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81

Dieser Befehl war an die Kosaken gerichtet. Keiner derselben bewegte sich. Sam war ja Derjenige, welcher ihren Kameraden, Nummer Zehn, gegen den Rittmeister in Schutz genommen hatte. Jetzt sollten sie ihn arretiren? Hatte überhaupt der Kreissecretair ihnen Etwas zu befehlen?«

»Vorwärts!« schrie er sie an.

Sie bewegten dennoch kein Glied. Da aber commandirte ihr directer Vorgesetzter, der Rittmeister:

»Marsch, herein! Nehmt den Kerl fest!«

Nun erst trat der Unteroffizier, welcher sie anführte, zur Thür herein, und die Andern schickten sich an, ihm zu folgen.

»Halt!« rief da Sam, indem er mit dem Kolben seines Gewehres kräftig auf den Fußboden stampfte. »Wer mich anrührt, dem schieße ich eine Kugel in den Kopf! Nun versucht es, mich zu arretiren!«

Die Leute blieben augenblicklich wieder stehen.

»Vorwärts! Beim Teufel, vorwärts, Ihr Hallunken!« schrie der Rittmeister.

Aber vergebens. Er griff zur Knute, um sie mit Hieben anzuspornen. Da aber warnte Sam:

»Höre, Bürschchen, Du hast schon zweimal Deine eigene Knute geschmeckt. Willst Du zum dritten Male Hiebe haben?«

Da hielt es der »Commandant von Platowa« für das Beste, schleunigst zurückzutreten.

»Memmen!« rief der Kreissecretair den Kosaken zu. »Auch Ihr sollt bestraft werden. Darauf macht Euch gefaßt. Uebrigens gilt die Arretur nicht nur einer Person, sondern Alle, welche hier ohne Erlaubniß eindrangen, sind meine Gefangenen. Sie haben dem Militair sofort in vollstem Gehorsam nach dem Gefängniß zu folgen!«

Er hatte das in würdevollem, gebieterischem Tone gesprochen.

»Wir Alle also?« sagte Sam in höchst freundlichem Tone. »Weißt Du auch, Brüderchen, was Du thust?«

»Ich weiß es ganz genau.«

»Schön! Da laß uns abführen!«

»Sogleich. Vorwärts!«

Dieser Befehl galt den Kosaken, welche freilich keine Miene machten, ihn zu erfüllen.

»Siehst Du, Brüderchen,« lachte Sam, »daß es nicht so leicht ist, Leute zu arretiren, welche gekommen sind, Euch selbst zu arretiren!«

»Uns? Uns?«

»Ja.«

»Bist Du verrückt!«

»O nein, aber ein lustiger Kauz bin ich allerdings, wenn ich mit so vortrefflichen Männern zusammenkomme, wie Du bist.«

»Mensch, ich lasse Dich peitschen, bis Dir das Blut am Leibe niederläuft!«

»Thue das nicht, denn ich bin am ganzen Leibe so empfindlich, daß ich sehr leicht ungemüthlich werden könnte. Uebrigens wird mir da Herr Steinbach bestätigen, daß wir allerdings gekommen sind, eine Arretur vorzunehmen.« Als jetzt der Secretair Steinbach fragend anblickte, trat dieser, welcher bis jetzt hinter den Anderen gestanden hatte, hervor. Er sagte in sehr ernstem Tone:

»Wir haben jetzt eine Scene erlebt, welche man unerklärlich nennen könnte, wenn Einem nicht die hierbei giltigen Verhältnisse bekannt wären. Mein guter Sam hatte allerdings einiges Recht, zu lachen, da wir in Wirklichkeit gekommen sind, eine Arretur vorzunehmen.«

»So sag, wen Du arretiren willst!« forderte der Kreissecretair auf.

Es war ein halb ironischer und halb bedenklicher Blick, welchen er dabei auf Steinbach warf. Dieser antwortete, auf die drei Betreffenden zeigend:

»Den Kreishauptmann, seinen Sohn und seine Frau.«

»Was! Die ganze Familie?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Wegen verschiedener Verbrechen und Vergehen.«

»Wer bist Du denn, daß Du davon redest, einen Kreishauptmann und einen Offizier des Kaisers arretiren zu wollen? Bist Du ein Polizist oder Justizbeamter?«

»Nein, aber das bin ich.«

Er zog schnell den Ueberzug von der Mütze.

Der Kreissecretair wich schnell bestürzt einen Schritt zurück, denn das Lammfell war mit goldig glänzenden, militairischen Insignien geschmückt.

Als aber Steinbach gleich darauf auch den Ueberrock abwarf, so war keiner der Anwesenden mächtig, einen Ruf des Schreckes, der Angst oder der freudigen Ueberraschung zu unterdrücken, denn er stand da in der brillanten Uniform eines russischen Generals der Cavallerie, die breite, mächtige Brust mit zahlreichen, funkelnden Orden geschmückt.

»Alle Teufel!« schrie der Rittmeister und retirirte in den äußersten Winkel der Stube.

Die Kosaken unter der Thür und draußen vor derselben ließen sich demüthig auf ihre Kniee nieder.

Der Kreishauptmann konnte sich nicht aufrecht erhalten; er sank auf den Stuhl nieder, ebenso seine Frau. Beide ließen ein angstvolles Stöhnen hören, die Frau allerdings nicht im Bewußtsein einer eigenen Schuld, sondern in der Vorahnung, daß ihr Mann und Sohn nicht unschuldig seien.

»Sapperment!« stieß Sam hervor. »Und das wollte ein Assessor sein!«

Sein Auge suchte Semawa. Er fand bei ihr nicht die mindeste Beachtung, denn ihre Augen waren förmlich strahlend auf die glänzende Erscheinung des Geliebten gerichtet.

Der Kreissecretair stand da, als ob ihn der Schlag getroffen habe. Er starrte Steinbach an, als ob dieser eine ganz überirdische Erscheinung sei. Doch war er ein zu guter Beamter, als daß es ihm nicht rasch gelungen wäre, seine Fassung wieder zu erlangen.

»Herr, verzeihe Deinem demüthigen Diener! Das habe ich nicht gewußt!« Indem er diese Bitte und Entschuldigung aussprach, kreuzte er die Arme über die Brust und bückte sich so tief, daß sein Kopf fast den Boden berührte.

»Stühle für uns!« befahl Steinbach.

Sofort riß der Secretair alle vorhandenen Stühle herbei, und als dieselben nicht reichten, herrschte er die Kosaken an:

»Ihr Hunde, habt Ihr es nicht gehört! Lauft in die anderen Zimmer, und holt Sessel herbei! Schnell, schnell, sonst helfe ich nach!«

Sie sprangen von den Knieen auf und rannten davon. Nach einigen Secunden waren sämmtliche Stühle des Hauses herbeigeschleppt.

Steinbach setzte sich nieder; die Seinen nahmen hinter ihm Platz. Sein Auge ruhte ernst und schwer auf dem Kreishauptmann und dessen Sohne. Sie standen da mit tiefgebeugten Köpfen, als ob das Weltgericht über sie hereinbrechen wolle.

»Kreishauptmann!« sagte er endlich. »Weißt Du, weshalb der große Zaar einen seiner Generale zu Dir gesendet hat?«

»Nein,« hauchte der Gefragte.

»Du hast keine Ahnung davon?«

»Nein.«

»Ich will gnädig sein und Dich darauf aufmerksam machen, daß ein offenes Geständniß Deine Strafe mildern würde. Willst Du die Wahrheit sagen?«

»Ja.«

»So gestehe!«

»Ich will die Wahrheit sagen, aber gestehen kann ich nichts, denn ich bin mir keines Unrechtes bewußt.«

Er gab sich Mühe, bei diesen Worten stolz den Kopf zu erheben und das Aussehen eines unschuldig gekränkten Mannes zu zeigen.

»Rittmeister,« wendete Steinbach sich jetzt an den Offizier, »willst auch Du nur die reine Wahrheit sagen?«

»Ja, Excellenz,« antwortete dieser.

»Hast Du Etwas zu gestehen?«

»Nein.«

Auch er gab sich Mühe, dasselbe Gesicht wie sein Vater zu zeigen.

»Nun wohl,« fuhr Steinbach fort. »Ich habe es für meine Pflicht gehalten, Euch zunächst die Möglichkeit einer milden Beurtheilung Eurer Thaten zu öffnen. Nun Ihr Euch jedoch derselben unwürdig zeigt, mag die ganze Strenge des Gesetzes walten.«

»Excellenz,« fiel der Kreishauptmann ein, »ich weiß nichts, was ich gethan – – –«

»Schweig!« donnerte der General ihn an. »Welcher von Euch von jetzt an ein Wort spricht, ohne gefragt worden zu sein, erhält fünfzig Knutenhiebe! Merkt Euch das!«

Und sich an die Frau wendend, fragte er:

»Weißt Du vielleicht, von welchem Verbrechen ich mit den Deinen reden will?«

Sie zitterte am ganzen Leibe und vermochte nur kaum hörbar zu antworten.

»Ich ahne von nichts, Herr.«

»Ich möchte gern glauben, daß wenigstens Du Dich zu rechtfertigen vermögest; aber ich meine, daß Du dennoch nicht frei von aller Schuld sein wirst. Ich werde Dir nachher noch eine Frage vorlegen. Jetzt aber vor allen Dingen zu Deinem Manne, der mir kurz und bündig antworten mag.«

Der Kreishauptmann wischte sich den Angstschweiß von der Stirn, als er nun gefragt wurde:

»Wie heißest Du?«

»Wassilei Rapnin. Excellenz.«

»Ist dies Dein wirklicher Name?«

»Ja.«

»Du hast niemals anders geheißen?«

»Nie.«

»Ist Dir ein Graf bekannt, Namens Alexin Polikeff?«

»Nein – – – doch, ja,« fügte er schnell hinzu, nachdem er sich besonnen hatte, daß er ihn ja kennen müsse.

»Seit wann kennst Du ihn?«

»Seit einigen Tagen.«

»Früher hast Du ihn nicht gesehen?«

»Niemals.«

»Auch keine Geschäfte mit ihm gemacht?«

»Nein.«

»Ist Dir nicht vielleicht der Name eines Verbrechers bekannt, welcher Saltikoff hieß?«

»Nein, Excellenz.«

Der Kreishauptmann war selbst dieser Verbrecher Saltikoff. Die Angst trieb ihm das Blut nach dem Kopfe, so daß es ihm vor den Augen funkelte und vor den Ohren summte.

»Du hast niemals Etwas von ihm gehört?«

»Nein.«

»Schön! Aber vielleicht hast Du einmal von einer indischen Provinz gehört, welche Nubrida heißt?«

Der Gefragte antwortete mit erzwungen treuherzigem Tone:

»Ich glaube, so ein Land soll es geben.«

»Ja, es existirt. Hast Du Näheres davon gehört?«

»Nein.«

»Auch nicht den Namen seines letzten Fürsten?«

»Auch den nicht, Excellenz.«

»Hm! Banda ist doch ein sehr bekannter Name!«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Wohl auch nicht die Namen Nena und Semawa?«

»Auch nicht.«

»Ich bemerke, daß Du in allen Dingen, in denen ich Dich für sehr unterrichtet hielt, sehr unwissend bist. Ich werde nun einmal versuchen, ob ich an Deinem Sohne dieselbe eigenthümliche Beobachtung machen werde.«

Er blickte den Rittmeister scharf an und sagte zu diesem:

»Alle die Fragen, welche ich bisher Deinem Vater vorlegte, müßte ich eigentlich auch Dir zur Beantwortung geben. Da mich das aber zu lange mit Dir beschäftigte, wozu ich keineswegs Lust habe, so frage ich Dich lieber ganz einfach: Wirst Du mir dieselben Antworten geben wie Dein Vater, oder hast Du, der Wahrheit zur Ehre, Etwas an denselben abzuändern?«

Der Rittmeister antwortete schnell und ohne sich zu besinnen:

»Mein Vater hat die reine Wahrheit gesagt. Ich kann Etwas weder hinzufügen, noch davonnehmen.«

»Dabei verharrest Du?«

»Ja.«

»Weißt Du, wo der Graf sich jetzt befindet?«

»Nein.«

»Du kennst das Ziel seiner jetzigen Reise nicht?«

»Nein. Er hat nichts gesagt. Ich habe überhaupt wenig mit ihm zu sprechen gehabt. Mein Vater war es ja, an den er sich wenden mußte.«

»Das ist richtig. Vielleicht bist Du grad so unschuldig wie Dein Vater. Und Deine Mutter – – – Frau Kreishauptmann, was haben Sie zu den Antworten Ihres Mannes und Sohnes zu sagen?«

»Nichts,« antwortete sie gepreßt.

»Es war wirklich Wahrheit?«

»Ja«

»Wie ist Ihr Name?«

»Natalia Rapnin.«

»Sie haben nie anders geheißen?«

»O ja, als Mädchen.«

»Ich meine als Frau. Gab es da nicht eine Zeit, in welcher Sie anders hießen?«

»Nein.«

»Besinnen Sie sich! Bis zu diesem Augenblicke halte ich Sie nicht für eine wissentlich Mitschuldige der Ihrigen. Sobald Sie mir aber mit Absicht und Bewußtsein die Unwahrheit sagen, muß ich Sie ebenso streng beurtheilen, wie den Mann und den Sohn.«

Diese Worte machten einen um so tieferen Eindruck, als er die Frau nicht mehr mit dem gebräuchlichen Du, sondern mit dem harten, drückenden Sie anredete. Sie war todtesbleich.

»Sagen Sie aufrichtig,« fuhr Steinbach fort, »haben Sie nicht einst auch Natalia Saltikoff geheißen?«

Sie senkte den Kopf, so tief, daß man ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte, aber sie antwortete nicht.

»Nun, antworten Sie!«

Da brach sie in lautes Weinen aus und rief in verzweiflungvollem Tone:

»Ich kann nicht antworten, ich kann nicht!«

Steinbach fühlte Mitleiden mit ihr. Er begnügte sich mit der Bemerkung:

»Ich glaube es Dir, daß Dir die Antwort schwer fällt, sehr schwer, und darum will ich sie Dir erlassen. Du sollst nicht gezwungen sein, als Zeugin gegen Dein eigen Fleisch und Blut aufzutreten.«

»Sie kann nichts gegen mich sagen, gar nichts, kein Wort!« rief der Rittmeister.

»Schweig, Mensch!« donnerte Steinbach ihn an. »Wenn Du noch ein einziges Wort sagst, ohne gefragt zu werden, so bekommst Du die Knute, grad so, wie ich es Deinem Vater auch gedroht habe.«

Der Rittmeister hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Jetzt wendete Steinbach sich in erklärendem Tone an den Kreissecretair:

»Du hast natürlich keine Ahnung, um was es sich handelt?«

»Nicht die mindeste.«

»So muß ich Dir eine kurze Erklärung geben. Der erwähnte Graf Polikeff wollte Banda, den Maharadscha von Nubrida verderben, weshalb, das ist jetzt gleichgiltig. Er lockte ihn auf einer Wallfahrt auf russisches Gebiet. Damals wurde ein großer Verbrecher, Namens Saltikoff, verfolgt. Durch List und falsche Zeugen brachte der Graf es dahin, daß der Maharadscha für jenen Saltikoff gehalten und in kurzer, summarischer Weise zu ewiger Verbannung in die Urwälder Sibiriens verurtheilt wurde. Der echte Saltikoff aber erhielt von dem Grafen Legitimationspapiere auf den Namen Rapnin und wurde dafür, daß er seinen berüchtigten Namen und die ihm geltende Strafe dem unschuldigen Herrscher von Nubrida überlassen hatte, auf die Räder der Beamtenlaufbahn gesetzt, auf welcher er jetzt bei der Station eines Kreishauptmannes angekommen ist. Kannst Du Dir vielleicht denken, wo dieser Herr Kreishauptmann zu suchen sein wird?«

Der Gefragte hatte der Verhandlung mit einer Miene und einer Aufmerksamkeit zugehört, in denen sich nicht nur sein größtes Interesse für diese Sache, sondern eine ebenso große Bestürzung kund gaben. Er antwortete mit stockender Stimme:

»Excellenz, ich bin vor ungeheurer Ueberraschung fast außer Stande, aus Dem, was ich bisher hörte, einen Schluß zu ziehen. Es kommt mir fast wie ein Frevel vor, meinen nächsten Vorgesetzten einer so ungeheuren Schuld zu zeihen, und doch ist es mir unmöglich, anders zu denken, als daß er es ist, von welchem Du gesprochen hast.«

»Natürlich ist er es.«

»Aber keiner der beiden Schuldigen hat ein Geständniß ablegen wollen. Beide sagen, daß sie von dieser Angelegenheit nichts wissen. Sie leugnen, den Maharadscha zu kennen, und behaupten, den Grafen zum ersten Male gesehen zu haben. Ihre Aussage giebt also keine genügende Unterlage zu ihrer Verurtheilung, wie Du zuzugeben die Einsicht und die Güte haben wirst.«

»Natürlich versteht es sich ganz von selbst, daß es solchen Menschen nicht einfallen kann, sofort ein offenes Geständniß abzulegen.«

»Aber ohne dieses Geständniß ist es in diesem Falle unmöglich, sie zu verurtheilen.«

Er sagte das in so bestimmtem Tone, daß Steinbach ironisch lächelnd fragte:

»Meinst Du wirklich?«

»Ja. Ich bin Jurist, und diese Angelegenheit ist eine rein criminelle. Du wirst mir verzeihen, wenn ich offen meine Meinung ausspreche, daß ein Offizier, selbst wenn er den allerhöchsten Rang bekleidet, in einer solchen Sache doch wohl nicht competent sein kann.«

»Und Du wirst mir zugeben, daß es schon oft Offiziere gegeben hat, welche auch eine juristische Vorbildung hatten. Auch ich bin Jurist, wohl ebenso gut wie Du, und so weiß ich, daß es nicht immer eines Geständnisses des Verbrechers bedarf. Vielleicht hast Du einmal von einer Art des Beweises gehört, welchen man den Indizienbeweis nennt?«

»Natürlich!«

»Nun, zu diesem können wir hier ja greifen, wenn diese beiden Männer es vorziehen, bei ihrem Leugnen zu bleiben.«

»Du hast bisher noch nicht gesagt, daß es hier solche Indizien giebt.«

»Bist Du etwa der Ansicht, daß der Jurist dem Verbrecher sofort den ganzen vorhandenen Beweisesapparat zu offenbaren hat?«

»Nein,« antwortete der Secretair verlegen, denn er bemerkte gar wohl, daß Steinbach ihm überlegen sei. »Du hast die Anklage ausgesprochen. Es entsteht nun die Frage, ob das genügend ist, gegen diese beiden Männer einzuschreiten.«

»Natürlich ist es genügend.«

»Ich kann diese Ansicht nicht zu der meinigen machen.«

»So!« meinte Steinbach in strengem Tone. »Wie es scheint, bemerkst Du gar nicht, wer und was ich bin!«

»Das weiß ich, Herr. Du willst, daß diese Zwei arretirt werden sollen?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Von Dir natürlich.«

»Das ist es ja eben. Der Kreishauptmann ist mein Vorgesetzter, und der Rittmeister steht als Offizier ganz außerhalb meiner Machtsphäre. Du als General hast Gewalt über ihn. Wenn Du es mir befiehlst, so muß ich ihn gefangennehmen, aber des Kreishauptmannes könnte ich mich nur dann bemächtigen, wenn die Anklage wenn auch nicht den vollen Beweis, mir aber doch die persönliche Vermuthung bietet, daß er schuldig sei.«

»Ich sehe, wie sehr gewissenhaft Du bist, und freue mich darüber. Ich will Dir gestehen, daß ich die Absicht hatte, Dich zu prüfen. Du lässest Dich durch nichts verleiten, gegen Pflicht und Gewissen zu handeln, während die beiden Angeklagten sich durch fortgesetzte Gewissenslosigkeiten und Gewalthätigkeiten ausgezeichnet haben. Die hiesige Bevölkerung wird entzückt sein, einen so gerechten Kreishauptmann zu bekommen.«

»Wie? Mich etwa?«

Er machte ein höchst erstauntes Gesicht.

»Ja,« antwortete Steinbach.

»Das ist unmöglich. Selbst wenn ich gezwungen wäre, den Kreishauptmann zu arretiren und ihn also einstweilen seines Amtes zu entheben, könnte ich die Verwaltung desselben doch nur provisorisch übernehmen.«

»Ich übergebe sie Dir definitiv.«

»Herr – – –!«

»Ja, Du bist von dem gegenwärtigen Augenblicke an Kreishauptmann von Platowa.«

»Ich kann das nicht annehmen. Nur ein directer Vorgesetzter ist berechtigt, mir eine solche Verfügung mitzutheilen.«

»Muß es wirklich ein directer sein?« fragte Steinbach lächelnd.

»Ja.«

»Nun, dann muß ich allerdings meine Mittheilung wieder zurücknehmen, denn derjenige Beamte, welcher mich beauftragt hat. Dir dieses Amt zu übergeben, ist der indirecteste und entfernteste, den es nur geben kann.«

»Wer ist es?«

»Dieser hier.«

Er zog ein Papier aus der Tasche, faltete es auseinander und reichte es ihm hin. Der Secretair nahm es mit einer tiefen Verneigung in Empfang. Kaum aber hatte er einen Blick auf dasselbe geworfen, so drückte er es nach orientalischer Weise an sein Herz, verbeugte sich noch viel tiefer als vorher und sagte im Tone der größtmöglichsten Ehrerbietung:

»Mein Gott! Herr, das ist ja ein Ukas imennoj!«

Ein Ukas imennoj ist nämlich ein von dem russischen Kaiser höchst eigenhändig ausgestellter, von ihm selbst unterschriebener und besiegelter Befehl. Solche Ukasen sind eine hohe Seltenheit; sie gelangen nur in die Hände der hervorragendsten, wichtigsten und von der kaiserlichen Gunst getragenen Persönlichkeiten. Wer einen solchen Ukas imonnoj besitzt, ist ganz sicherlich ein sehr bevorzugter und bedeutender Mann, und darum mußte der Kreissecretair jetzt Steinbach unbedingt auch für einen solchen halten. Daher der Ton des Erstaunens oder vielmehr des Schreckes, in welchem er die letzten Worte ausrief.

»Lies ihn nur!« befahl Steinbach kurz.

Der Ukas war auf den Inhaber ausgestellt, ohne daß der Name desselben genannt wurde. Der Secretair konnte also aus demselben nicht erfahren, wer Steinbach eigentlich sei. Daß dieser aber nicht ein Privatmann sein könne, bewies zunächst seine Generalsuniform und sodann der Inhalt des Ukas, denn in demselben wurde gesagt, daß alle Befehle und Anordnungen Steinbach's, möchten sie lauten, wie sie nur wollten, gerade so zu befolgen seien, als ob sie von dem Zaren selbst ausgingen.

.

Der Kreissecretär trat zu ihm heran, beugte sein Knie, reichte ihm den Ukas hin und sagte:

»Excellenz, nimm meinen Respect in Gnaden an. Ich bin Dein gehorsamster Sclave und werde Alles thun, was Du mir befiehlst.«

Steinbach steckte das Papier wieder zu sich und antwortete:

»Das erwarte ich allerdings von Dir. Zunächst ernenne ich Dich zum Kreishauptmann von Platowa und werde dafür sorgen, daß die schriftliche Installirung Dir vom Gouverneur baldigst zugehe. Dein erstes Thun im neuen Amte soll die Arretirung dieser beiden Verbrecher sein.«

»Herr, wenn Du es wünschest, werde ich sie in Ketten legen lassen!«

Der Eifer, mit welchem der Mann diese Worte sprach, ließ erkennen, welchen großen Eindruck der Ukas auf ihn gemacht hatte.

»Ich muß allerdings die größte Vorsicht anrathen. Es giebt hier kein Gefängnißgebäude, welches die nöthige Sicherheit für solche Gefangenen bietet. Du wirst sie also gefesselt und unter gehöriger Bedeckung nach Irkutsk schaffen lassen. Das Begleitschreiben verfasse ich sofort und werde es Dir noch vor Anbruch des Morgens zustellen. Du haftest mir für die sichere Ablieferung der Gefangenen.«

»Excellenz, ich werde sie selbst hinschaffen.«

»Wenn Du glaubst, so lange hier abkommen zu können?«

»Ganz gewiß. Die laufenden Angelegenheiten können bis nach meiner Rückkehr warten.«

»Gut. Und noch Eins: Ich reise früh ab, um den Grafen Polikeff zu ergreifen. Sollte ich ihn verfehlen, so daß er vor mir hier wieder anlangt, so arretirst Du ihn sofort und transportirst ihn ebenfalls nach Irkutsk.

»Ich werde diesem Befehle auf das Allerstrengste nachkommen.«

»Aber nimm Dich in Acht mit ihm! Er ist ein gefährlicher und waghalsiger Mensch, der Alles daran setzen würde, Dir zu entkommen. Er wird seine ganze Schlauheit anwenden, diesen Zweck zu erreichen.«

»Und wenn er schlauer wäre, als ein Fuchs, mich soll er nicht überlisten.«

»Ich hoffe es. Was das Eigenthum dieser beiden Gefangenen betrifft, so vertraue ich es Deinen Händen an. Das über sie zu fällende Urtheil wird bald gesprochen werden, und dann wird auch bestimmt werden, was mit ihren Sachen geschieht. Und damit Du erkennst, daß ich nicht gegen unschuldige Leute so streng verfahre, will ich Dir die Beweise ihrer Schuld zeigen. Diese Menschen irren sich gewaltig, wenn sie denken, daß sie sich durch ihr Leugnen zu retten vermögen.«

Er gab Sam einen Wink und dieser zog nun den Schein hervor, welchen er dem Kreishauptmanne unten im Keller abgenommen hatte. Als der Secretär denselben gelesen hatte, sagte er erstaunt:

»Du siehst, wie die Sachen stehen. Ich übergebe Dir hiermit die Gefangenen. Thue Deine Pflicht!«

Er zog den Ueberrock wieder an, um sich zu entfernen. Da trat die Frau des Kreishauptmannes zu ihm, um für ihren Mann und Sohn zu bitten. Er hörte sie geduldig an und gab ihr den Bescheid:

»Ich will annehmen, daß Du von ihrem Verbrechen nichts gewußt hast, aber von der Aenderung Eures Namens hast Du gewußt. Das genügt eigentlich, um auch Dich mit anzuklagen. Dennoch will ich davon absehen, denn Du thust mir leid. Du sollst Deine Freiheit behalten und es mag auf Dich ankommen, ob Du hier in Platowa bleiben oder die Deinen nach Irkutsk begleiten willst. Frei werden sie aber niemals wieder werden.«

Diese letztere Bemerkung verfehlte ihre Wirkung auf die beiden Gefangenen nicht; aber sie war eine verschiedene. Der Kreishauptmann sank mit einen, dumpfen Weherufe in sich zusammen, sein Sohn aber wagte es, zornig zu rufen:

»Ich werde wieder frei sein, ja, ich werde mich gar nicht gefangen geben. Ich bin unschuldig. Und wenn Alle es bezweifeln, so giebt es doch ganz gewiß eine Person, welche für mich eintreten wird.«

»Wer sollte das sein?« fragte der Secretär.

»Hier, Karparla, meine Braut. Sie soll in Kurzem meine Frau werden, und mein Schwiegervater, welcher Fürst der Tungusen ist, wird nicht zugeben, daß ich wie ein Verbrecher behandelt werde. Karparla, ich verlange von Dir, daß Du mich gegen die Willkür vertheidigest, welcher ich unterliegen soll. Es ist Deine Pflicht.«

Er hatte sich bei diesen Worten direct an sie gewendet und war ihr mehrere Schritte näher getreten.

»Weiche von mir!« wehrte sie ihn ab. »Ich mag nichts von Dir wissen.«

»Du mußt! Ich fordere es!«

»Du hast kein Recht dazu! Ich habe Dich gehaßt und verabscheut, so lange ich Dich nur kenne. Es ist nie ein Wort davon, daß ich Dein Weib werden will, über meine Lippen gekommen. Und selbst wenn ich hätte gezwungen werden sollen, so hätte ich mich gewehrt. Von Dir auch nur angerührt zu werden, ist mir stets eine Pein gewesen. Was Dir geschieht, hast Du mehr als reichlich verdient. Ich habe nichts mit Dir zu schaffen.«

Sie hatte ganz anders gesprochen, als es sonst ihre Weise war. Ihre Augen hatten geblitzt und auf ihre Wangen war die dunkle Röthe des Zornes getreten. Es war, als ob ihre Züge ein ganz neues Gepräge bekommen hätten, als ob sie plötzlich eine ganz Andere geworden sei.

War bereits vorher von der characteristischen Gesichtsbildung der Tungusen bei ihr nichts zu bemerken gewesen, so trat jetzt dieser Umstand auf das Entschiedenste und Auffälligste hervor. Die schief geschlitzten Augen und hervortretenden Backenknochen der sibirischen Nationalitäten fehlten ihr ganz. Ihr Gesicht hatte vollständig europäischen Schnitt.

Das fiel jetzt Allen auf, besonders aber Steinbach, welcher ja gewöhnt war, stets auf Alles, selbst auf das Kleinste zu achten. Sein Blick glitt von ihr auf ihre Eltern; er ruhte still prüfend auf denselben und kehrte dann wieder zu dem schönen Mädchen zurück. Dann flog es hell über sein Gesicht, als ob er irgend einen Entschluß gefaßt habe; doch sagte er jetzt nichts.

Es gab überhaupt nichts mehr zu sagen. Die anwesenden Kosaken mußten sich ihrer beiden bisherigen Vorgesetzten bemächtigen und sie hinab in den Keller führen, um sie dort bis zum Aufbruche nach Irkutsk zu bewachen. Steinbach kehrte mit seinen Begleitern nach dem Lager vor der Stadt zurück.

Unterwegs waren sie Alle still; dennoch beschäftigten sich Alle mit nur dem einen Gedanken, daß Steinbach ein so hoch stehender Officier sei. Er hatte also doch endlich einmal sein Incognito ein Wenig gelüftet.

Als er vom Pferde steigen wollte, warf Sam sich schnell aus dem Sattel, hielt ihm demüthig den Steigbügel und sagte deutsch:

»Excellenz, der Teufel soll mich holen, wenn ich geahnt habe, daß ein deutscher Assessor ein russischer General der Cavallerie sein kann. Mir steht der Verstand still. Geben Sie mir eine tüchtige Backpfeife, daß er wieder in Bewegung kommt.«

»Still!« lachte Steinbach, indem er abstieg. »Laß die Excellenz bei Seite! Ich bleibe Steinbach nach wie vor.«

»Das geht nicht an. Jedem das Seine!«

»Pah!«

»Freilich! Einen General kann ich doch nicht so glatt weg Steinbach nennen. Das würde mir meine angeborene Höflichkeit keineswegs erlauben.«

»Weißt Du denn so genau, daß ich wirklich ein General bin?«

»Natürlich! Ihre Uniform sagt es ja.«

»Die kann ich ja angezogen haben, ohne daß ich ein Recht habe, sie zu tragen. Ich habe nur diesen Russen imponiren wollen.«

»Hm! Sie sind Derjenige, der sich so mit fremden Federn schmücken würde! Nein, hinter diesem Steinbach steckt etwas ganz Anderes.«

»So laß es einstweilen stecken, bis es später freiwillig und ganz von selbst zum Vorschein kommt.«

»Das will ich mir eher gefallen lassen. Freilich ist dabei ein Umstand, über den ich mich eigentlich riesig ärgern könnte, wenn ich überhaupt so ein ärgerliches Temperament hätte.«

»Welcher Umstand ist das?«

»Daß hinter dem Namen Sam Barth nicht auch etwas Vornehmes steckt. Ich kann mich begucken von welcher Seite ich will und noch so hoch an meinem Stammbaume in die Höhe klettern, so bleibe ich, der ich bin und der ich war, nämlich der Knopfmachergeselle Samuel Barth aus Herlasgrün im Königreiche Sachsen.«

»Der ist ein braver Kerl, auf den ich große Stücke halte. Sei also zufrieden, daß Du derselbe bleibst!«

Jetzt trat Semawa zu ihm. Darum zog Sam sich schnell zurück.

»Oscar,« sagte sie »Du hast Dir einen Scherz mit mir gemacht. Willst Du das eingestehen?«

»Du meinst in Beziehung auf den Assessor?«

»Ja.«

»Nun, ich will Dir gegenüber nicht leugnen, Geliebte. Ich bin nicht ein Subalternbeamter, wie ich gesagt habe.«

»Was denn?«

»Magst Du mir nicht erlauben, darüber zu schweigen?«

»Hast Du Gründe dazu?«

»Sehr triftige.«

»So werde ich freilich nicht in Dich dringen. Es genügt mir, daß ich Dich habe. Freilich wäre es mir lieber, wenn Du der kleine Assessor geblieben wärst.«

»Lieber? Warum?«

»Weil ich Dir dann hätte beweisen können, daß ich nur Dich zu besitzen wünsche, daß ich Dich nur um Deiner selbst liebe.«

»Meine Semawa, das hast Du mir bereits bewiesen, und ich bin ganz glücklich, daß ich meiner schönen indischen Prinzessin eine Stellung bieten kann, welche ihrem Stande angemessen und würdig ist. Da steht Karparla. Sie wartet auf Dich. Bitte, sage ihr, daß ich einige Worte ungestört mit ihr sprechen möchte.«

Während die Anderen sich bereits im Zelte befanden, hatte Karparla am Eingange desselben gewartet. Sie kam, als Semawa ihr den Wunsch Steinbachs mittheilte, zu diesem herbei.

»Du hast mich rufen lassen,« sagte sie. »Ist es etwas so Geheimnißvolles, was Du mir zu sagen hast?«

»Nein, aber doch Etwas, was kein Anderer zu hören braucht. Es betrifft nur Dich allein – ganz allein allerdings auch nicht, sondern einen Anderen mit – den Kosaken Nummer Zehn.«

»Ihn? Was hast Du mir von ihm zu sagen?«

»Nichts, vielmehr sollst Du mir Etwas von ihm sagen. Ich habe gehört, daß Du ihn lieb hast. Erlaubst Du mir, davon zu sprechen?«

»Du bist unser Gast, unser Freund; Du kannst mit uns von Allem sprechen, was Dir beliebt.«

»So sage mir einmal aufrichtig, ob Du ihn wirklich lieb hast?«

»Sehr, sehr lieb!«

»Wohl so lieb, daß Du ihm gehören möchtest?«

»Ja, das will ich Dir gestehen.«

»Hast Du denn auch daran gedacht, daß dies nicht gut möglich ist?«

»Ja, ich habe sogar mit ihm davon gesprochen.«

»So habt Ihr einen Plan für Eure Zukunft entworfen?«

»Nein. Es giebt da gar keinen Plan. Wir können einander nicht gehören; wir werden nie glücklich sein.«

Sie sagte das in so traurigem Tone, daß es Steinbach wehe that. Er ergriff ihr Händchen und meinte in tröstendem Tone:

»Vielleicht ist es doch möglich, daß Ihr vereinigt werdet.«

»Nein; das kann niemals geschehen.«

»Er ist freilich ein Flüchtling und wird als solcher verfolgt, aber Du könntest mit ihm in eine Gegend ziehen, viel weiter nach Osten, wo man ihn russischerseits nicht findet.«

»Das könnten wir freilich; aber er thut nicht mit und ich kann den Tungusen nicht zumuthen, meinetwegen die gewohnten Weideplätze zu verlassen.«

»Nun, so ist es mir vielleicht möglich, seine Begnadigung zu erlangen. Dann könnte er ja unangefochten bei Euch bleiben.«

»Herr, ich wäre unendlich glücklich und wollte es Dir Zeit meines Lebens danken, wenn Du es so weit brächtest, daß der Zaar ihn begnadigte; aber sein Weib könnte ich doch nicht werden, weil er in diesem Falle nicht bleiben würde.«

»Wo will er hin?«

»Nach seiner Heimath.«

»So liebt er Dich nicht genug?«

»O, er liebt mich nicht weniger als ich ihn; aber er hat daheim seine Familie und eine alte Mutter, die sich nach ihm sehnt.«

»Hat er Dir das selbst gesagt, oder hast Du es von Sam erfahren?«

»Er selbst sprach davon, und ich glaube wohl, daß Sam es ihm erzählt hat.«

»So hat er Dich ganz recht berichtet. Seine Familie ist auseinander gerissen worden. Die Glieder derselben haben sich seit langen Jahren nicht sehen können, und falls es ihm gelingt, frei zu werden, so ist es allerdings seine Pflicht, in die Heimath zurückzukehren, um sich mit den Seinigen zu vereinigen. Aber das ist doch noch kein Grund für Dich, unglücklich zu sein.«

»O doch! Wenn er mich verlassen muß!«

»Du kannst doch mit ihm gehen!«

»Das kann ich nicht. Auch ihm habe ich das bereits gesagt. So wie sein Herz und seine Pflicht ihn nach der Heimath rufen, so gebieten mir meine Pflicht und mein Herz, hier bei den Eltern zurück zu bleiben. Ich bin ihr einziges Kind.«

»So hast Du sie lieber als ihn?«

»Nein, ebenso wie auch er mich nicht weniger liebt als die Seinen. Er weiß, daß wir uns trennen müssen. Ich werde ihn befreien, damit er heimkehren kann. Ich werde dann sehr unglücklich sein; ich werde nie einem Manne gehören und mich nur mit dem Gedanken trösten, daß ich es ihm ermöglicht habe, seine Heimath wieder zu sehen.«

Sie sagte das so einfach, und doch lag eine tiefe Innigkeit in ihrem Tone. Sie fühlte, daß sie unglücklich sein werde, und doch wollte sie dem Geliebten den Weg nach der Heimath öffnen. Steinbach fühlte sich auf das Herzlichste zu dem einfachen, schönen und so braven Mädchen hingezogen. Er fragte weiter:

»So ist es also fest beschlossen, daß Ihr Euch trennen werdet?«

»Ganz fest.«

»Vielleicht würde es, wenn Du nicht das einzige Kind Deiner Eltern wärst. Dir leichter. Dich von ihnen zu trennen und mit ihm zu gehen?«

»Ich weiß das nicht, denn ich weiß nicht, wie es ist, wenn man Geschwister hat.«

Es entstand eine Pause, während welcher Steinbach nachsann, wie er die entscheidende Frage wohl formuliren möge. Er war nämlich vorhin, als Karparla so erregt zu dem Rittmeister sprach, auf den Gedanken gekommen, daß sie gar nicht die Tochter des Tungusenfürsten sei. Das konnte er ihr aber doch nicht so unmittelbar mittheilen. Darum fragte er:

»Du hast Dich stets auf den Weideplätzen der Tungusen befunden?«

»Ja. Wo sollte ich anders gewesen sein?«

»Kannst Du mir vielleicht sagen, wie weit Dein Gedächtniß zurückreicht?«

»Bis in meine früheste Kindheit.«

»Wessen kannst Du Dich da erinnern?«

»Ich erinnere mich an Alles, an unser Zelt, an meine Eltern, an unsere Heerden, kurz an Alles, Alles.«

»Hast Du in den ersten Jahren Deines Lebens nicht auch fremde Gesichter gesehen?«

»Nein.«

»Oder fremde Spielsachen gehabt?«

»Auch nicht.«

»Hm! Sonderbar!«

Er war am Ende seiner Weisheit angekommen. Jetzt erst fiel es Karparla auf, welche eigenthümlichen Fragen er ihr vorgelegt hatte.

»Warum willst Du das von mir wissen, Excellenz?« fragte sie ihn.

»Sage nicht Excellenz; ich heiße Steinbach und will nicht anders genannt werden. Warum ich Dir diese Fragen vorgelegt habe, das kann ich Dir jetzt noch nicht sagen. Vielleicht theile ich es Dir später mit. Morgen werden wir aufbrechen. Jetzt ist es bereits sehr spät, und da Semawa uns vielleicht begleiten wird, so bedarf sie der Ruhe. Ich bitte Dich also, sie in Dein Zelt zu führen.«

Karparla war viel zu sehr Naturkind, als daß sie in Folge dieser Aufforderung erkannt hätte, daß er wünsche, ohne ihre Gegenwart mit ihren Eltern zu reden. Sie sann gar nicht über den Grund zu dieser seiner Aufforderung nach; sie gehorchte derselben einfach und zog sich, nachdem Semawa von Steinbach Abschied genommen hatte, mit derselben in das Frauenzelt zurück.

Nun erst begab sich Steinbach in das Familienzelt, wo der Fürst mit seiner Gemahlin und den drei Jägern saß. Das gute, dicke tungusische Ehepaar hatte gar keine Ahnung von dem Blitze, welcher wie aus heiterem Himmel jetzt in ihr so friedliches Familienleben fahren sollte.

Der Fürst wollte davon sprechen, daß Steinbach ein so vornehmer Herr sei. Dieser aber schnitt dieses Thema mit einer kurzen Bemerkung durch:

»Lassen mir das! Wir haben jetzt Wichtigeres zu besprechen, und dann wollen mir zu einer kurzen Ruhe gehen, welche wir alle sehr nothwendig brauchen.«

»Recht hast Du,« stimmte der Fürst, welcher sehr gern schlief, ihm bei. »Wir müssen bei Zeiten aufbrechen und haben einen weiten Ritt vor uns.«

»Also bist Du wirklich fest entschlossen, mit Deinen Tungusen mit nach dem Mückenflusse zu reiten?«

»Ja, ich muß, denn Mila Dobtonitsch hat gesandt, und wenn diese uns eine Botschaft schickt, so ist es immer dringend.«

»Wer ist diese Frau?«

»Sie ist keine Frau, sondern ein junges Mädchen, eine Freundin von Karparla.«

»Ah, wohl ihre Verbündete? Sie ist dem Engel der Verbannten behilflich, den Flüchtlingen über die Grenze zu Helfen?«

»Ja.«

»Dann kann sie kein gewöhnliches Mädchen sein.«

»Das ist sie freilich nicht. Sie ist reich, schön und so muthig wie selten ein Mann ist.«

»Was ist ihr Vater? Dem Namen Dobronitsch nach scheint er ein Russe zu sein?«

»Er ist ein sehr reicher Heerdenbesitzer, dessen Wohnung am Ufer des Baikalsee's liegt, da, wo der Mückenfluß sich in den See ergießt, einige Werst nördlich von Werchnei Udinsk. Er ist ein alter Bekannter von mir und freut sich immer, wenn ich ihn einmal besuche.«

»Auf welche Weise trägt er denn zur Befreiung der Gefangenen bei?«

»Hm! Das ist ein Geheimniß, welches ich eigentlich nicht verrathen darf. Zu Dir aber kann ich davon sprechen. Er hat am Ufer des Sees, in den steilen Felsen ein sehr vorzügliches Versteck, in welchen er die Flüchtlinge verbirgt, bis sich eine gute Gelegenheit für sie findet, über die Grenze zu gelangen. Leider werde ich ihn verlieren. Er ist als armer Mann nach Sibirien gekommen und hier reich geworden. Nun will er wieder in die Gegend von Warschau, aus welcher er stammt, zurückkehren. So werden wir uns bald trennen, und ich bekomme ihn nie wieder zu sehen.«

»Das ist das Schicksal aller Menschen. Sie kommen und gehen. Oft ist man gezwungen, sich vom Allerliebsten, was man besitzt, zu trennen. Vielleicht wirst Du das auch noch erfahren.«

»Ich? Wieso?«

»Nun, ich denke, daß Du Dich einmal von Deiner Karparla wirst trennen müssen.«

»Niemals!«

»Vielleicht doch. Die Bestimmung des Weibes ist, dem Mann anzugehören.«

»Wenn Karparla einmal einen Mann nimmt, wird sie dennoch bei uns bleiben.«

»Ich habe gehört, daß sie den flüchtigen Kosaken liebt. Wenn sie ihm angehören will, wird sie ihm in seine Heimath folgen.«

»Das wird sie nicht thun. Sie bleibt bei uns, denn sie gehört ja zu uns.«

Steinbach ließ mit Fleiß eine Pause eintreten, während welcher er seinen Blick scharf und forschend auf das Gesicht des Fürsten gerichtet hielt. Dann fragte er mit schwerer Betonung:

»Gehört sie wirklich zu Euch?«

»Natürlich!«

»Aus welchem Grunde?«

»Das vermagst Du zu fragen? Sie gehört zu uns, weil sie unsere Tochter ist.«

»So! Ist – sie – das – wirklich?«

Er sprach jedes Wort dieser Frage langsam und einzeln aus. Der Fürst schien zu erschrecken. Er blickte Steinbach lange in das Gesicht und fragte:

»Wie kommst Du zu dieser Erkundigung?«

»Ich weiß, daß sie Eure Tochter nicht ist.«

Da sprang der Fürst trotz der Schwere seiner Gestalt blitzschnell von seinem Sitze auf. Die Fürstin stieß einen Schrei des Schreckes aus. Sie saß neben Steinbach, ergriff seinen Arm und rief:

»Herr, schweig, schweig! Das soll ja Niemand wissen. Sie ist unser Kind, obgleich ich sie nicht geboren habe.«

Steinbach fühlte eine innige Theilnahme für die beiden braven Menschen; aber wenn er es auch nicht grad für seine Pflicht gehalten hätte, diesen Fall aufzuklären, so gebot ihm doch die Rücksicht auf Georg Adlerhorst, den Kosaken, nach der Abstammung Karparla's zu forschen. Darum sagte er:

»Warum erschreckt Ihr? Niemand will Euch die Tochter nehmen.«

»O doch, doch!« rief die Fürstin. »Wenn Karparla erfährt, daß sie nicht unser wirkliches Kind ist, so folgt sie dem Kosaken in seine Heimath, denn diese – – –«

Sie hielt inne. Steinbach durfte ihr keine Zeit lassen, diese Pause zu verlängern. Darum sagte er schnell:

»Denn diese – – – was wolltest Du noch hinzufügen?«

»Diese Heimath ist ja auch die ihrige.«

»Wie? