Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Seit länger, als einer Stunde, brannten in der Leihbibliothek die beiden leise zischenden Gaslampen, als ich eintrat, um mir ein Licht anzuzünden und mich auf einem Umwege nach dem mir als Arbeitszimmer dienenden Hintergemach zu begeben. Für Kunden war es schon zu spät. Nur meine Heimkehr erwartend, hatte man mit dem Schließen des Geschäftes noch gezögert. Mein erster Blick fiel auf Splint. Ein schwarzes Pflaster schmückte seine Stirn; auf seinem Gesicht aber ruhte ein so teuflischer Hohn, daß jeder Andere, als ich, dadurch hätte eingeschüchtert werden müssen. Mich ließ er gleichgültig. Die Erfahrungen der letzten Stunden hatten mich gestählt. Angesichts der nichts Gutes verkündenden sommersprossigen Züge fühlte ich sogar meine Entschlossenheit wachsen.
Mein nächster Blick galt Nickel. Sein linkes Auge war zugeschwollen und mit einem breiten, blauschwarzen Hof umgeben. Hätten ihm aber statt des einen offenen Auges deren ein Dutzend zu Gebote gestanden, sie hätten zusammengenommen nicht mehr Bosheit und Schadenfreude ausstrahlen können, als jenes einzige.
Die sichtbaren Folgen meines Angriffs erfüllten mich weder mit Bedauern noch mit Freude. Außerdem wäre ich zu stolz gewesen, eine dieser Empfindungen zu verrathen.
Anstatt eine Antwort auf meinen ernsten Gruß zu erhalten, mußte ich hören, wie Splint dem Burschen befahl, schleunigst die Hausthür zu schließen, um den Mörder nicht wieder entspringen zu lassen.
Wie von einer unsichtbaren Waffe getroffen, blieb ich stehen, doch mich eines Besseren besinnend zuckte ich nur die Achseln, worauf ich nach meinem Leuchter griff.
»Indigo, der Herr Principal erwartet Sie in seinem Comptoir,« bemerkte Splint, das ›Sie‹ schärfer betonend, und um mir seine Verachtung zu beweisen, blätterte er während des Sprechens nachlässig in dem Contobuch.
»Herr Indigo,« schnarrte Nickel nicht minder spöttisch und die Arme herausfordernd über der Brust kreuzend, »die Schulbücher, welche Du verstreutest, als Du mit dem Bauernweibe davon gingst, habe ich aufgesammelt und auf Deinen geehrten Tisch gelegt.«
Ihn würdigte ich nicht einmal eines Achselzuckens. Ich fühlte, daß er darauf ausging, mich zu einem neuen Angriff zu reizen, um demnächst gemeinschaftlich mit Splint und unterstützt von dem Antiquar über mich herzufallen.
Festen Schrittes, wie ich gekommen war, trat ich in das Comptoir ein. Hinter mir ertönte ein zweifaches höhnisches Lachen, es bestärkte mich nur in dem Entschluß, mich durch nichts aus meiner mühsam errungenen Fassung zu unüberlegten Handlungen fortreißen zu lassen.
Nachdem ich die Thür zugedrückt hatte, blieb ich schweigend stehen. Ich erwartete eine leidenschaftliche Anrede, einen geräuschvollen Empfang. Es befremdete mich daher, daß Sachs mich gar nicht beachtete, sondern geschäftig ein neues Blatt seines Correcturbogens umschlug. Auf seinem Fuchsgesicht wechselte dagegen mehrfach die Farbe. Ihn entzückte offenbar das Bewußtsein, mich wieder in seiner Gewalt zu haben; durch die erheuchelte Ruhe aber bezweckte er, mich einzuschüchtern, gewissermaßen auf einen furchtbaren Richterspruch vorzubereiten, mich wohl gar als reuigen Sünder vor seine Füße auf die Kniee zu jagen.
»Guten Abend, Herr Doctor,« unterbrach ich endlich die unheimliche Stille in der dumpfen Absicht, ein baldiges Ende der bevorstehenden Scene herbeizuführen.
»Guten Abend,« tönte es gleichmüthig, fast zärtlich zurück. Eine neue Seite des Correcturbogens wurde zurecht geschoben, doch wenige Zeilen hatte Sachs erst gelesen, als er die Feder bedächtig auswischte und zur Seite legte.
»Sehr lange habe ich auf Dich gewartet,« hob er an, mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen vor mich hintretend.
»Mit der Pflegerin meiner Kindheit verbrachte ich den heutigen Nachmittag,« antwortete ich fest, die Blicke auf die großen Brillengläser gerichtet, hinter welchen die lauernden Augen vor verhaltenem Grimm funkelten, »ich übte die Pflicht der Dankbarkeit, und dafür bin ich Niemand Rechenschaft schuldig.«
»Nein, nein, Indigo,« hieß es ironisch zurück, »Niemand, auch mir nicht, auch Deinen Lehrern nicht, am wenigsten aber Deinen großmüthigen, unbekannten Beschützern, die jedenfalls ihre triftigen Gründe haben, den Verkehr mit Deinen früheren Bekanntschaften nicht fortbestehen zu lassen.«
»Auf deren Anstiften also auch die zwischen meinen Wohlthätern und mir gewechselten Briefe unterschlagen wurden?« fragte ich in dem guten Glauben, den Antiquar vor der schweren Anklage erbleichen zu sehen.
Doch er erschrak nicht. Nur das höhnische Lächeln wurde etwas bezeichnender.
»Ei, ei,« meinte er freundlich, »Du maßest Dir ein Urtheil über die bei Dir zur Anwendung gebrachte Erziehungsweise an? Indessen Du hast recht; die Briefe wurden in der That zurückbehalten. Man beobachtete leider diese zarten Rücksichten, anstatt Dir und Deinen früheren Bekanntschaften einfach zu eröffnen: Eure Beziehungen zu einander sind für immer aufgelöst. Doch dazu ist es heute noch nicht zu spät, und Deine unbekannten edlen Beschützer mögen selbst ihre Bestimmungen darüber treffen. Zur jetzigen Stunde handelt es sich vorzugsweise darum, einen angehenden Mörder, welcher mein Dienstpersonal auf unerhörte Art, sogar lebensgefährlich mißhandelte, für die begangenen Verbrechen verantwortlich zu machen. Ueber das Versäumen der Unterrichtsstunden mit Dir zu rechten ist nicht meine Aufgabe, sondern die Deiner Lehrer. Oder leugnest Du etwa, dem Niklas beinah ein Auge ausgeschlagen und den Herrn Splint durch einen furchtbaren Wurf mit einem schweren Gegenstande betäubt zu haben? Des Besudelns meiner Scripturen und Bücher will ich vorläufig nicht gedenken.«
»Nein, nichts leugne ich,« antwortete ich mit ruhiger Fassung, »noch weniger bereue ich Handlungen, welche in meiner Lage ohne Zweifel gerechtfertigt waren. Der Niklas erlaubte sich, eine achtbare alte Frau zu verhöhnen, und dafür bestrafte ich ihn; Herr Splint aber legte Hand an mich, und das durfte ich nicht dulden, wollte ich mich einer erniedrigenden Behandlung, wie er sie mir zudachte, nicht würdig zeigen.«
»Also verstockt obenein,« versetzte Sachs erstaunt, »Indigo, Indigo, in Dir überwiegt das böse Element alle besseren Regungen, oder Du hättest bei Deinem jahrelangen Verweilen im Kreise einer christlich-frommen Familie alle besseren Regungen, oder Du hättest bei Deinem jahrelangen Verweilen im Kreise einer christlich-frommen Familie ein anderer Mensch werden müssen. An guten Lehren und guten Vorbildern hat es Dir wenigstens nicht gefehlt. Doch ich will nicht verzagen, will mich richten nach dem Beispiel unseres Herrn Christus, wenn er von dem guten Gärtner spricht. Ich betrachte Dich als eine Weinrebe, deren Mark vom Krebs angefressen wurde –« hier leuchteten des Antiquars Augen vor versteckter Freude hinter den schützenden Brillengläsern, »und mag die Operation, welcher ich Dich unterwerfe, noch so schmerzhaft sein, ich will meine schwachen Kräfte dem guten Werke weihen, will die angefressenen Theile von den noch rettungsfähigen Reben trennen und sie in's Feuer werfen, daß sie zu Asche verbrennen. Ja, Indigo, der Du erfüllt bist von allen sieben Todsünden, so will ich an Dir handeln, unbekümmert um den Undank, welcher mein Lohn sein wird – ha, mein Lohn ist nicht von dieser Welt – und die gebenedeite Jungfrau wird für mich und für Dich Fürbitte einlegen, daß ich nicht müde werde, nicht menschliches Mitleid den Sieg über die von dem Allmächtigen gebotene Strenge davon trage.«
Wie Eis durchrieselte es meine Adern bei den Worten, welche unter dem Deckmantel überspannter Frömmigkeit, eine Welt des Hasses und kalter Grausamkeit in sich bargen. Gleich darauf athmete ich wieder freier auf; ich sagte mir, daß durch Nachgiebigkeit ich meine Lage weit eher verschlimmere, als durch unerschrockenes männliches Auftreten. Die Unterwürfigkeit, in welcher ich erzogen worden, schwand wie durch Zauber, aus meinem Wesen. Nicht mehr ein Knabe war es, der seinem Peiniger zitternd gegenüberstand, sondern ein Mann, bereit, durch eine letzte Anstrengung die gelockerten Fesseln vollständig zu zertrümmern.
»Christus nennen Sie Ihr Vorbild,« erwiderte ich auf die in Gift getauchte heuchlerische Ansprache, mich der Worte des alten Gelehrten entsinnend, die, jeglicher näheren Erklärung baar, nur dunkle Anschauungen erzeugen konnten, »gehen Sie etwa davon aus, daß Christus als Mensch nicht auch menschlichen Irrthümern unterworfen war?«
Einige Secunden stand Sachs da, als hätte meine Erwiderung die Zauberkraft eines Medusenhauptes besessen. Dann strecke er seine Arme nach mir aus, wie um mich zu ergreifen.
»Unglückseliger! Wer gestattete Dir die freie Benutzung der Bibel?« rief er, vor Entsetzen kaum noch der Sprache mächtig, »man wird sagen, Du habest sie in meiner Bibliothek gefunden!« und seine Hände gen Himmel erhebend, fügte er mit tiefer Zerknirschung hinzu: »Allmächtiger, gehe nicht zu schwer mit ihm in's Gericht, denn er weiß nicht, was er thut! Mir aber verleihe die Kraft, den Weg anzubahnen, auf welchem dieser Aussätzige von Deinen wahren Hirten zu Deiner Heerde zurückgeführt werde! Indigo!« wendete er sich wieder an mich, meine Hand ergreifend und drückend, als hätte er sie aus dem Gelenk drehen wollen, »Indigo, ich für meine Person verzeihe Dir; ich verzeihe Dir von ganzem Herzen. Ich verzeihe Dir als Mann, ich verzeihe Dir als schwacher sündiger Mensch und Christ; ich verzeihe Dir endlich als tief gekränkter Familienvater, um demnächst, frei von sündlicher Milde, mit um so sichereren Schnitten die angefaulten Zweige von dem Rebstock zu trennen, welchen ich dem Weingarten des Herrn erhalten möchte.«
Schnell, wie von seinen Empfindungen übermannt, kehrte er sich ab, mich zugleich auffordernd, ihm zu folgen.
Bald darauf traten wir in das Zimmer ein, in welchem die Mitglieder der christlich-frommen Familie um diese Zeit versammelt zu sein pflegten. Eine grünspanige Messinglampe mit gesprungener Glocke von Milchglas erleuchtete nothdürftig den mäßig umfangreichen Raum. Alle waren anwesend und wendeten bei meinem Erscheinen mit unzweideutigen äußeren Zeichen des Abscheus ihre Blicke von mir. Nur Sophie neigte sich tief über ihre Handarbeit. Sie besaß nicht den Muth, mich anzusehen.
»Ich bringe einen reuigen Sünder, welcher demüthig der über ihn verhängten Strafe entgegensieht,« hob der Antiquar weihevoll an, und wie auf einen Schlag kehrten sich mir drei paar Augen mit einem sprechenden Ausdruck von Schadenfreude zu. Um das Gefühl der Scham in ihm zu erwecken, möchte ich ihn zunächst ein Weilchen hier am Pranger stehen lassen.«
»Verschone mich mit seiner Gegenwart!« kreischte die Mutter, indem sie sich würdevoll aufrichtete und ihre Schulterblätter nach hinten zusammenklemmte.
»Fort aus meinen Augen!« jammerte Henriette, deren Herz ich mittelst des Dintenfasses augenscheinlich weit unheilbarer verwundet hatte, als die sommersprossige Stirn ihres leider noch immer unerklärten Liebhabers.
»Mag er bleiben und sich an dem Anblick der Verachtung weiden,« bemerkte Melusine, deren Schadenfreude unstreitig mehr der tiefgekränkten Schwester, als meiner verzweifelten Lage galt.
»Er soll bleiben,« entschied nunmehr der Antiquar, indem er die rechte Hand, wie sie segnend und beschützend, seiner Hausehre entgegenstreckte, »er soll bleiben zu seinem Heil, und dankbar will ich es anerkennen, wenn Eure sittliche Entrüstung, offenbart in Miene und Wort, seiner Unverbesserlichkeit den inneren Halt entzieht. O, meine Theuren,« und seine Stimme sank bis zum hohlen Grabeston herab, »Ihr ahnt nicht, wie tief dieser Gottesleugner schon gefallen ist. Ich bin zu erschüttert zu einer näheren Erklärung. Ich muß hinab, um mich zu sammeln; bewacht ihn daher so lange, aber verschließt Eure Ohren seinen flehenden Schmeichelworten, denn aus ihm kann nur der Böse« – hier bekreuzigte er sich – »sprechen. Binnen Kurzem kehre ich zurück, um Euch, meine Lieben, von der Gegenwart des Undankbaren zu befreien und mit christlicher Strenge das Strafverfahren gegen ihn einzuleiten.«
Dann kehrte er sich ab, und bald darauf verhallten seine Schritte unten auf der Treppe.
Obwohl ich mit ruhiger Ueberlegung fest beschlossen hatte, alle ferneren Schmähungen ohne eine Silbe des Widerspruches oder gar der Verteidigung hinzunehmen, kostete es mich doch unsägliche Ueberwindung, den drei christlich-frommen Megären gegenüber meinem Vorsatze treu zu bleiben. Denn Sachs hatte sein Comptoir wohl noch nicht erreicht, da stand Henriette dicht vor mir, wie um mich zu zerfleischen, ihre sich krampfhaft krallenden Finger bis in die Nähe meiner Schläfen erhebend. Ihr rundes Aprikosengesicht glühte; die kleinen Augen schossen vergiftete Dolche auf mich, wogegen der für gewöhnlich zu kleine Kirschenmund plötzlich eine Größe gewann, als hätte sie allen Ernstes daran gedacht, bei der Arbeit des Zerfleischens ihre Zähne zu Hülfe zu nehmen.
Mein geringschätziges Lächeln erhöhte ihre Wuth. Gellend rief sie Mutter und Schwester herbei, um sie von der Verstocktheit des gefährlichen Verbrechers zu überzeugen; dann aber brach aus drei verschiedenen Richtungen ein Sturm von Verwünschungen auf mich herein, der gewiß des Antiquars kühnste Erwartungen übertraf, als er mich zur vorläufigen Mürbemachung der Fürsorge seiner christlich-frommen Angehörigen anempfahl. Ich verstand nur das vielfach wiederholte Wort ›Mörder‹; dazwischen das gejammerte: ›Bedauernswerther, guter Splint!‹ ›schwer heimgesuchter Niklas‹, ›Schaffot‹, ›Kerker und ewige Verdammniß!‹
Doch ich war unempfindlich gegen alle Bezeichnungen, welche den keifenden Lippen entströmten. Mit einem Gefühl der Erhabenheit sah ich auf die grimmigen Feindinnen nieder, kalt berechnend, wie lange sie, ohne zu ermüden, in dieser Weise würden fortfahren können. Flüchtig streiften meine Blicke Sophiens, hinter dem Tische fast verschwindende unglückliche Gestalt. Ihr Antlitz war das einer Leiche; in ihren Augen ruhte eine entsetzliche Anklage gegen den Himmel über ihre Unfähigkeit, vermittelnd einschreiten zu können; ruhte der Zorn einer Tigerin, mich von Denjenigen mißhandelt zu sehen, von welchen auch sie stets die schmachvollste Begegnung erfuhr; ruhte das leicht verständliche Flehen, Alles über mich ergehen zu lassen, nicht durch nutzloses Auflehnen meine Lage zu verschlimmern.
Die Aermste, besser als ich wußte sie, daß man Schlingen um mich gezogen hatte, aus welchen auf gewöhnlichem Wege Rettung unmöglich.
Die Ausdauer der drei Furien überwog indessen meine Geduld, zumal ihre gellenden Stimmen mich zu betäuben drohten. Mit gewaltsam erkünsteltem Gleichmuthe schritt ich zur Thür hinaus; mir nach aber folgten die erbitterten Feindinnen, das Haus mit durchdringendem Hülfegeschrei erfüllend, als hätten sie wirklich in Gefahr geschwebt, von mir ermordet zu werden.
Unbekümmert um das Kreischen, unbekümmert um das Gepolter und Thürenschlagen, welches sich im Erdgeschoß erhob, stieg ich nach dem Bodenraum hinauf, und in mein Kämmerchen eintretend, warf ich mich erschöpft auf mein Lager.
Bevor es mir gelang, meine wild durcheinander wogenden Gedanken einigermaßen zu sammeln, erreichte das sich schnell nähernde Poltern auf dem Boden sein Ende. Licht drang durch die Thür zu mir in den engen Raum, und vor mir stand der Antiquar, in der einen Hand die flackernde Lampe, in der andern eine Papierscheere. Aber auch Splint und der zwerghafte Nickel, welche sich hinter ihm hereindrängten, waren bewaffnet, ersterer mit einem gewaltigen Knotenstock, der Bursche mit einem Schüreisen und Beide bereit, auf ein von ihrem Principal gegebenes Zeichen mit vereinten Kräften über mich herzufallen.
Die Ruhe, mit welcher ich trotz aller angewendeten Reizmittel bei ihrem Erscheinen liegen blieb, enttäuschte sie offenbar unangenehm; denn ich raubte ihnen dadurch die Gelegenheit, mich auf die ihren Rachegelüsten am meisten entsprechende Art zu züchtigen. Ihr stummes Erstaunen verbildlichte gewissermaßen ihre Empfindungen. Aehnlich dachten die drei Furien. Sie hatten sich das Vergnügen nicht versagen können, bei der zu erwartenden geräuschvollen Scene wenigstens als Zeugen zugegen zu sein, hielten sich indessen in sicherer Entfernung und außerhalb des Bereiches jeglicher Gefahr.
»Wer erlaubte Dir, schon jetzt Dich hierher zu verfügen?« fragte der Antiquar endlich und pfeifend entwand sich der Athem der keuchenden Brust.
»Ich machte nur von meinem Recht Gebrauch,« antworte ich unverzagt, indem ich die Hände gemächlich unter meinen Kopf schob.
»Gut,« schnaubte Sachs, welcher die letzte Probe von Geduld einbüßte, »so werde ich nicht minder von dem meinigen Gebrauch machen. Meine Geliebten,« wendete er sich rückwärts an seine christlich-frommen Angehörigen, »seid so gütig und schafft mir ein Stück trockenes Brod und einen Krug Wasser – schönes frisches Brunnenwasser – herbei. Er ist nicht würdig, im Kreise einer glücklichen Familie die Segnungen geselligen Zusammenseins zu genießen – es sei denn, er kehre um auf seinem lasterhaften Pfade – und ein Verbrecher verdient, wie ein Verbrecher behandelt zu werden. Herr Splint, mein theurer, armer, schwer mißhandelter Freund,« wendete er sich an den in kriegerischer Haltung Dastehenden, sobald er vernahm, daß die drei Damen mit größter Bereitwilligkeit hinabeilten, um das Ihrige zu der exemplarischen Bestrafung beizutragen, »und auch Du, mein unschuldig leidender Niklas, Ihr habt wohl die Güte, Euch mit mir in die Bewachung dieses verzweifelten Charakters zu theilen. Niklas, mein Sohn, stelle gefälligst seinen Koffer vor die Thüre – scheue Dich nicht – ich bürge mit meinem Leben für Deine Sicherheit – wir müssen ihm vor allen Dingen die Mittel entziehen, nächtlicher Weile auszubrechen und das Weite zu suchen.«
Ich erschrak bis in's Mark hinein, indem ich der möglichen Folgen gedachte, wenn ich die beiden Bücher, anstatt sie unter den Strohsack zu schieben, meiner ersten Absicht gemäß, in den Koffer gelegt hätte. Aber auch jetzt noch befürchtete ich Entdeckung, und gerade diese Besorgniß trug am meisten dazu bei, daß ich widerstandslos mich in die gegen mich ergriffenen Maßregeln fügte. Fand man namentlich das Skizzenbuch, so hätten meine heiligsten Betheuerungen nicht ausgereicht, den Verdacht eines wohl überlegten Diebstahls von mir abzulenken.
»Indigo, erhebe Dich,« fuhr der Antiquar fort, sobald er den Koffer in Sicherheit sah, »zu lange schon verharrtest Du in der achtungswidrigen Lage.«
Mit innerlichem Beben leistete ich dieser Aufforderung Folge; zu Allem war ich bereit, wenn nur der Strohsack unangetastet blieb.
»Man hörte von jungen Selbstmördern,« erklärte Sachs mit eigenthümlich boshafter Innigkeit weiter, und sichtbar geschmeichelt, keine äußeren Zeichen des Trotzes an mir wahrzunehmen, »und in fast allen Fällen wurde die schwarze That auf religiöse Verirrungen zurückgeführt. Kehre daher Deine Taschen um, damit ich mich überzeuge, daß Du nicht im Besitze von Waffen bist. Bis zu einem gewissen Grade bin ich verantwortlich für Dein Leben, und daher darf ich selbst vor Gewaltmaßregeln nicht zurückschrecken.«
Empört betrachtete ich meine drei Feinde der Reihe nach. Der Buchhalter und Nickel glühten vor Sehnsucht, Hand an mich zu legen. Ihre Berührung aber erschien mir so schmachvoll, die Entdeckung der Bücher so furchtbar, daß ich die durch wilde Verzweiflung aufgestachelte Todesverachtung niederkämpfte und den letzten Gedanken an Widerstand sogleich wieder aufgab.
Schweigend, im Herzen aber unauslöschlichen Haß, kehrte ich meine Taschen um. Ein altes Federmesser und mein Kofferschlüssel fielen mir aus der einen, Bleifeder, Feuerzeug und ein Päckchen Papier aus der anderen in die Hand. Hastig wollte ich Letzteres in die Westentasche schieben – ich hatte bisher nicht wieder an das großmüthige Geschenk der Winkelliese gedacht – als Sachs, meine Bewegung entdeckend, die Hand nach demselben ausstreckte.
»Ein Geschenk von meiner Pflegerin,« antwortete ich stotternd.
»Ah, die Frau Pflegerin kommt hierher, um jungen leichtsinnigen Leuten die Mittel zu einem sittenlosen Lebenswandel vorzustrecken,« bemerkte der Antiquar mit teuflischem Grinsen.
»Herr Sachs!« rief ich drohend aus, und als hätte ich die Kraft eines Giganten besessen, erfaßte ich in ohnmächtiger Wuth den Bettpfosten.
»Herr Indigo,« erwiderte Sachs beißend verbindlich und begleitet von dem höhnischen Lachen seiner beiden Geholfen, »laß die Bettstelle lieber stehen; sie ist zu schwer für Deinen Arm. Aber Du siehst, wie gerechtfertigt meine Vorsicht war. Aengstige Dich übrigens nicht. Kam das Geld auf redliche Art in Deine Hände, dann soll es Dir nicht entzogen werden; ich füge es den fünf Thalern bei, welche ich einst in Deiner Gegenwart in die Sparbüchse legte. Anderen Falls« – hier zählte er unter den Augen der näher getretenen Zeugen das Geld – »achtzehn Thaler!« rief er mit dürftig versteckter Freude aus, »eine beträchtliche Summe, fast zu beträchtlich, um von einer armen Plätterin aufgebracht zu werden – hm, bedenklich, sogar verdächtig –«
»Herr Principal,« fiel Splint ehrerbietig ein, »ich weiß nicht – ich mag mich irren, allein mir war, als ob in jüngster Zeit die Kasse – doch wie gesagt, ich mag mich täuschen –« schloß er stotternd, als ich, unfähig, so viel Schurkerei zu begreifen, starr vor Erstaunen ihm durchdringend in die Augen schaute.
»Kasse und Bücher wollen wir prüfen,« versetzte der Antiquar bedächtig, und Schlüssel, Feuerzeug, Federmesser und Geld verschwanden in seiner eigenen Tasche.
