, um Euch von einem Orte zu entfernen, an welchen Ihr nicht hingehört. Erstaunt nicht, in mir kein wahres Mitglied der innerhalb dieser Mauern untergebrachten, armen sinnlosen Gesellschaft zu erblicken, sondern erwägt, daß eiserne Willenskraft, eine unbegrenzte Opferwilligkeit dazu gehören, eine Rolle durchzuführen, welche gewiß eine für den gesundesten Geist gefährliche genannt zu werden verdient. Mit dieser Offenbarung begnügt Euch; und mehr noch: Eure Befreiung aus einer Lage, welche gleichbedeutend mit einem lebendig Begrabensein, mache ich abhängig von Eurem Versprechen, nicht mit Fragen in mich zu dringen, Euch zu erfreuen der zurückerstatteten Freiheit; nie eine Silbe verlauten zu lassen über mich oder die Art Eurer Flucht, kurz: Alles zu vergessen, was Ihr in dieser Nacht sehen oder erfahren mögt.«

»Alles, Alles, verspreche ich,« flüsterte ich leidenschaftlich, und indem ich emporsprang, ergriff ich des jungen Mannes Hand, »Alles verspreche ich, und ich bin gewohnt, mein Wort zu halten, nur fort von hier, fort aus einer Lage, welche in ihrer längeren Dauer mich in der That wahnsinnig machen würde.«

»Fort von hier sollt Ihr,« bestätigte der junge Mann ernst und mit einer gewissen Achtung gebietenden Würde, »binnen jetzt und einer Stunde seid Ihr frei; wollt Ihr indessen Euch eine dauernde Freiheit sichern, dann befolgt meinen Rath: Fordert Eure heimlichen Feinde nicht dadurch heraus, daß Ihr die jüngsten Erlebnisse in die Oeffentlichkeit tragt; sucht vielmehr Bekannte und Freunde von Euerm klaren Begriffsvermögen zu überzeugen, auf daß die Vorstände des Irrenhauses nicht wagen, Euch zurückzufordern, sondern den Tadel für einen begangenen Mißgriff scheuen und fürchten. Auch zum Schutz gegen Eure Feinde empfiehlt es sich, Euch einen Kreis von Bekannten zu schaffen. Mit dem freundelosen Fremdlinge konnte man verfahren, wie mit einem todten Stück Waare; diese Gefahr aber schwindet, sobald man weiß, daß Euer plötzliches Verschwinden strenge Nachforschungen im Gefolge haben würde. Habt Ihr mich verstanden und seid Ihr bereit?« schloß er fragend.

»Ich bin bereit,« antwortete ich fest, dann aber wies ich, von neuer Bangigkeit erfüllt, auf meine Kleidung, in welcher ich für einen entsprungenen Irren gehalten werden mußte.

»Es ist Alles vorgesehen,« versetzte mein junger Beschützer, indem er eine goldene Uhr zwischen den Falten seines phantastisch geschmückten Lederrockes hervorzog und einen Blick auf dieselbe warf, »außerdem brauchen wir uns nicht zu übereilen. Ihr seht den kahlköpfigen Herrn dort; er glaubt gläserne Füße zu haben. Erweist ihm den Segen, es zu bemerken, sucht ihn aber zu überzeugen, daß das vermeintliche Glas Bergkrystall. Dies ist sogar nothwendig, um uns seine Dienste zu sichern.«

Ich entsann mich der im Schlafe gehörten Worte, und auf meines Beschützers Vorschlag mit einer mich selbst überraschenden Geistesgegenwart dem scheu vor mir zurückweichenden kleinen Manne mich nähernd, betrachtete ich scharf seine Füße.

»Glas – Glas,« stammelte das arme Geschöpf in sichtbarer Todesangst, um Gotteswillen, die leiseste Erschütterung, und ich bin ein Krüppel!«

»Das nennt Ihr Glas?« fragte ich spöttisch. »Mit zerbrechlichem Glas vergleicht Ihr den festesten Bergkrystall?«

»Sollte es wirklich wahr sein?« fragte das Männchen, die Hände faltend und mit einem Ausdruck, als sei es plötzlich einem neuen Leben zurückgegeben worden.

»Ohne Zweifel,« bestätigte ich, »Bergkrystall aber ist härter als Eisen, denn er schneidet Glas, und Eisen ist härter als Fleisch und Blut, doch überzeugt Euch,« und den Entsetzten mit dem Fuße leicht gegen das Schienbein stoßend, erreichte ich, daß er zuerst wohl erbleichte, dann aber, bevor ich es hindern konnte, meine Hand ergriff und dieselbe dankbar küßte.

»Gott segne Euch,« sprach er schluchzend, »Gott segne Euch dafür, daß Ihr –«

»Hier, nehmt das Licht,« fiel mein räthselhafter Beschützer ihm kurz in's Wort, »leuchtet uns voraus und seid eingedenk meiner Warnungen. Wir wollen unsichtbar bleiben, und deshalb ist es nothwendig, daß Ihr, als Schutzwehr für uns, Euch einige Schritte vor uns haltet.

»Ein armer europäischer Beamter,« wendete er sich an mich, nachdem wir aus meiner Zelle auf einen geräumigen Gang hinausgetreten waren und in der vorgeschriebenen Ordnung langsam unseren Weg fortsetzten, »um nicht verhungern oder stehlen zu müssen, wollte er eine kleine Gehaltsaufbesserung erflehen, mußte aber so oft und so lange vergeblich in den Vorzimmern seiner Vorgesetzten stehen, bis er endlich fürchtete, daß seine Füße zerbrechen würden. Seine Vorgesetzten dagegen, sobald man merkte, daß die gläsernen Füße zur tollen Idee bei ihm wurden, schicken ihn eines guten Tages nach Amerika, wo man ihn in dieser Anstalt unterbrachte und, anstatt milde auf seine Ideen einzugehen, seinen Kopf rasirte und ihn täglich mit einem Dutzend Eimer kalten Wassers beglückte. Als ob ein kranker Geist sich leicht unter Gewaltmaßregeln beugte.

