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Trotz ihrer unglücklichen Gestalt bewegte Sophie sich mit großer Behendigkeit vor mir einher. Ich hatte große Mühe, ihr die schmale, düstere Stiege nach dem zweiten Stockwerk hinauf zu folgen, zumal ich noch immer die Wäsche trug und ein Erlahmen meiner Kräfte verspürte.
Wie im ersten Stock, endigte auch im zweiten die Treppe auf einem engen, dunklen Flur. Vier Thüren öffneten aus verschiedenen Richtungen auf denselben.
Meine Führerin blieb stehen, und der Reihe nach auf die im Schatten fast verschwindenden Thüren weisend, sprach sie wieder, ohne mich eines Blickes zu würdigen:
»Hier wohnt Herr Splint, der Geschäftsführer meines Vaters und angehender Bräutigam meiner ältesten Schwester.
Wird's indessen wohl ebenso machen, wie seine vier Vorgänger, und sie sitzen lassen,« fügte sie mit einem geringschätzigen Achselzucken hinzu; »es wäre kein Unglück, denn lieber heirathete ich eine Kellerkröte, als solche Carricatur.
»Dort hinter der zweiten Thür wohnt Herr Fröhlich, ein harmloser Bücherwurm,« fuhr sie fort; »alt, wie Methusalem; gelehrt, wie zehn Professoren zusammengenommen; wortkarg, wie die Karte auf seiner Thür, sonst aber nicht übel. Ist überhaupt nur bei uns eingezogen der alten Bücher wegen, die meinem Vater gelegentlich zugetragen werden. Es fehlen ihm nämlich die Mittel, sich solche selbst anzuschaffen. Nicht einmal die Miethe bezahlt er; dafür besorgt er die meinem Vater übertragenen Correcturen von Drucksachen. Mein Vater war früher Lehrer und ist daher nicht unbewandert.
»Die dritte Thür führt in ein unbewohntes, jedoch meublirtes Zimmer, für welches wir seit Jahren einen Miether suchen und wohl noch länger suchen werden. Unsere Gasse ist zu wenig einladend für die Menschen. Die vierte Thür endlich schließt eine Wohnung von zwei Zimmern und einer Küche ab. Sie ist vollgepfropft mit Büchern und sonstigen gelehrten Scharteken; wir nennen sie daher Magazin. Herrn Fröhlichs Zimmer gehörte früher zu derselben, wurde indessen mittelst einer Bretterwand von ihr gesondert; drei Fenster wären zu viel für den alten Herrn gewesen.«
Mit den letzten Worten begann sie eine leiterartige Treppe zu ersteigen, und vernichtet war meine Hoffnung, bei der ausreichenden Anzahl unbenutzter Gemächer, meinen Schlafraum wenigstens nicht unter dem Dach angewiesen zu erhalten.
Als ich oben eintraf, wartete Sophie bereits auf mich. Ich war nicht im Stande gewesen, ihr auf den beweglichen Stufen, die sogar unter meiner geringen Last aus den Fugen zu weichen drohten, schneller zu folgen.
»Höher hinauf geht es jetzt nicht mehr,« redete sie mich spöttisch an, »oder wir müßten uns den Sperlingen und den Katzen auf dem Schornstein zugesellen.«
Tief aufathmend nach der Anstrengung des Steigens blicke ich um mich. Der Boden war geräumig und hell. Vereinzelte Stücke zerbrochenen Hausgeräthes lagen in den Winkeln umher. Eine vielfach geknotete Waschleine zog sich von Sparren zu Sparren hinüber und herüber. Mehrere zerlumpte Röcke hingen an derselben; sie erinnerten mich an Selbstmörder, so daß ich scheu an ihnen vorüber schlüpfte. Licht erhielt der Bodenraum ebenso viel durch die Fugen zwischen zerbrochenen Dachziegeln, wie durch die beiden einander gegenüber liegenden leeren Fensteröffnungen.
Eine Bretterwand schied auf dem einen Giebel einen schmalen Streifen von dem übrigen Bodenraum. Indem wir uns diesem Verschlage näherten, zeigte meine Führerin auf zwei hart nebeneinander liegende Thüren, welche in ihren besseren Jahren augenscheinlich als Fensterladen gedient hatten.