»Am Ende wäre es doch wohl überflüssig,« fiel Splint wiederum zweifelnd ein, während auf dem stockfleckigen gelben Papierbogen für mich leicht verständlich zu Tage trat, daß er die Revision für sich selbst am meisten fürchtete und unstreitig seine Stellung als angehender Schwiegersohn mit etwas zu freier Hand ausnützte, »in der That überflüssig; ich entsinne mich wenigstens plötzlich genau, den einen Posten noch nicht eingetragen zu haben –«
»Gut gut, mein theurer Herr Splint,« unterbrach der Antiquar ihn milde, denn ein einziges unbedachtsames Wort konnte den noch unerklärten Schwiegersohn auf ewig vertreiben, »dem Himmel will ich danken, wenn einige verdächtige Umstände weniger gegen den Unglücklichen zeugen.«
In diesem Augenblick traten die drei Damen ein, unbeschreiblich sanft und zuvorkommend fragend, ob das Brod und Wasser wirklich für den armen Menschen bestimmt sei.
»Leider, leider!« bestätigte Sachs tief bewegt, »das Brod legt auf den Stuhl dort, den Krug dagegen stellt zu Häupten seines Bettes auf die Erde – aber recht bequem erreichbar, wenn ich bitten darf. O, Du Allmächtiger und alle Ihr getreuen, unablässig fürbittenden Heiligen!« brachen seine Empfindungen sich jetzt wieder unaufhaltsam Bahn, »warum muß ich es sein, der in so schroffer Weise einem von der Heerde abgeirrten Schafe entgegentritt? Aber kommt, meine Lieben, ich ertrage den Anblick nicht länger. Ueberlassen wir ihn der Einsamkeit und stillem Nachdenken – Niklas, mein langjähriger junger Freund, Du magst unten schlafen, um dem Bedauernswerthen nicht durch Deine Nähe das wohlthätige Gefühl des Alleinseins zu rauben. Vielleicht, daß in stiller Beschaulichkeit der Herr das verstockte Gemüth erleuchtet, seinen Starrsinn in Reue verwandelt.«
Ein fünffacher Seufzer antwortete auf die salbungsvolle Rede. Ich aber hätte dem Heuchler die Scheere entreißen und in seine Brust stoßen mögen. Doch über mir wachte ein guter Engel. Stumm wie ein Felsen und ohne mit einer Miene Theilnahme oder Leben zu verrathen, beobachtete ich die Scheidenden, indem sie das Kämmerchen verließen. Keiner schien der Letzte sein zu wollen. Ebenso gleichgültig hörte ich, wie Sachs die Thür abschloß und den Schlüssel mit fortnahm, hörte ich, wie Alle dem voranleuchtenden Familienoberhaupt der Treppe zu nachfolgten.
»So jung und doch schon der Hölle verfallen,« tönten die verschiedenen Stimmen zu mir herüber; »ich möchte nicht an seiner Stelle sein;« »rettungslos verloren;« »die Verderbtheit stand ihm von jeher auf der Stirn geschrieben.«
»Ich nährte eine Schlange an meinem Busen,« schloß der Antiquar selber; dann vernahm ich nur noch das Poltern, mit welchem man sich den Weg niederwärts suchte.
Erst nachdem unten Stille eingetreten war, erwachte ich aus dem qualvollen, einer Betäubung ähnlichen Zustande. Von Verzweiflung ergriffen, warf ich mich auf mein Lager. Die erfahrenen Kränkungen, die durch diese erzeugte ohnmächtige Wuth und das Gefühl einer traurigen, unendlichen Verlassenheit raubten mir den letzten Rest des unter dem geistigen Drucke noch nicht ganz erstickten Jugendmuthes. Thränen drangen mir in die Augen. Ich weinte so bitterlich, als ob ich in meine frühesten Kinderjahre zurückversetzt gewesen wäre. Dabei erfüllte mich namenloses Sehnen nach Freiheit, nach dem Verkehr mit freundlich gesinnten Menschen, bei welchen ich Glauben fand und vor denen ich vertrauensvoll mein Herz öffnen durfte. Vor einer Stunde noch entschlossen, dem Beispiele anderer junger Männer folgend, mich kühn in den Kampf mit dem Geschick zu stürzen, Trotz zu bieten allen Hindernissen, welche sich mir in den Weg stellen würden, war ich plötzlich wieder in meine zaghafte Unselbstständigkeit zurückgefallen. Eingeschnürt in eine lähmende Zwangsjacke, wie ich die Jahre im Hause des Antiquars sowohl wie in den Schulräumen verlebt hatte, vermochte das aufflackernde Selbstvertrauen den ersten nach demselben geführten Schlägen nicht den entsprechenden Widerstand zu leisten. Es bedurfte der Zeit, der ungestörten Ruhe, um sich auf's Neue emporzurichten.