»Wie weit bin ich dagegen durch freundliches Entgegenkommen bei diesen armen Geschöpfen gelangt! Freilich, dem lächerlich aufgeputzten Verrückten schenkten sie Vertrauen, und so kostete es keine Mühe, alle, fast ohne Ausnahme, zu meinen Freunden, selbst zu meinen Willensvollstreckern zu machen. Deshalb sehen Wärter und Arzt es auch gern, wenn ich sie auf ihren Rundgängen begleite. So war heute zum Beispiel der gelehrte Vortrag des weiblichen, viele hunderttausend Jahre alten Ichthyosaurus angesetzt worden, und da ich kein anderes Mittel kannte, Euch zu befreien, so ertheilte ich den schnell von Mund zu Mund laufenden Befehl, um durch sie nicht gestört zu werden, die der Versammlung beiwohnenden Wärter auf einen Schlag zu fesseln und nicht eher wieder zu entlassen, als bis der Ichthyosaurus mit seinem gelehrten Vortrage zu Ende. Das kann freilich noch lange dauern, weil die gelehrte Dame ebenso unerschöpflich, wie ihre Zuhörer unermüdlich.

Alles ging glücklich von Statten, denn die List, Selbstbeherrschung und Verstellungsgabe der Irren grenzt oft an's Unglaubliche. Ich selbst brauchte mich nicht zu zeigen, trotzdem sitzen, bis auf den in seiner Loge schlafenden Portier, alle vernünftigen Bewohner dieser Anstalt fest auf ihren Stühlen; sogar der Arzt, der, kluger Weise auf der armen Geschöpfe Ideen eingehend, sich lächelnd, sogar aufmunternd in ihre wunderliche Laune fügte, wurde mit beiden Armen an seine Stuhllehne geschnürt, und da kostete es Freund Glasfuß keine Mühe, sich der Schlüssel zu bemächtigen und sie mir zu bringen.«

»Aber die Folgen?« fragte ich zaghaft, als ich beim Hinabsteigen auf einer Treppe eine mit lautem Pathos erklärende, schrille Frauenstimme unterschied.

»Höchstens ein halbes Dutzend Eimer Wasser mehr auf des Glasfuß nackten Schädel,« versetzte mein Begleiter ruhig, »denn er nimmt es allein auf sich, die Verschwörung angezettelt und Euch befreit zu haben. Warum sollte man auch den armen Geschöpfen noch besondere Strafen zuerkennen? Etwas vorsichtiger wird man vielleicht werden, und das kümmert und hindert mich nicht. Doch wir haben noch einige Minuten Zeit,« verfiel Tenuga in einen sorglosen Ton, als wir auf dem im zweiten Stockwerk weiter führenden Flurgange in gleiche Höhe mit dem Versammlungssaal der Anstalt traten. Dann drängte er mich vor ein offenes Schiebefenster, durch welches wir die geräumige Halle unbemerkt zu übersehen vermochten.

In wohlgeordneten Reihen saßen zahlreiche Gestalten beiderlei Geschlechts, welche trotz ihrer gespannten Aufmerksamkeit in Haltung und Blick einen traurigen Seelenzustand verriethen. Zwischen ihnen zerstreut entdeckte ich mehrere Wärter und einen Arzt, ebenfalls lauschend, jedoch zugleich argwöhnisch um sich spähend und berechnend, in wie weit aus der unvorhergesehenen Lage eine Gefahr für sie entspringen könne. Der weibliche Ichthyosaurus, eine Dame von auffallender Hagerkeit mit lang über Schultern und Nacken wallendem, bereits ergrautem Haar, saß auf einer Art Podium, mit nicht unanmuthigen Handbewegungen die einzelnen Sätze ihres Vortrages begleitend. Ihr Organ war schrill und durchdringend. Düstere Begeisterung sprach aus ihren unstät umherschweifenden Augen. Hohles Schnarren lenkte meine Aufmerksamkeit nach dem Hintergrunde der Halle hinüber. Ein älterer Mann saß daselbst auf einem niedrigen Schemel und drehte eine Kaffeemühle, während seine Augen ausdruckslos in's Leere stierten.

»Ein recht bedauernswerther Mensch,« erklärte mein Beschützer leise und mit einer ruhigen Besonnenheit, welche mir als sicherste Bürgschaft für die Gefahrlosigkeit meiner Lage galt, »ein früherer Geistlicher, welcher in seinem fanatischen Eifer gegen die fortschreitende Wissenschaft sich einbildete, ordnend in das Weltsystem eingreifen zu können. Nun sitzt der Aermste da und glaubt die Sonne zu drehen; dabei grämt und härmt er sich, selbst unter den Irrsinnigen Keinen zu finden, welcher ihn auf ein Weilchen ablösen oder nach seinem Tode ihn und seine Ansichten vertreten möchte. Der Herr dort mit dem Papierdrachen auf dem Rücken ist ebenfalls ein Geistlicher, welcher es für außerordentlich wichtig hält, den Ungläubigen auf praktischem Wege die Himmelfahrt zu veranschaulichen und zu beweisen. Doch hören wir, was der Ichthyosaurus heute behandelt.«

»Wäre es nicht vorzuziehen –« begann ich schüchtern und mit einem besorgten Blick auf unsern kahlköpfigen Begleiter, welcher sich auf die Erde gesetzt hatte und mit seltsamer Aufmerksamkeit seine Füße beleuchtete und betrachtete.

»Wir haben Zeit,« fiel Tenuga ein, wieder nach der Uhr sehend, »außerdem es ist fast gefährlicher, zu früh, als zu spät zu kommen.«

»– und so mögen wir nur in's alltägliche Leben greifen,« erläuterte der gelehrte Ichthyosaurus in dem Augenblicke, in welchem wir ihm unsere Aufmerksamkeit zuwendeten, »recht in die Mitte des Volkes hinein, um den Beweis dafür zu finden, daß auf ihrer Entwickelungsreise alle Geschöpfe nicht immer gleichen Schritt mit einander hielten. Vergleicht zum Beispiel einen Gewerbetreibenden, welchem Quassia, Stärkezucker und etwas Hopfen und Malz allmählich die Mittel lieferten, sich ein Luxuspferd zu halten, mit einem im Golde wühlenden Handelsmanne, welcher im reiferen Alter mittelst christlichen Taufwassers die bürgerlichen Schwielen von seinen Händen und den plebejischen Faltenwurf von seinem Antlitz wusch, so werdet Ihr bemerken, daß bei Beiden dieselben Erscheinungen zu Tage treten. Jener läßt sich gern, fußend auf seinen kleinen Rang in der Miliz, von seinen Knechten ›Herr Lieutenant‹ nennen und hält sich für berufen, Kinder umzureiten und den Spott seiner Mitbürger herauszufordern; wogegen dieser, mit zum Erstaunen verschärften Sinnen sogar durch silberne Schärpen hindurch die Stammbäume prüft und im dichtesten Gewühl mit verbundenen Augen, nur an den ihn durchschauernden, nervösen mittelalterlichen Zuckungen die Nähe bürgerlicher Elemente erräth. Diese Familie befindet sich noch auf der Entwicklungsstufe der Heuschrecken. Wie die Heuschrecken, nehmen die einzelnen Individuen einen gewaltigen Anlauf, um sich bis über die Wolken hinaus zu schwingen; doch dem Gesetz der Schwerkraft folgend, sinken sie sehr bald wieder kopfüber in irgend eine Pfütze zurück, und wenn sie mit dummem Erstaunen um sich blicken, überzeugen sie sich leicht, daß sie noch einige hunderttausend Jahre zu durchlaufen haben, um sich auch nur mit der, nach eigenem Willen die Flugkraft ausnutzenden Fledermaus vergleichen zu können. Stellen wir daher solche Individuen in die dritte Ordnung: Schrecken, Orthoptera. Manche dieser Schrecken der Gesellschaft umgeben sich gern mit einer Art Hofstaat, welchen sie mit Leichtigkeit den Parasitis, am liebsten den zweifarbigen entnehmen.

»Niedrig, wie die Schrecken stehen mögen, ist doch ein gewisser dumpfer Drang nach Höherem, Vollendeterem nicht zu verkennen. Wesentlich unterscheiden sich von ihnen jene Gesellschaften, welche, zufrieden mit einer gewissen Stufe der Entwickelung, umkehrten und im steten Rückschritt alle Abstufungen bis zu den Sauriern hinab durchzuarbeiten suchen. Unter diesen treten besonders zwei Arten hervor. Erstens solche Individuen, welche selbst ihren Urahnen, den Plesiosaurus, im Auge haben und Alles aufbieten, die Degeneration zu beschleunigen und ihren Nachkommen den Genuß des behaglichen Wälzens im heißen vorweltlichen Schlamme und im Schatten riesenhafter Schachtelhalme und baumartiger Farrnkräuter zu sichern, und zweitens solche, welche von finsteren Kräften heerdenweise demselben Schlammbade zugetrieben werden. Letztere möchten wir mit den Processionsspinnern, Bombyx processionae, auf die gleiche Stufe stellen, also hirnlose, gefräßige Geschöpfe mit dem Berufe, Andere für sich denken zu lassen. Diese Anderen rekrutiren aus der modernen Inquisition, wogegen die zuerst genannte Abart sich schon im zwölften Jahrhundert zur Zeit der ersten Kreuzzüge und des Faustrechts bemerklich machte.

»Um ein klares Bild von dem eben Gesagten zu gewinnen, muß man selbst, und zwar mit Bewußtsein, alle Verwandlungen der verschiedenen Epochen an der eigenen Geisteshülle erfahren haben. Denn die äußeren Zeichen sind nicht immer untrüglich, um nach ihnen die Richtung des Weges, also entweder die Neigung zum Plesiosaurus und dem urweltlichen Schlamm, oder zur edelsten Vollendung des Menschen feststellen zu können.

»So charakterisiren blaue Strümpfe nicht in allen Fällen verschmähte Liebe und einen in kühnem Auftreten für die Emancipation des Weibes sich offenbarenden fürchterlichen Schwur der Rache an der blinden, undankbaren Männerwelt, ebensowenig wie Lumpen durch seine Emballage in edlen Stoff verwandelt werden, oder in jeder widersinnigen Kalesche nothgedrungen ein tölpelhafter Emporkömmling, ein lorgnettensaurer leerer Mohnkopf oder ein zweifelhafter näselnder Schwertfisch alle Viere von sich strecken muß.

»Ich komme zu der Uebergangsstufe der Wespen, Hymenoptera, jener schädlichen Thiere, welche am liebsten reife und gesunde Früchte benagen: Langnamige literarische Gassendirnen; biographische Wanzen, welche im Moder der Verstorbenen ihre übelduftende Nahrung suchen; ältere weibliche Gestalten in günstigen Vermögensverhältnissen, vorzugsweise Wittwen, welche sich vergeblich bemühen, den längst entschwundenen Lebensfrühling durch kränkelnde Frömmigkeit und auswendig gelernte Weisheitsphrasen zu ersetzen, auf diese Weise Bewunderung zu erregen und für ihre kaffeeduftende Häuslichkeit stattlich decorirende Trabanten anzulocken.« –

»Kommen Sie, kommen Sie,« flüsterte Tenuga mir zu, indem er mich von dem Fenster fortzog, »sie hat jetzt einen Punkt berührt, welcher das ausgiebigste Material liefert, und ich bedaure die armen Wärter, die wohl noch einige Stunden mit Betrachtungen über weibliche Heroen überfuttert werden. Merkwürdig; selbst ein Weib, hat dieser Ichthyosaurus doch kein Mitleid mit seinen Schwestern. Ich kenne die Vorträge der Aermsten zur Genüge; bei allen Tollheiten, welche sie zu Tage fördert, würde ich sie, stände es in meiner Macht, schon allein der einzelnen, mit rücksichtlosem Gleichmuthe gepredigten Wahrheiten halber auf einen öffentlichen Lehrstuhl setzen.

»Mein Freund Glasfuß,« wendete er sich an diesen, der sich uns wieder zur Begleitung angeschlossen hatte, »die Gasflammen brennen hell, wir bedürfen daher Eurer unschätzbaren Dienste nicht weiter. Nehmt die Schlüssel und verschließt die Thüre von unseres Schutzheiligen Zelle. Dann sorgt, daß bei meiner Rückkehr ich unbemerkt in den Saal eintreten kann.«

Ehrerbietig verneigte sich der Glasfuß und so leichten Schrittes entfernte er sich, daß seine Füße aus dem sprödesten Glas hätten bestehen können, ohne deshalb zu zerbrechen. Mein Beschützer und ich begaben uns dagegen in's Erdgeschoß hinab, wo wir in ein Gemach eintraten, welches nur dadurch Licht erhielt, daß Tenuga die Thür nach dem hell erleuchteten Flur offen ließ.

Der Lichtschein streifte den mitten im Zimmer stehenden Tisch und zeigte mir die alte, noch immer gefüllte Jagdtasche und den Knotenstock. Daneben lagen die Kleidungsstücke, von welchen ich glaubte, daß sie auf den Kerichthaufen geworfen worden.

»Woher kommt das?« verlieh ich meinem namenlosen Erstaunen Ausdruck, und indem ich meine Hand auf die Tasche legte, durchrieselte es mich wie ein freudiger Schauer.

»Seid eingedenk Eures Versprechens und richtet keine Fragen an mich,« lautete des geheimnißvollen Freundes ruhige Antwort, »nein, fragt nicht, sondern wechselt Euren Anzug; dann steht Eurer Flucht nichts mehr im Wege. Euer anderes Eigenthum Euch wieder zuzustellen, lag nicht im Bereich meiner Macht.«

Er trat in die Thüre zurück, um über meine Sicherheit zu wachen. Ich aber beeilte mich, daß ich schon nach einigen Minuten in demselben Aufzuge, in welchem ich das Emigrantenschiff verlassen hatte, neben Tenuga hinschlich.

»Ich bin bereit,« redete ich ihn an, seine Hand ergreifend und herzlich drückend, »wie aber soll ich vergelten –«

»Still, still, Mr. Indigo,« unterbrach mich Tenuga mit eigenthümlich schwermüthigem Ausdruck, »denn Ihr könnt nicht wissen, ob ich, indem ich Euch unterstützte, nicht mehr an mich selbst und an Andere, als an Euch dachte. Doch die Zeit mag kommen, in welcher ich einen Gegendienst von Euch verlange, und dann werdet Ihr zeigen, ob Ihr den heutigen Tag im Gedächtniß behalten habt.«

»Und Ihr selber, wollt Ihr –«

»Sprecht nicht weiter,« fiel der junge Mann mir wieder in's Wort, indem wir in den nächsten dunkeln Seitengang einbogen, »mich fesselt eine heilige Pflicht an diese traurige Stätte – vielleicht erfahrt Ihr zu seiner Zeit Näheres darüber – doch hier ist die Thür. Seid also eingedenk Eures Versprechens und versucht es, nicht über Alle ein ungünstiges Urtheil zu fällen, welche sich an Eurer Entführung betheiligten. Es giebt Verhältnisse, die stärker sind, als der stärkste Wille.«

»Stella,« flüsterte ich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung.

»Ich widerspreche Euch nicht,« hieß es fast ungeduldig zurück, »und damit möget Ihr Euch begnügen. Dann noch eine Bitte, – nachdem Ihr die Schwelle dieses Hauses überschritten habt, betrachtet jegliche Beziehung zwischen uns als abgebrochen.«

Bevor ich zu antworten vermochte, öffnete sich auf sein leises Zischen dicht vor uns eine Thür, und mich gleichsam neu belebend strömte die frische Nachtluft zu uns herein.

Sanft schob Tenuga mich hinaus.

»Seid eingedenk meiner Bitte,« flüsterte er mir noch zu, dann wendete ich mich rechts.

Gemessenen Schrittes verfolgte ich dicht an den Häusern hin die einmal eingeschlagene Richtung, konnte mich indessen nicht enthalten, ohne meine Bewegung einzustellen oder zu mäßigen, einen flüchtigen Blick rückwärts zu senden. Eine verhüllte Gestalt hatte gleich nach mir das Haus verlassen. Sie schien zu schweben, so leicht berührten ihre Füße den gepflasterten Weg.

»Stella,« sprach ich leise vor mich hin. Es hatte in der That des meinem geheimnißvollen Beschützer gegebenen Wortes bedurft, um nicht umzukehren und mich von der Wahrheit meiner Ahnungen zu überzeugen.

Langsam verfolgte ich meinen Weg. Wie weit die Nacht vorgeschritten, wo ich zunächst ein Unterkommen finden und welcher Art von Menschen ich begegnen würde, es machte mir kaum noch Sorge. Die Last der schweren Tasche, die eigene Kleidung und der Knotenstock in meiner Hand gaben mich gleichsam mir selbst wieder.

Ich befand mich in einer öden, von hoch hinaufragenden Gebäuden begrenzten schmalen Straße. Außer zwei düster brennenden Laternen entdeckte ich nirgend Licht. Am Himmel funkelten die Sterne; von jedem meinte ich, daß durch ihn Stella auf mich niederschaue.

Wie die im Spätsommer jeder leichten Luftströmung nachgebenden weißen Spinngewebe, schlich ich planlos einher. Wo nur immer eine andere Straße mündete, bog ich in dieselbe ein, bald nach rechts, bald nach links und nur geleitet von der dumpfen Absicht, einen möglichst großen Zwischenraum zwischen mich und jene Stätte zu legen, welche so verhängnißvoll für mich hätte werden können.

Eine halbe Stunde war ich in dieser Weise gewandert, als ich hellen Lichtschein bemerkte, welcher durch eine offene Hausthür auf die Straße hinausfiel. Mich nähernd, entdeckte ich, daß Thür wie Lichtschein zu einem kleinen Hause gehörten, welches, eingeklemmt zwischen zwei fünfstöckigen Gebäuden, den Eindruck hervorrief, als ob es, ähnlich der armen Sophie, bei dem allgemeinen Wachsthum seiner Umgebung elendiglich zurückgeblieben und verkümmert sei. Und dennoch drangen aus demselben Häuschen muntere Töne und Stimmen in's Freie hinaus. Ich unterschied die rasselnden Accorde einer Guitarre, die ziemlich geräuschvollen Seufzer einer Ziehharmonika und endlich zu meiner Beruhigung die mehrstimmige sentimentale Betrachtung:

»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin.«

Bescheiden wartete ich, bis das Concert seinen Abschluß erreicht hatte, und auch dann zögerte ich noch, einzutreten, als plötzlich ein Mann in der Thüre erschien und, offenbar im Begriff, sich heimwärts zu wenden, noch ein Weilchen sinnend auf der Schwelle stehen blieb. Indem er bald nach der einen, bald nach der anderen Seite zu den Sternen, wie nach ihnen die Zeit berechnend, empor sah, bot er mir die günstigste Gelegenheit, mich mit seiner äußeren, vom Gaslicht scharf gestreiften Erscheinung vertraut zu machen, welche allerdings nicht sehr Vertrauen erweckend genannt zu werden verdiente. Zu seiner krummen, schlaffen Haltung gesellte sich, daß ihm die Kleider wenig anmuthig auf dem Körper schlotterten und in ihrem Sitz jeder Spur von Ordnungsliebe in einer Weise Hohn sprachen, daß ich selbst in meinem dürftigen Anzuge mir noch als hoch begünstigt erschien. Ein grauer Calabreserhut thronte schief auf dem verhältnißmäßig kleinen, schwarz behaarten Haupte, beeinträchtigte indessen nicht meine Aussicht auf ein Antlitz, welches einen Mephistopheles geziert haben würde. Der Ausdruck desselben wurde vorzugsweise durch eine Cigarre bestimmt, welche, zwischen die Backenzähne geklemmt, die Täuschung erzeugte, als sei sie mitten in die Wange hineingeschraubt gewesen. Die nächsten Folgen hiervon waren ein entsetzlich schiefer Mund und ein ungehöriger Faltenwurf der Gesichtshaut, dann ein unnatürliches Ziehen und Blinzeln der thränenden Augen, die gewissermaßen als Rauchfang dienten, und endlich eine so wunderliche Stellung der verschiedenen struppigen Haarbüschel, daß man bei einem oberflächlichen Hinblick leicht in Zweifel gerieth, welcher von ihnen die eine oder die andere üppige Braue, welcher die eine oder die andere dürftige Schnurrbarthälfte oder der in ein Erpelschweifchen gewöhnte nicht minder dürftige Kinnbart.

Wohl eine Minute hatte ich meine Stellung seitwärts von diesem wunderlichen Menschengebilde behauptet, als es seine Blicke von den Sternen auf mich senkte und für angemessen fand, mich zu bemerken. Ich stand im Schatten; mein Aeußeres blieb ihm also zum größten Theil verborgen.

Um so deutlicher beobachtete ich dafür, wie bei meinem Anblick die unglückselige Cigarre zwischen den fest auf einander gesetzten Backenzähnen sich verzweiflungsvoll wand und die in eine Wolke des ätzenden Dampfes gleichsam ertränkten Augen förmlich aus ihren Höhlen rannen.

»Wen haben wir hier noch so spät?« redete er mich an, und obwohl seine Stimme dem Blasen einer gereizten Katze nicht unähnlich, offenbarte sich in derselben doch eine so eigenthümliche Gutmüthigkeit, daß ich auf die wenig ceremonielle Frage um die Welt keine unfreundliche Antwort hätte ertheilen mögen.

»Ein armer Teufel von Emigranten,« erklärte ich daher so heiter wie möglich, und ich erstaunte über mich selbst, plötzlich in so hohem Grade meine ursprüngliche Schüchternheit verloren und dafür ein gewisses trotziges Selbstbewußtsein gewonnen zu haben, »ja, und ein recht armer Teufel obenein,« wiederholte ich, »der nicht genau weiß, wo er sein Haupt niederlegen soll.«

»Noch nicht lange im Lande?« hieß es weiter, und indem ich meine Blicke an der wunderlichen Gestalt niedergleiten ließ, hätte ich lächeln mögen über die Art, in welcher die emporgezogenen Beinkleider oben an den mit langen Ziehschleifen geschmückten Stiefelschäften hängen geblieben waren.

»Erst seit einigen Wochen,« antwortete ich vorsichtig. »Vollständig fremd, wußte ich mir nicht anders zu helfen, als in Kosthäusern meine letzten Pfennige zu verzehren, worauf ich, um keine Schulden zu machen, meinem guten Glück vertrauend, mich auf den Weg begab.«

»Also kein Geld und kein Nachtquartier?«

»Keins von Beiden.«

»Aber gute Lust zur Arbeit?«

»Mehr denn je in meinem Leben; wenn sich nur die Gelegenheit dazu bieten wollte.«

» Plenty to do in diesem Lande,« versetzte das seltsame Menschengebilde im Protectortone, »allein in einem solchen Aufzuge dürfte Ihnen schwer werden, Beschäftigung zu finden.«

»Ich wußte nicht, wie ich ohne Beschäftigung zu angemesseneren Kleidungsstücken kommen sollte,« erwiderte ich mit erzwungenem Gleichmuthe.

»Arbeit finden Sie wohl,« gab die lebendige Cigarrenspitze darauf zu, und wie um zu beweisen, daß sie die gesprochenen Worte auswendig wisse, schloß sie die blinzelnden, von schwerem Tabaksnebel verschleierten Augen, »o, gewiß, plenty Arbeit, allein ich meine nicht solche, für welche Sie, nach Ihrer Redeweise zu schließen, getrained zu sein scheinen. Doch davon später. Sind Sie hungrig und durstig?«

»Nein,« antwortete ich kurz, um zu vermeiden, bei der eigenen Mittellosigkeit die Gastfreundschaft eines Fremden in Anspruch nehmen zu müssen.

In diesem Augenblick drängten sich mehrere bärtige Männer verschiedenen Alters aus dem Hintergrunde in die offene Thür. Alle schienen der Flasche tapfer zugesprochen zu haben, denn anstatt sich mir, dem Fremdlinge, zuzuwenden, überschütteten sie ihren Genossen mit einer wahren Fluth von lustigen, harmlos spöttelnden Bemerkungen.

»Wem das Glück hold ist,« rief Einer aus ihrer Mitte, »dem streut es selbst zur nächtlichen Stunde seine Gaben in den Schooß. Der Onkel braucht nur aus der Thüre zu treten, um auf der Leimruthe seines biederen Antlitzes einen Vogel zu fangen, wie er sich keinen besseren hätte wünschen können.«

»Und er ist nach meinem Geschmack,« kehrte der sogenannte Onkel sein Mephistophelesgesicht grimmig den lustigen Freunden zu, »und wenn ich diesem armen Teufel binnen jetzt und vierundzwanzig Stunden nicht 'ne Brodstelle verschafft habe, will ich zum letztenmal mit dem Boden meines Glases in schlechtem Bier einen Ring auf Euren Schanktisch gezeichnet haben!« Dann sich mir zukehrend, ergriff er meinen Arm, worauf er mich in derselben Richtung, aus welcher ich gekommen war, mit sich fortzog.

»Gute Nacht, Onkel!« jauchzte und lachte es hinter uns her; »glückliche Reise, alter Gouverneur!« »Vergeßt's Wiederkommen nicht, Becherfreund!«

»Laßt sie schreien, bis ihre Kehlen so heiser sind, wie 'ne verrostete Wetterfahne,« knurrte mein Begleiter, »ehrliche Burschen bleiben sie dennoch, und nicht Einer ist unter ihnen, der bei der Nachricht von meinem Tode nicht ein Trauerflörchen in sein Knopfloch befestigte.«

»Bis wohin wünschen Sie meine Gesellschaft?« fragte ich als Antwort zurück, und dabei fühlte ich mich so sicher an des wunderlichen Kauzes Seite, wie noch nie, seitdem ich gewaltsam dem Schutze des Hänge-Gensdarm und der Winkelliese entrissen wurde.

»Bis in meinen Bau,« entschied die wandernde Cigarrenspitze, und an der halb erstickten Stimme erkannte ich, daß die armen mißhandelten Augen wieder einen schweren Kampf gegen ätzende Rauchwolken bestanden.

»Ich befinde mich zwar nicht in der Lage, Herr Becherfreund, Ihre großmüthig angebotene Gastfreundschaft ablehnen zu dürfen, allein es wäre mir peinlich, durch meine Anwesenheit Ihren Raum zu beschränken,« erwiderte ich mit wachsendem Vertrauen.

Mein Begleiter lachte im Tone und mit dem Ausdruck eines ›gut Wetter‹ verkündenden Laubfrosches, dann bemerkte er sorglos:

» Plenty Platz zwischen meinen vier Pfählen, und wer mit 'ner Jagdtasche auf der Schulter in der Welt umherstreift, der schläft auf nackter Erde sanfter, als ein Nabob auf seinen Daunenkissen. Uebrigens ist Becherfreund nicht mein Name, ebensowenig wie Onkel oder Gouverneur. Ich nehm's aber mit in den Kauf, weil's gut gemeint ist. Ferdinand Bechler wurde ich getauft, und Ihr Name?«

»Baldrian Indigo.«

»Indigo? Hm. Paßt nicht für die hiesigen Verhältnisse; erinnert zu sehr an Indianer und muß daher abgeändert werden. Doch davon später. Aeußeres und Namen thun sehr viel hier zu Lande. 's giebt freilich plenty Pechvögel – wie ich von mir behaupten kann – die trotz zehnfacher Namensänderung auf keinen grünen Zweig kommen, allein ich habe mich bereits daran gewöhnt, mich als einen Ausnahmefall zu betrachten, zumal es mir leichter wird, Anderen zu rathen, als mir selber.«

»Dann wüßten auch Sie von traurigen Erfahrungen zu erzählen?« fragte ich theilnehmend, denn die mit einer gewissen gutmüthigen Selbstverspottung gegebenen Erklärungen erinnerten mich an die Winkelliese, als sie einst aus eigener Machtvollkommenheit einen Namen für mich erfand.

»Traurige Erfahrungen?« entgegnete Bechler sorglos, »daß ich nicht wüßte. Plenty Täuschungen erfuhr ich wohl in den achtzehn Jahren meiner Anwesenheit in diesem gesegneten Lande ewiger Freiheit; allein, daß ich mich deshalb schlechter befunden hätte, könnte ich nicht behaupten. Doch urtheilen Sie selber. Mit zweiundzwanzig Jahren übernahm ich das kaufmännische Geschäft meines verstorbenen Vaters, und zwei Jahre lang führte ich dasselbe mit einem so seltenen Erfolg, daß die ursprünglichen achtzigtausend Thaler bis auf zehntausend zusammengeschmolzen waren und ich, um nicht auch noch diesen Rest zu verlieren, mich veranlaßt sah, denselben sicher anzulegen und mein Heil auf dieser Seite des Oceans zu versuchen. Die kleine Rente von vierhundert Dollars reichte bisher aus, meine bescheidenen Anforderungen an's Leben zu befriedigen, allein etwas mehr hätte nicht geschadet. Ich versuchte es daher mit allen möglichen Gewerben, mit Zeitungsverkauf, Zettelankleben und Anstreichen; mit Kellner, Kutscher und Handlungsgehülfe; mit Brauer, Farmer und Pferdeknecht; mit Lehrer, Auktionator und Conditor; entdeckte aber jedesmal schon nach den ersten vierundzwanzig Stunden, daß die Leute mich nicht zu nehmen wußten und die mir innewohnenden Talente ruhig weiter schlummern ließen. Da nun das friedliche Verzehren meiner Rente nicht meine ganze Zeit ausfüllte, so beschloß ich, zu dem Gewerbe eines Philanthropen zu greifen, und das ist mir bis auf den heutigen Tag nie leid geworden.«

»Eines Philanthropen?« fragte ich ergötzt und zugleich ein freundliches Geschick segnend, welches mich mit dem wunderlichen Kauz zusammengeführt hatte.

»Eines Philanthropen,« bestätigte Bechler. Dann blieb er stehen, und nachdem er mit vieler Mühe eine neue Cigarre an dem noch glimmenden Restchen angezündet und kunstgerecht in seine Wange geschraubt hatte, nahm er meinen Arm und zugleich seine Mittheilungen wieder auf: »und ein recht unterhaltendes Gewerbe obenein. Ich suche nämlich unglückselige und rathlose Einwanderer, und wenn ich ihnen, zum Hohne aller schurkischen Emigrantenplünderer, den richtigen Weg zwischen den Klippen des hiesigen Sodom hindurch gezeigt habe, ist mir verteufelt viel wonniglicher um's Herz, als hätte ich durch eine gewagte Spekulation ein rundes Sümmchen gewonnen. So verstreicht meine Zeit im Ganzen recht behaglich: Niemand hat mir zu befehlen, ich esse, wann es mir gefällt, trinke, wenn ich Durst habe – und an Durst fehlt es mir im Allgemeinen Gott sei Dank nie – und nebenbei darf ich die Ueberzeugung hegen, daß bei der Nachricht von meinem Tode sich plenty Knopflöcher mit Florschleifen schmücken.«

»So gehöre ich zu den Glücklichen, welche auf Ihren freundlichen Rath zählen dürfen?« fragte ich, unwillkürlich den Arm des professionirten Philanthropen fester an mich drückend.

»Zuverlässig,« tönte es dumpf, wie aus der erstickenden Atmosphäre einer Räucherkammer zurück, »Sie haben sich auf der Leimruthe meines biederen Antlitzes gefangen, wie die alten Kneipgenossen sehr geistreich bemerkten, und wenn Sie nicht glauben, anderweitig besser –«

»Da sei Gott vor,« fiel ich überzeugend ein, »denn die Erfahrungen während meines kurzen Aufenthaltes in dieser Stadt sind am wenigsten der Art, daß ich einen wahrhaft freundschaftlichen Rath nicht von ganzem Herzen willkommen heißen sollte. Doch welchen Schritt würden Sie mir zuerst empfehlen? Ich schicke voraus, daß ich gern und willig mich in Ihre Anordnungen füge.«

»Der nächste Schritt wäre: Keine Ueberstürzung, denn wir haben plenty Zeit.«

»Ich gebe zu bedenken, daß ich mittellos bin.«

»Macht keinen Unterschied, Sir. Plenty Credit überall, und jede beliebige Stellung können wir nicht gebrauchen. Der zweite Schritt ist, wie ich bereits andeutete, Ihr deutsches Michelcostüm mit einem empfehlenderen Anzuge zu vertauschen, und dafür weiß ich eine Quelle, an welcher wir nicht übertheuert werden, und zwar auf Grund: weil die Sachen nicht mehr ganz neu sind, und dann, weil ich mich nie übertheuern lasse. Das wird also morgen, oder vielmehr heute, - Mitternacht gehört zu den verflossenen Dingen – unser erster Gang sein. Ich kenne einen Irländer – O'Cullen heißt er – fallen Sie nicht – wir befinden uns hier in der Vorstadt, wo das Straßenpflaster viel zu wünschen übrig läßt,« schaltete Bechler gleichmüthig ein, als ich bei Nennung des Namens erschrocken zur Seite wich; dann fuhr er fort, nicht ahnend, daß Erstaunen und Spannung mich für die nächsten Minuten sprachlos gemacht hatten: »O'Cullen, ein so geriebener, orthodoxer Kehlabschneider, wie nur je einer in Lumpen seine heimatliche grüne Insel verließ. Doch auch solche Menschen muß es geben, und wer einfältig genug ist, sich betrügen zu lassen, hat sich selbst die Schuld beizumessen. Ich für meine Person werde gut mit ihm fertig, und das Uebrige kümmert mich nicht.«

»Handelt dieser O'Cullen nur mit Kleidern?« fand ich endlich Fassung, vorsichtig zu fragen.

Bechler lachte in seiner eigenthümlichen, gut Wetter verkündenden Weise.

»Nur mit Kleidern?« rief er aus. »O, da ist kaum ein Gegenstand in der Welt, mit welchem er nicht handelt, und wenn er's nicht zur Hand hat, schafft er's herbei, und müßte er es vom Nordpol herunter holen, gleichviel ob einen Kronleuchter, ein Rennpferd oder eine Mäusefalle. Soll sich nebenbei noch zu anderen, und zwar nicht sehr sauberen Dingen benutzen lassen; dafür bürge ich indessen nicht, weil derartige Geschäfte mir fremd sind, ich also durch solche auch nicht mit ihm zusammengeführt werden konnte.«

Indem ich, meine heftige Erregung niederkämpfend, die Blicke an den, vor dem reich gestirnten Himmel scharf abhebenden Dachgesimsen hinschweifen ließ, meinte ich einzelne Formen wieder zu erkennen.

»Täusche ich mich nicht, so führte mein Weg mich vor Kurzem durch diesen Stadttheil,« bemerkte ich, um im Schweigen nicht meine Gemüthsstimmung zu verrathen.

»Meist Waarenschuppen und Lagerräume,« versetzte Bechler sorglos; »dort rechts beginnen Gärten und Landsitze, auch das Irrenhaus liegt am Ende dieser Straße – Sie werden es gleich sehen. Plenty Verrückte darinnen, allein more plenty laufen frei auf der Straße herum.«

Hastige, laut dröhnende Schritte kamen uns entgegen. Die Nähe des Irrenhauses machte mir das Herz schneller klopfen; es durchzuckte mich der Gedanke, daß mein wunderlicher Begleiter vielleicht die geheime Absicht hege, mich an den verhängnißvollen Ort zurückzuschaffen. Der späte, eilige Wanderer befand sich dicht vor uns. Achtlos wollten wir ausbiegen, als er, wie von einer unsichtbaren Waffe getroffen, einen Schritt zurückprallte, dann aber mit einem halblauten Fluch des Erstaunens und ohne ein weiteres Erkennungszeichen dicht an mir vorüberstreifte.

»Da haben Sie den Beweis,« erklärte Bechler ahnungslos, »auf den Straßen laufen mehr Verrücke umher, als dort drüben in der Anstalt Aufnahme finden. Wie käme sonst dieser unverschämte Neger dazu, friedliche weiße Spaziergänger anzurennen? Sie erhielten einen tüchtigen Stoß?«

»Er war nicht erheblich,« antwortete ich, gegen ein wahres Entsetzen ankämpfend, obwohl der Fremde mich kaum berührt hatte; denn seine auffallende Bewegung raubte mir die letzten Zweifel, daß es kein Anderer, als Pumpkin, der verhaßte Mestize gewesen. Diesem dagegen war das Erkennen dadurch erleichtert worden, daß er mich in demselben Aufzuge vor sich sah, in welchem ich ihm wahrscheinlich unvergeßlich geworden.

»Dort liegt die Anstalt,« nahm Bechler nach einer kurzen Pause wieder das Wort. »Hei, wie die Lichter von Fenster zu Fenster fliegen! Ein mit dem Charakter des Gebäudes nicht Vertrauter könnte denken, es würde daselbst ein Ballfest gefeiert. Welch' Gegensatz! Wahrhaftig, da drüben scheint der Teufel los zu sein.«

Das Herz bebte mir. Ich begriff, daß meine Flucht entdeckt worden war und man alle Räume nach mir durchforschte. Nichts fürchtete ich mehr, als von meinem wunderlichen Begleiter an der Anstalt vorbeigeführt zu werden, und doch wagte ich nicht, ihn zu bitten, einen Umweg einzuschlagen.

Meinen Wünschen kam er indessen zuvor. Nachdem, wir mehrere Male im rechten Winkel abgebogen waren, gelangten wir endlich ganz aus der Stadt hinaus, oder vielmehr in den äußersten Stadttheil, wo nur noch kleinere Häuser mit Gärten und öden Baustellen abwechselten.

»Ein weiter Weg von Ihren Freunden bis hier heraus,« bemerkte ich, als Bechler in seinen Mittheilungen eine kurze Pause eintreten ließ.

»Ich liebe die Einsamkeit und auch wieder Veränderung,« entgegnete der alte Sonderling, »außerdem bieten sich mir durch die Entfernung zwei große Vortheile. Zuerst bin ich gezwungen, mir täglich plenty gesunde körperliche Bewegung zu verschaffen, dann aber verursacht die Miethe mir keine Sorge.

»Doch hier sind wir,« schloß er, von der Straße nach einem kahlen Felde hinaufbiegend, »noch fünfzig Schritte, und ich heiße Sie in meinen vier Wänden willkommen.«

»Sie besitzen ein eigenes Haus?« fragte ich, indem ich in der nächsten Nachbarschaft vergeblich nach einem Gebäude spähte.

»Ein eigenes Haus, aber keinen eigenen Grund und Boden,« hieß es halb lachend, halb weinend zurück, und ich meinte die Thränen rinnen zu hören, welche der Dampf der wie ein drittes Feuerauge auf der eingezogenen Wange glühenden Cigarre den beiden andern entlockte; und auch das hat sein Gutes, denn Miethe wie Grundsteuern kenne ich nur dem Namen nach. Auf der einen Stätte bleibe ich so lange wohnen, bis herangefahrenes Baumaterial mich vertreibt; dann kostet's eine ganz kleine Anstrengung zweier Pferde und einiger Rollhölzer, und auf Monate, oft auf Jahre hinaus bin ich wieder gesichert.«

Er blieb stehen und klirrte mit den Schlüsseln in der Tasche. Dicht vor uns lag es wohl, wie ein kaum sechs Fuß hohes Stück Mauerwerk oder eine Jahrmarkts-Menagerie, allein erst nachdem Bechler auf dem Giebel der seltsamen Baulichkeit eine schmale Thür geöffnet und während des Eintretens ein Streichholz auf seinem Rockärmel entzündet hatte, entdeckte ich zu meinem Erstaunen, daß des wunderlichen Menschengebildes ebenso wunderliche Häuslichkeit aus einem abgelegten Eisenbahnwagen bestand.

Gleich darauf beleuchtete eine von der Decke niederhängende Lampe ein langes schmales Gemach, welches mittelst eines kattunenen Vorhanges in zwei Hälften getheilt werden konnte. Trotz der Erschöpfung, welche auf die ununterbrochene heftige Erregung folgte, konnte ich nicht umhin, bevor ich mich auf eine für mich ausgebreitete Decke zur Ruhe begab, einen prüfenden Blick in alle Winkel zu werfen.

Die landesüblichen Eisenbahnsitze mit den beweglichen Lehnen waren entfernt worden, dafür standen oder lagen mehrere Schemel und eine hölzerne Bank da, wohin sie vielleicht am frühen Morgen durch einen Fußtritt des Besitzers geschleudert worden waren. Ein altes Sopha, bedeckt mit mehreren wollenen Decken und zottigen Bisonhäuten, erfüllte ebensowohl seinen ursprünglichen Zweck, wie den eines Federbettes. Was aber sonst noch in dem länglich viereckigen Raume seine Stätte gefunden hatte, das aufzuzählen hätte es die Arbeit von Stunden bedurft. Bücher, Zeitungen, Flaschen und Gläser, bildeten die Hauptbestandtheile dieses unentwirrbaren Chaos. Abgetragene Kleidungsstücke, Cigarrenreste, Hüte und Mützen in den verschiedensten Formen spreitzten sich behaglich an den Wänden und auf den schmalen Fensterleisten. Ein kleiner eiserner Kochofen, für den Sommer außer Dienst gestellt, war zum Waschtisch degradirt worden, der eigentliche Waschtisch dagegen, eine umgestürzte Kiste, nach den auf derselben noch sichtbaren Speiseresten zu schließen, zum Range eines Eßtisches erhoben worden. Als Zimmerschmuck konnten gelten ein ausgestopfter Haifisch, der inmitten einiger schadhaften baumwollenen Regenschirme und Knotenstöcke nichts weniger als beutegierig in einer Ecke lehnte; ein dicht beranktes Epheugitter, welches vor Jahren vielleicht einmal grün gewesen, und endlich vier ziemlich morsche Menschenschädel, von welchen Bechler wohlgefällig behauptete, daß sie einst mit dem Gehirn sehr berühmter indianischer Häuptlinge angefüllt gewesen. Zwei derselben standen auf einer Art Console und stierten recht unwirsch nach ihres zeitigen Besitzers Lagerstätte hinüber. Beide trugen, statt des früheren Federschmucks, zerknitterte abgelegte Strohhüte, welche obenein unmäßig schief gerückt waren, und um das Seltsame ihres Ausdrucks zu erhöhen, steckte in der Nasenhöhle des einen die Zahnbürste des alten Sonderlings, während er zwischen die Kiefern des andern, da, wo eine breite Zahnlücke es erleichterte, seinen Kamm geschoben hatte. Der dritte war durch eine sinnige Vorrichtung in einen Leuchter verwandelt worden, wogegen der vierte sich frei auf der Erde herumtrieb und nach seinem verloren gegangenen Unterkiefer suchte.

Wenig ansprechend, wie diese, meine Umgebung sein mochte, zum ersten Mal seit meiner Anwesenheit auf dem amerikanischen Continente streckte ich mich mit einem Gefühl der Sicherheit zum Schlafe nieder. Die als brennende Talgkerze emporragende Skalplocke des berühmten Häuptlings erlosch; ein Weilchen noch betrachtete ich das glühende Feuerauge auf der Wange der rastlos plaudernden und eingelullt durch ihren Sonnenschein verheißenden Laubfroschgesang, verfiel ich in einen tiefen, selbst für Träume unzugänglichen Schlaf.


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