»Hier wohnt Nickel,« sprach sie gleichmüthig; »eigentlich heißt er Niklas. Du hast ihn vielleicht bemerkt, ich meine den Lehrling unten. Eine hinterlistige Creatur, welche ich lieber hier hängen sehen möchte, als meines Vaters abgelegte Röcke. Kümmere Dich nicht um ihn; vor Allem suche nicht seine Freundschaft.«
Sie öffnete die andere Thür, und vor mir lag ein Kämmerchen, welches sich nur durch eine morsche, mit Strohmatratze und wollener Decke versehene Bettstelle, einen zerbrochenen Stuhl und auf diesem eine gesprungene Waschschüssel, von einem Taubenschlag unterschied.
»Hier wirst Du schlafen,« fuhr sie erklärend fort, »gewiß kein schöner Aufenthaltsort, aber zum Schlafen lange gut genug. Licht wird Dir nicht gewährt; ich leuchte Dir indessen so lange, bis Du den Weg genau kennen gelernt hast. Der Koffer dort ist verschließbar,« und sie deutete auf einen neben dem Kopfende des Bettes stehenden, mit abgeschabtem Seehundsfell überzogenen Behälter, »da hinein thue Deine Sachen, schließe zu, und was wir sonst noch zu besprechen haben, erledigen wir draußen am Fenster. Ich liebe Fernsichten; namentlich bewaldete Berge. Du bist vielleicht auf solchen gewesen und kannst mir davon erzählen.«
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, trat sie auf den Bodenraum hinaus. Ich selbst fühlte mich so namenlos unglücklich und vereinsamt, daß ich die elende Stätte, auf welcher ich fortan hausen sollte, kaum einer oberflächlichen Prüfung unterwarf. Mit zitternden Händen und unter strömenden Thränen verschloß ich meine Wäsche; dann schlich ich betrübt meiner Führerin nach. Sie saß vor dem einen Fenster auf einer Art Gerüst, welches sie schon früher mittelst alter Möbel hergestellt hatte.
»Komm herauf,« sprach sie, mir die Hand reichend und mich emporziehend, »setze Dich neben mich und laß uns plaudern. Du siehst hier die eine Hälfte der Stadt vor Dir; morgen gehen wir nach drüben und betrachten die andere. Dort auf den waldigen Höhen muß es sehr schön sein. Ich war noch nie dort; wohl aber meine Schwestern. Sie nehmen mich nie mit, weil sie sich meiner schämen, und allein mag ich nicht gehen. Ich fürchte das Gespött der Gassenbuben; auch fehlen mir bessere Kleider. Doch davon später mehr; vielleicht entschließe ich mich, zuweilen ein Stündchen hier bei Dir zu sitzen. Wie alt bist Du?«
»Beinah dreizehn Jahre,« antwortete ich schüchtern, und mehr, als die Aussicht über die zahllosen Dächer, fesselte meine Aufmerksamkeit das ruhige, überlegende Antlitz meiner Führerin.
»Ich bin sechszehn,« versetzte Sophie schnell, »also über drei Jahre älter, als Du. Obwohl ein Krüppel, besitze ich hinreichend Kräfte, Dich aus diesem Fenster auf die Straße hinab zu werfen. Aber auch klug bin ich; weit klüger als meine Mutter und Schwestern zusammengenommen, und wenn ich zu deren Mißhandlungen schweige, so ist's eine Folge, weil ich Alles so viel besser weiß. Solltest Du indessen einmal wagen, mich zu verspotten oder gar Prinzessin Aschenputtel zu nennen, so räche ich mich furchtbar.«
»Warum sollte ich das thun?« fragte ich beklommen, »Frau Winkler und der Herr Hänge sagten mir stets, gegen arme Krüppel müsse man doppelt freundlich sein.«
Sophie kehrte sich hastig mir zu, und ihre klugen Augen durchdringend auf mich heftend, betrachtete sie mich eine Weile sinnend.
»Du siehst also doch, daß ich ein Krüppel bin?« fragte sie.