Allmählich versiegten meine Thränen. Ich schämte mich sogar dieser Zeugen meines Kleinmuthes. Indem aber nach den jüngsten heftigen Erregungen die Erschöpfung sich wie Blei auf meine Augenlider senkte, tauchten wehmüthig freundliche, in nebelhafte Schleier gehüllte Traumbilder vor der nur noch mechanisch arbeitenden Phantasie auf. Den alten Hänge sah ich und die geschäftige Winkelliese; die weinumrankte Försterei und das Gespensterschloß. Liebliche Haideröschen und träumerische Lilien wucherten überall. Dazwischen sah ich blonde Lockenköpfchen mit holdselig lachenden blauen Augen. Ein milder Glanz schien von ihnen auszuströmen, milde und dennoch mich blendend. Näher und näher neigten sie sich; ich fühlte ihren warmen Lebenshauch, die Berührung weicher Lippen. Auf meine Stirn fiel ein heißer Tropfen. Nach Klarheit ringend schlug ich die Augen auf. War ich erwacht oder lebte ich noch im unbegrenzten Reiche der Träume? In gedämpftem Lichte schwamm das Kämmerchen. Vor meinem Bette aber lag Sophie auf den Knieen, die Hände neben mir auf dem Kopfkissen gefaltet und mit ihren klugen Augen mich schwermüthig betrachtend. Mein Erwachen schien sie erschreckt zu haben; auf ihren ernsten Zügen ruhte wenigstens eine seltsame Verwirrung, während sie noch immer danach trachtete, unmerklich ihr Haupt etwas weiter von dem meinigen zu entfernen.
»Du Treueste,« redete ich sie alsbald an, und mich aufrichtend ergriff ich ihre beiden Hände, »Du hast mich nicht vergessen, bezweifelst nicht, daß ich die unwürdige Behandlung nicht verdiene?«
»Sei still davon, Indigo, ich bitte Dich,« antwortete Sophie unsäglich traurig, »ich weiß Alles, aber klage jetzt Niemand an; es sind meine Eltern und Geschwister – und ändern würdest Du dadurch nichts. Glücklicher Weise erhielt Niklas den Befehl, unten zu schlafen. Du weißt, ich habe mein eigenes Kämmerchen – mit einem Krüppel wohnt Keiner gern zusammen – und nur unter solchen Umständen war es mir überhaupt möglich, wieder mit Dir in Verkehr zu treten. Bis nach Mitternacht wartete ich; dann aber ließ es mir nicht länger Ruhe. Im Geiste sah ich Dich, wie Du verzweiflungsvoll die Hände rangst; ich mußte zu Dir, um Dich zu trösten, Dir zu sagen, wie entsetzlich ich gelitten habe und noch leide. Ich fand Dich schlafend. Um keinen Preis hätte ich Dich gestört – leise bin ich zu Dir hereingeschlichen – und eben wollte ich wieder gehen, da schlugst Du die Augen auf.«
»Sophie, ich ertrage es nicht mehr,« sprach ich ebenso leise, indem ich mich auf den Rand des Bettes setzte und die geliebte Freundin neben mich zog, »aber Du bist verständiger, als ich, und ich betrachte es als ein Glück, bevor ich einen festen Entschluß fasse, mit Dir sprechen zu können; denn nichts will ich unternehmen, ohne Dich vorher von meiner Absicht in Kenntniß gesetzt, Dich um Rath gefragt zu haben. Doch ich wiederhole: Länger ertrag' ich's nicht mehr; ich will fort, fort aus diesem Hause, und wäre es, um auf der Straße mich den niedrigsten Arbeiten zu unterziehen.«
Sophie neigte ihr Haupt tief.
»Ich wußte bereits gestern, daß wir bald von einander scheiden würden,« seufzte sie kaum verständlich, »ich wußte es auf der Stelle, nachdem Du mir die geheimnißvollen Worte vorgelesen hattest. Du magst indessen recht haben, Indigo; in einer Stimmung, wie diejenige, in welcher Du hier fortan leben würdest, müßte Dein Muth gebrochen, Dein Glaube an die Gerechtigkeit des Himmels erschüttert werden. Außerdem erfuhr ich, daß man Dich für den Beruf eines Geistlichen bestimmte, und dazu eignest Du Dich am wenigsten. Es wäre sogar Dein Unglück. Darum rathe ich Dir auch nicht, zu bleiben, schwer, wie es mir wird, in Dir meinen einzigen wahren Freund zu verlieren. Aber ich bitte Dich von ganzem Herzen, Indigo, geh' nicht heimlich von dannen; geh' nicht, bevor der Verdacht einer unredlichen Handlung von Dir genommen ist – ich meine mit Rücksicht auf das Geld, welches die gute alte Frau Dir gab. Versuche auch vorher – und Du bist ja alt genug dazu – Dich mit denjenigen, welche sich Deine unbekannten Freunde nennen, auf dem Wege gütlichen Uebereinkommens auseinander zu setzen. Sie haben sonst die Gewalt in Händen und lassen Dich steckbrieflich verfolgen, und das wäre eine große Schmach. Glaube mir das; ich bin so viel älter und erfahrener als Du, und Mancherlei hörte ich, was einen derartigen Argwohn rechtfertigt. Andererseits wird man Dir kaum Hindernisse in den Weg legen, sobald Du standhaft erklärst, nicht in den jetzigen Verhältnissen bleiben zu wollen. Denn welchen Zweck könnten Menschen haben, Jemand zu einem Berufe zu zwingen, zu welchem er sich nicht mit ganzer Seele hingezogen fühlt? Etwas Widersinniges spricht aus einer solchen Annahme.«
»Mögen jene räthselhaften Beschützer mir Hindernisse in den Weg legen, mögen sie ihre Blicke von mir abwenden: Ich bleibe nicht,« offenbarte ich meinen ernsten Willen. »Aber ich billige Deine Absichten: Nicht heimlich, wie ein Verbrecher, will ich von dannen ziehen, sondern wie Jemand, der keinen Grund hat, den Blicken seiner Mitmenschen auszuweichen.«
»Jetzt bin ich beruhigt,« versetzte Sophie, meine Hand leidenschaftlich drückend, und indem sie mich ansah, erhielt ihr ernstes Antlitz einen Ausdruck, als hätte sie in lautes Weinen ausbrechen mögen, »auch an mich selbst denke ich etwas, indem ich Dir rathe. Scheidest Du frei und offen, vielleicht gar in Frieden und Freundschaft aus meinem elterlichen Hause, so darf ich hoffen, daß über kurz oder lang Du Deine Schritte wieder einmal hierher lenkst. Entgegengesetzten Falles wäre an ein Wiedersehen nie zu denken. Und Du liebst mich hinlänglich, Indigo, das weiß ich, um mich nicht ganz zu vergessen, einen kleinen Umweg nicht zu scheuen und vielleicht nach langen Jahren wieder einmal ein Stündchen mit Deiner Freundin zu verplaudern, – wohl gar auf unserm Altan, wo wir so manche glückliche Stunde verlebten.«
»Ich liebe Dich herzlich,« betheuerte ich, das seiner Verlassenheit so kummervoll gedenkende arme Wesen mit aufrichtiger Zärtlichkeit an mich drückend, »ich liebe Dich hinlänglich, um alles Unrecht, welches ich in diesem Hause erduldete, zu vergessen. Ja, Sophie, Deinetwegen – und ich verspreche nie mehr, als zu halten ich beabsichtige – soll, wenn fern von hier, von meinen Lippen kein unfreundliches Urtheil Deine Angehörigen treffen.«
»Das ist viel, sehr viel,« versetzte Sophie träumerisch, »mehr, als Du vielleicht beim besten Willen zu halten vermagst.« Dann erhob sie sich, ihre Hände auf meine Schultern legend, um mich dadurch zu hindern, ihrem Beispiel zu folgen. Ihr Verfahren erinnerte mich an die Winkelliese, die auf einen Schemel stieg, um sich im Geiste in jene Zeiten zurückzuversetzen, in welchen ich zu ihr, wie zu einer die ganze Welt regierenden Königin emporschaute.
»Doch ich will jetzt gehen,« sprach sie eintönig, und an ihren auf meinen Schultern rastenden Händen fühlte ich, daß sie zitterte, »hoffentlich schlafen wir Beide jetzt ruhiger. Sei nur verständig und geduldig, und sollten Dir Strafen auferlegt werden, so vergegenwärtige Dir, daß ich ebenso viel – ja, noch mehr leide, als Du. Und nun gute Nacht, Indigo. So lange Du unter diesem Dache weilst, hast Du mich, und das muß Dir Alles ersetzen.«
Heftiger zitterten ihre Hände. Ihre Lippen bebten. Ich wollte mich erheben, um sie zu begleiten, als sie mich sanft daran hinderte.
»Bleib,« sprach sie mit ihrem tiefen Organ, und in ihren Augen leuchtete ein Blitz des Zornes auf, um sich alsbald wieder in einen Ausdruck tiefster Trauer zu verwandeln. »Man hat Dich eingesperrt, folglich muß ich das Amt eines Kerkermeisters versehen.«
Sie küßte mich auf die Stirn, und die Lampe ergreifend, trat sie hastig hinaus. Ebenso hastig drückte sie die Thüre hinter sich zu, doch nicht schnell genug, um zu verbergen, daß Thränen über ihre bleichen Wangen rollten. Geräuschlos drehte sich der Schlüssel im Schloß. Das war das Letzte, was ich von ihr vernahm. Wie ein Schatten schwebte sie über den düstern Bodenraum und die Treppe hinunter.
Lange saß ich noch auf meinem Bett, das Haupt schwer auf die Hände gestützt. Als wäre in dem Wesen und den Worten der treuen Gefährtin eine geheimnißvolle Zauberkraft verborgen gewesen, legte es sich um meine Brust wie ein stiller Friede. Versöhnliche Gefühle traten an Stelle der Verzweiflung. Erst als ich mich wieder auf mein Lager ausstreckte, erneuerte sich die Besorgniß um die nächste Zukunft. Wer bürgte mir dafür, daß ich später Gelegenheit fand, mich der Skizzensammlung zu entledigen, oder daß nicht schon am folgenden Tage mein erbärmliches Bett durchsucht wurde? Vorsichtig knöpfte ich den Schatz, welcher zum Verräther an mir werden konnte unter meine Weste. Das mir von Fröhlich geliehene Buch dagegen, mochten sie es finden; weder den alten Gelehrten noch mich konnte deshalb ein ernster Vorwurf treffen.
Bald darauf war ich fest eingeschlafen. Mein letzter Gedanke galt den Zeichnungen. Ich nahm sie mit in meine Träume hinein. Das Portrait des lieblichen Mädchens auf der ersten Seite belebte sich. Freundlich neigte es sich über mich hin, die zarte Hand, wie segnend, mir auf's Herz legend.
Es war ja nur der breite Buchdeckel, dessen leichten Druck ich empfand und welcher die süße Täuschung erzeugte.