»Sie sagen es ja selbst –«
»Nenne mich Du,« fuhr Sophie heftig auf, »ich glaube sonst, Du willst mich verhöhnen.«
»Nun ja, ich sehe wohl, daß Du nicht gewachsen bist, wie andere Menschen,« erwiderte ich stotternd, »allein das fällt mir nicht auf.«
»Warum nicht?«
»Weil ich immer Deine Augen suche und dann Dein Haar; Beides ist wunderbar schön; und wenn Du sprichst, klingt's so seltsam. Ich muß dabei an das Geläute auf dem Boden des See's im Walde denken. Das thun die Unken; man möchte sie für verzauberte gute Geister halten.«
»Was Du mir da sagst, das soll Dir nicht vergessen sein, so lange ich lebe,« entschied Sophie gedämpft, und indem sie aus dem Fenster sah, bemerkte ich, daß sie mit der Hand leicht über ihre Augen fuhr, »Du bist ein guter, aufrichtiger Junge, und kein einziges Mal sollst Du zu Bette gehen, ohne Dich von dem Vorhandensein frischen Wassers überzeugt zu haben – so will ich Dich bedienen. Auch bei Deinen Schularbeiten helfe ich Dir; denn trotz meiner sechszehn Jahre und der geringen Mühe, welche man sich während meiner wenigen Jahre Schulbesuches mit mir gab, lernte ich sehr viel. Doch ich wiederhole: Wenn Du siehst, wie Alle den armen Krüppel verhöhnen und peinigen und dadurch sein Blut vergiften, laß Du Dich nie verleiten, solchem Beispiel zu folgen. Ich spreche nur wenig, denke aber desto mehr, und alle nur denkbare Martern will ich an Dir ausüben, erlebe ich, daß ich mich in Dir täuschte. Im anderen Falle dagegen bin ich Deine Freundin, und was das bedeutet, wirst Du zu seiner Zeit erfahren. Du kommst vom Lande?«
»Aus einem Dorfe.«
»Kennst Obstgärten, Blumenbeete und Viehheerden?«
»Alles, Alles.«
»Wegweiser, Bäume, Wälder und Windmühlen?«
»Alles.«
»Gut; hier sitze ich stundenlang und vergeblich versuche ich, mir auszumalen, wie es jenseit der Berge aussehen mag. Ich werde sterben, ohne die schönen Dinge kennen gelernt zu haben,« und ihre Stimme klang unendlich traurig, »willst Du mir also eine Freude bereiten, so beschreibe mir ein Dorf und erzähle mir, wie es glitzert, wenn die Sonne oder der Mond auf die bethauten Wiesen scheint. Es muß strahlen, als hätte es Diamanten geregnet.«
»Jetzt gleich?« fragte ich bereitwillig und förmlich erschüttert von dem Gedanken, daß die freie Natur Jemand vollkommen fremd sei, ergriff ich des unglücklichen Mädchens Hand. Ich ahnte nicht, daß auch bei mir eine derartige ungestillte Sehnsucht erwachen könne.
»Nein, jetzt nicht,« entschied Sophie rauh, »heute haben wir keine Zeit, morgen vielleicht, oder noch später. Doch komm jetzt,« und sie sprang leicht von dem Gerüste hinunter, worauf sie mir Hülfe leistend die Arme entgegenstrecke.
Im nächsten Augenblick stand ich vor ihr.
»Du bist ein guter Junge,« sprach sie ernst; dann küßte sie mich, und meine Hand ergreifend führte sie mich auf die Treppe zu.
Drei oder vier Stufen waren wir abwärts gestiegen, als sie sich plötzlich niedersetzte, das Antlitz auf ihre Kniee barg und bitterlich weinte. Ich setzte mich neben sie. Theils erfüllt von Dankbarkeit, theils aus Besorgniß, daß mir die versprochene treue Freundschaft inmitten aller fremden, theilnahmlosen, sogar gefürchteten Menschen dennoch entzogen werden könne, legte ich schmeichelnd meinen Arm um ihren Hals, mich ängstlich an sie anklammernd.
Sie schien es nicht zu fühlen. Erst nach einer Weile sah sie wieder empor. Ihre Thränen waren versiegt.
»Ich bin recht unglücklich,« hob sie mit dem ihr eigenthümlichen Ernst an, indem sie meine Hand zwischen ihre beiden Hände nahm, »unglücklicher, als Du Dir vorstellst oder begreifst.
»Ein Krüppel zu sein, ertrüge ich wohl; aber wegen meines unverschuldeten Gebrechens verachtet und mißhandelt zu werden, das übersteigt fast meine Kräfte. Wenn's mich zuweilen übermannt, verkrieche ich mich in einen Winkel, um mich heimlich auszuweinen, und dann ist mir wieder ein Weilchen leichter um's Herz. Aber wie schlecht wird man allmählich bei einem solchen Leben! Die Gedanken werden Lug und Trug; zuletzt haßt man alle Menschen, Eltern und Geschwister nicht ausgenommen. Wenn ich lache – und es geschieht nicht oft – ist's eine Lüge, denn ich möchte laut aufjammern, und wenn ich zu den auf mich einregnenden Schmähungen schweige, ist's Trug, weil ich am liebsten mit der Scheere auf meine Peiniger eindränge. Auch Du mußt lernen, Dich verstellen, um die Menschen zu hintergehen; Du mußt in Gesellschaft Anderer vorsichtig vermeiden, Deine Freundschaft für mich zu verrathen, oder man verspottet uns so lange, bis wir uns Einer vor dem Andern schämen, zuletzt sogar mißtrauisch gegen einander werden, und das wäre ein großes Unglück für uns Beide. Auch frage Niemand – wenn Dich dieses oder jenes befremdet, sondern wende Dich heimlich an mich – ebenfalls ein Betrug, allein wenn sich kein anderer Ausweg bietet, muß man sich in's Unabänderliche fügen.«
»Auf wessen Befehl wurde ich in dies Haus gebracht?« befolgte ich alsbald den mir ertheilten wohlgemeinten Rath.
»Das weiß ich nicht,« antwortete Sophie, indem wir uns erhoben, jedoch auf derselben Stufe stehen blieben; »der Vater erhielt eines Tages einen Brief, der wahrscheinlich alles Dich Betreffende enthielt, denn er kündigte uns Deine Aufnahme bei uns an, hinzufügend, daß Du vornehmer Leute Kind seist, dagegen nicht verwöhnt werden solltest. Das Weitere ist mir bis jetzt ein Geheimniß geblieben. Nur einmal meinte der Vater beiläufig, daß Landknaben gewöhnlich die besten Geistlichen würden. In Gedanken bezog ich das auf Dich.«
Traurig ließ ich den Kopf hängen. Vor meiner Seele schwebte das friedliche Pfarrhaus im heimatlichen Dorfe, schwebte die Schaar geputzter, andächtiger Zuhörer, in deren Mitte ich so manches liebe Mal an der Winkelliese Seite den mir freilich zum Theil noch unverständlichen Lehren des greisen Geistlichen lauschte.
»Bist Du katholisch?« fragte Sophie und Hand in Hand stiegen wir die Treppe hinunter.
»Bei uns ist Alles lutherisch,« antwortete ich zweifelnd.
»Wie hier Alles katholisch,« fuhr Sophie gleichmüthig fort, »doch das soll uns Beide nicht kümmern. Ich selbst komme selten oder gar nicht zur Kirche – was sollen häßliche, sogar in ihrem Anzuge vernachlässigte Krüppel unter den festlich geschmückten Menschen? Trotzdem halte ich mich nicht für schlechter, als diejenigen, welche regelmäßig alle vier Wochen beichten. Doch hier sind wir. Geh' hinein; ich selbst habe in der Küche zu thun – Prinzessin Aschenputtel ist zugleich Küchenmagd und Aufwärterin – denn sorgte ich nicht, wer anders sollte genießbare Speisen anrichten?«
Sie verschwand seitwärts durch eine Thür, welche nach einem dürftig erhellten Raume führte. Fettiger Duft drang mir von demselben entgegen, mich über die Lage der Küche belehrend. Zögernd wendete ich mich nach der anderen Seite hinüber und bescheiden klopfte ich. Gleich darauf befand ich mich in dem bekannten Wohnzimmer.
Frau Doctor Sachs, in ihrer Haltung mehr mathematische Linien und Figuren, als mit den Gesetzen der Anmuth vereinbar, strickte und warf gelegentlich einen stumpfen Blick zum Fenster hinaus. Sie erschien mir wie eine durch das Tageslicht mürrisch gewordene Hauseule. Die runde Henriette zählte offenbar an den letzten Kuchenkrümeln ihre zu Wasser gewordenen Heirathshoffnungen ab. Die eckige Melusine maß zur Abwechselung wieder einmal ihre Häkelarbeit. Und ich? Ach, ich stand wohl fünf Minuten neben der Thüre, bevor es der verdrossenen Hausregentin beliebte, mir zu erlauben, auf dem nächsten Stuhl Platz zu nehmen.
»Du sollst nicht verweichlicht werden, und das ist eine lobenswerthe Eigenschaft an Dir,« bemerkte sie eintönig, wie der graue Himmel über der Stadt, »denn damit kommt man am weitesten in der Welt. Vielesser werden nicht geboren, sondern erzogen, und kalt schlafen ist zuträglicher, als Doctor und Apotheker.«
Obwohl noch ein Kind, fiel mir die wunderliche Art auf, in welcher die Hauseule ihre Gedanken untereinander warf. Ich meinte, daß sie durch Abkürzung der Sätze Zeit zu ersparen wünschte. Ihre Töchter dagegen blicken sich gegenseitig in die Augen und lachten hell auf. Ihnen gefiel offenbar der Anfang der mir bevorstehenden Abhärtung. Dann sahen sie wieder auf mich; die eine drohte, mich mit der Häkelnadel aufzuspießen, die andere zeigte mir die Faust, um sich, wie ich später mir leicht enträthselte, an meiner Furcht zu ergötzen. Hatten sie aber gehofft, sich über das Bild eines weinenden Knaben zu belustigen, so täuschten sie sich; denn ich betrachtete sie mit demselben Ausdruck, mit welchem ich zu den von den Fliegen ihres Glanzes beraubten Lithographien emporschaute. Eine gewisse Todesverachtung, welche sich allmählich in dumpfen Trotz verwandelte, lag in meinem Denken. Die Erinnerung an meine heimliche Freundin erwecke eine Willenskraft in mir, von welcher ich bisher keine Ahnung gehabt hatte. So erkläre ich heute, nach vielen Jahren, wenigstens die Empfindungen, unter welchen ich mich entschloß, ohne Klage Alles über mich ergehen zu lassen. Ersatz aber für das Erduldete hoffte ich zu finden in den mir versprochenen traulichen Zusammenkünften mit der armen Sophie, und in der Schadenfreude über die Art, in welcher es mir gelang, Alle, außer der Prinzessin, über die Wirkung der an mir verübten Launen zu täuschen.
Die ›empörende Einfalt vom Lande‹, wie die beiden Schwestern meine Regungslosigkeit nannten, ermüdete sie bald. Sie eröffneten daher ein Gespräch mit ihrer Mutter, welches abwechselnd mit Bitterkeit und krampfhaftem Lachen geführt, mir nur theilweise verständlich. Es betraf vorzugsweise Brautstand, Hochzeit und Ehe. So erklärte die alte Hauseule mürrisch, daß ihre Töchter sitzen bleiben würden – was ich kindlich als eine Anspielung auf ihre Trägheit betrachtete – und daß sie durch ihr wenig aufmunterndes Wesen alle Männer verscheuchten, anstatt sie durch Zuvorkommenheit auf ewig an sich zu ketten. Darauf erhob sich eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Schwestern, bei welcher vielfach Herr Carus Splint angerufen wurde. Die eine nannte ihn Vogelscheuche und behauptete, es gehöre ein eigenthümlicher Geschmack dazu, sich mit einer solchen zu verbinden, wogegen die andere einwarf, daß der Fuchs die ihm zu hoch hängenden Trauben im Allgemeinen verachte. Die jungfräuliche Entrüstung Melusinens berief sich dann wieder auf den mißlichen Umstand, daß der holde Carus Splint ihrer Schwester immer noch keinen eigentlichen Antrag gemacht habe, was Henriette in ihrer sprühenden Leidenschaftlichkeit durch die Behauptung widerlegte, daß der sinnigste Antrag in einem zarten und doch vielsagenden Händedruck, in einem tiefen Blick und endlich in einem heimlich geraubten Kuß liege. Die brave Mutter war augenscheinlich derselben Meinung, denn sie seufzte beruhigt und wie in Erinnerung der Zeiten, in welchen der schlichte Privatdocent Sachs ähnlich ehrbar um sie warb.
Auf mich wurde bei dieser Unterhaltung der christlich-frommen Familienmitglieder keine Rücksicht genommen. Ich war ja der classisch einfältige Bauerjunge, und ich begriff in der That nicht die Bedeutung ihrer Worte, als Melusine, die ehrwürdige Häkelarbeit über ihrem Haupte messend und reckend, höhnisch ausrief:
»Als ob des schüchternen Splint vier Vorgänger Dir nicht ähnlich ihre Neigung offenbart hätten! Hahaha! und heute, wie vor sechs Jahren, bist Du noch immer Fräulein Henriette Sachs, und wirst's wahrscheinlich auch noch länger bleiben!«
Was nunmehr erfolgt wäre, wer kann es errathen? Aber gerade als der Streit seinen höchsten Gipfel erreichte und Henriette bereits das verhängnißvolle Wort: »Blasser Neid!« gellend ausrief, ertönten schwere Schritte auf der Treppe, und als hätten dieselben Zauberkraft besessen, ebneten sich, wie auf einen Schlag, die hoch gehenden Leidenschaften.
Wo kurz zuvor noch Fäuste sich ballten, Augen funkelten und scharfe Zungen sprühten, da sah man jetzt in lieblicher Eintracht bei einander sitzen die Mitglieder einer christlich-frommen Familie.
Gleich darauf trat der Antiquar ein, das hagere Antlitz eitel Sanftmuth und Wohlwollen. Ihm auf dem Fuße folgte mit männlich selbstbewußter Haltung Herr Carus Splint, der zarte Antragsteller, die unschuldige Ursache des eben stattgefundenen Wortkampfes.
Nachdem Sachs zuvor ein sehr schönes Gebet gesprochen und außer mir, da ich eine solche Sitte nicht kannte, alle Anwesenden sich bekreuzigt hatten, reihten wir uns im Nebenzimmer friedfertig um den Mittagstisch. Ich kam zwischen den Antiquar und Sophie zu sitzen. Splint hatte seinen Platz zwischen der Mutter und Henriette eingenommen, die Beide in Zuvorkommenheit gegen ihn wetteiferten. Heitere Zufriedenheit würzte das Mahl. Principal und Geschäftsführer erhielten abwechselnd von zarten Händen die besten Fleischstückchen vorgelegt; sogar ich wurde sehr dringend zum Essen genöthigt, nachdem ich durch das Kreuzen des schartigen Messers und der zwei und einhalbzinkigen Gabel auf meinem Teller – so hatte ich es von der Winkelliese gelernt – mich furchtsam als vollständig gesättigt ausgewiesen hatte. Meine Festigkeit im Ablehnen wurde natürlich von allen Seiten rühmlichst anerkannt; Sachs entdeckte sogar einen männlichen Charakter in mir und rieth mir zugleich dringend, an den biederen Hänge und die vortreffliche Winkler zu schreiben und sie über die Aufnahme zu beruhigen, welche ich unter seinem rechtschaffenen Dache gefunden. Gerade zu diesem Zweck sollte ich ihn noch an demselben Nachmittage zur Post begleiten, wo er mich einem Freunde vorzustellen gedachte, der alle Briefe schleunigst von mir befördern würde.
»Denn jeder Mensch hat seine kleinen Geheimnisse,« schloß er milde und leicht ruhte seine Hand einige Secunden auf meinem Haupte; »sogar ein lieber, unbedeutender Landjunge; und es wäre doch möglich, daß Du, anstatt Deine Briefe an meinen Freund, den Herrn Splint abzugeben, vorzögest, sie selbst zur Post zu tragen.«
Und ich begleitete ihn in der That zur Post, wo er mich in das Expeditionszimmer führte und dem vor dem Schalter beschäftigten Beamten, einem Manne, dessen Gesicht einer gerupften Martinigans nicht unähnlich, sehr angelegentlich empfahl.
»Dies ist mein neuer Pensionär,« sprach er, und die beiden Herren nickten und lachten sich gegenseitig vertraulich zu, »und da er wohl öfter Neigung haben dürfte, an seine Bekannten zu schreiben, so bitte ich Sie herzlich, wenn er Briefe bringen sollte, dieselben zu frankiren und den Betrag mir in Rechnung zu stellen. Ich gehe nämlich von dem Grundsatze aus, daß junge Leute seines Alters kein Taschengeld gebrauchen, und da wäre es grausam, deshalb seine wenig bemittelten Freunde die Kosten der Correspondenz allein tragen zu lassen.«
Der Postbeamte rieth mir freundlich, mich stets vertrauensvoll mit meinen Wünschen an ihn zu wenden, für mich eine große Beruhigung, und schwerlich nahm er jemals einen aufrichtigeren Dank entgegen, als von mir, indem ich mich von ihm verabschiedete.
Von der Post begaben wir uns zu einem Schneider, welcher den Auftrag erhielt, mich mit einem neuen Anzuge von schwarzem grobem Stoff zu versehen. Unser letzter Besuch galt dem Director des Jesuiten-Convicts, welcher einer großen Kirche gegenüber im Schulgebäude selber wohnte.
Mißtrauisch beobachtete ich die drei hoch gewölbten Portale der ersteren; mißtrauischer noch den vergitterten Vorhof der Anstalt. Vereinzelte bleiche Jünglingsgestalten, deren ernste Gesichtszüge noch nie von einem Lachen erhellt zu sein schienen, schlüpften scheu von einer Thür zur andern. Mich fröstelte bei ihrem Anblick; ihre Bewegungen waren so unbeholfen, ihre Bekleidung so schwarz; mich erschreckte der Gedanke, daß ich binnen kurzer Frist ihnen ähnlich sein würde.
Auf unser Klingeln wurden wir von einem gleichsam skelettirten, wie im Gebet beständig die Hängelippen regenden Pedell eingelassen und demnächst zum Director geführt.
Während Sachs die zuversichtliche Hoffnung aussprach, daß ich meinen unbekannten Wohlthätern Freude bereiten würde, betrachtete mich der Director mit entsetzlicher Regungslosigkeit.
Er war ein großer Mann im geistlichen schwarzen Anzuge. Auf seinem ausnehmend glatten, verschlossenen Antlitz erkannte ich nur den einzigen Ausdruck einer unerbittlichen Strenge.
»Wie heißt Du?« fragte er mich mit einer kaum bemerkbaren Bewegung seiner eingeklemmten Lippen, während das in seinen Brillengläsern sich brechende Tageslicht den Eindruck hervorrief, als ob seine düsteren Augen Blitze auf mich schleuderten.
»Baldrian Indigo,« antwortete ich leise und bebenden Herzens.
»Gut, Indigo,« hob der Director sogleich wieder an, »von Deinen unbekannten Gönnern ist mir Bericht über Dich erstattet worden. Du hast viel nachzuholen; allein mit eisernem Fleiße überwindet man Alles. Vergiß nie, daß diese Anstalt nur für bevorzugte Menschen gegründet wurde, daher ein Abweichen von der streng vorgeschriebenen Ordnung eine ebenso strenge Ahndung nach sich zieht. Welche Religion – doch darüber hast Du kein Urtheil; Deine unbekannten Gönner haben Dich mir als einen Sohn katholischer Eltern empfohlen. Deine Abirrung ist daher nur einem unglücklichen Zufall zuzuschreiben, und magst Du gemeinschaftlich mit den andern Zöglingen täglich vor Beginn der Lehrstunden die Messe hören. Stelle Dich also morgen Früh pünktlich um halb sieben Uhr hier ein; ich werde Dir sodann Deinen Platz anweisen. Noch mache ich Dich darauf aufmerksam, daß es nur eine Deinen unbekannten Wohlthätern zugestandene Vergünstigung, wenn Dir, trotz Deiner Vergangenheit, der Besuch dieser Anstalt gestattet wird. Es ist ein Ausnahmefall, indem unsere Gesetze verbieten, unsere Zöglinge anderswo, als innerhalb dieser Mauern wohnen zu lassen. Bei Dir muß indessen diese Rücksicht walten, um selbst den Schein der Beschränkung Deiner geistigen Freiheit zu vermeiden. Doch Deine Ueberlegung reicht noch nicht so weit, mich zu verstehen. Wohl aber wirst Du mich verstehen, wenn ich Dir die segensreiche Hoffnung eröffne, nach einer Reihe von pflichtgetreu verlebten Jahren und wenn Du erst im Stande bist, Dir ein klares Urtheil über Dich selbst zu bilden, als wirklicher Novize bei uns eintreten zu können.
»Und Sie, Herr Doctor,« und er reichte dem Angeredeten herablassend zwei Finger der rechten Hand, welche von diesem ehrerbietig gedrückt wurden, »Sie haben die Güte, den Knaben mit den Büchern zu versehen, von welchen er Ihnen morgen eine Liste zustellen wird.«
Noch ein leichtes Nicken seines aalglatten Hauptes, und der skelettirte Pedell öffnete die Thür, um uns wieder auf die Straße hinauszubegleiten.
Auf dem Heimwege sprach Sachs zu mir über die christlich-fromme, allein selig machende Richtung der Jesuitenväter und die tiefe Gelehrsamkeit des Directors, allein ich verstand ihn nicht.
Mich schwindelte. Die Eindrücke dieses ersten Tages hatten sich in einem Maße gehäuft und mich überwältigt, daß ich wie im Schlafe neben ihm einherging. Wohin ich denken, wohin ich meine Blicke richten mochte: Ueberall drohende Schreckgestalten mit den Physiognomien des Antiquars und seiner Angehörigen, des Postsecretairs und des Directors. Selbst die drei Portale der Kirche verwandelte meine krankhaft erregte Phantasie in gewaltige Höllenrachen, welche sich öffneten, um mich zu verschlingen.
Wo blieben in dieser Erregung die tröstlichen Bilder des biederen Hänge und der sorglichen Winkelliese? Wo das heimatliche Dorf, die liebliche Försterei mit ihren theuren Bewohnern? Wie ein schwarzer Vorhang senkte es sich vor meine Vergangenheit nieder. Mir war, als seien Monde seit meinem Abschiede von der Winkelliese verstrichen.
Der hereinbrechende Abend verdunkelte den grauen Himmel. Die Häuserreihen unserer Gasse schienen näher zusammenzukriechen, wie um mich zu erdrücken. In dem Geschäftsräume des Antiquars schwebte eine dicke Atmosphäre. Bei jedem Athemzuge glaubte ich, fettig glänzende, mit Nummern versehene Bücher einzuschlürfen. Splint zielte, als ich an ihm vorbeischlich, mit dem linken Auge auf mich, während er das rechte fest zukniff. Nickel, der oben auf der Stehleiter thronte und mechanisch zwischen den Büchern stöberte, benutzte die günstige Gelegenheit, mir grinsend seine breite Zunge in's Gedächtniß zurückzurufen und durch Anlegen der gespreizten Hand an seine Kartoffelnase, diese um ein Beträchtliches zu verlängern.
Ich hatte in der Nachbarschaft der Försterei ein todtes junges Vögelchen gefunden. Hunderte von großen Waldameisen bedeckten und zerfleischten es mit ihren scharfen Zangen. Traurig begrub ich die kleine Leiche unter einen Holunderstrauch, und die Zwillinge mußten einige Thränlein auf den Hügel weinen. Lebhaft erinnerte ich mich beim Durchschreiten des Geschäftsraumes jener Scene. Es erwachte die Empfindung, als sei ich selbst der hülflose Vogel gewesen, als umringten mich von allen Seiten ungeheuerliche Ameisen, um gierig und unter Hohngelächter das Fleisch von meinen Gliedern zu schälen. Dasselbe Gefühl lebte fort, als ich bald darauf in dem Hinterzimmer vor einem aufgeschlagenen antiquarischen Himmelsatlas saß, um mich auf Sachs' Rath noch ein Weilchen nützlich zu beschäftigen. Die vielen Sterne verwandelten sich vor meinen Blicken ebenfalls in Ameisen; die seltsam in einander verschlungenen Ungeheuer, die Bären, Drachen, Krebse, Scorpione und Keulenschläger, deren Aehnliches ich zuvor nie sah, starrten mir entgegen wie Gespenster und gruben sich in meine empfängliche Phantasie tief ein, daß ich lange, lange nachher noch immer von ihnen in meinen Träumen geängstigt und verfolgt wurde.
Der Verschlag auf dem Boden, dessen ich anfänglich mit heimlichem Grausen gedachte, wie erschien er plötzlich so einladend, während die letzte Abendstunde mir mit bleierner Trägheit dahinschlich!
Endlich, endlich leuchtete Sophie mir die Treppen hinauf. Sie war still und nachdenklich, daß ich sie nicht anzureden wagte. In sich zusammengekrümmt, das Antlitz auf den Knieen rastend, sah sie auf dem alten Seehundskoffer, während ich mich zu Bette legte. Als sie aber die Decke über mich hinzog und, die Thränen in meinen Augen bemerkend, sich über mich hinneigte, mich küßte und mir versprach, des armen Waisenknaben treues Mütterlein sein zu wollen, o, wie da mein junges Herz vor Dankbarkeit sich erweiterte, ich meine Arme um ihren Hals schlang und ihr ernstes Antlitz so fest an das meinige drückte!
Dann ging sie. Die Dunkelheit hatte nie Schrecken für mich gehabt, und dennoch zog ich mir die Decke über den Kopf, daß ich nur nothdürftig zu athmen vermochte. Ich dachte wieder an die kleine Vogelleiche, deren Köpfchen ich vor der Beerdigung behutsam mit Rosenblättern bestreute, und an die Thränen, welche den blauen Augen der Zwillinge entrollten und den winzigen Hügel benetzten. Auch ich weinte an diesem Abend, bis der Schlaf meine Sinne umnachtete. Nur undeutlich vernahm ich die dumpfen Schläge, mit welchen mein Nachbar Niklas die morsche Bretterwand erschütterte und sich vergeblich bemühte, mich zu ängstigen. Zu mir herein konnte er nicht. Sophie hatte in kluger Voraussicht meine Thür hinter sich zugeschlagen und den Schlüssel mit hinabgenommen.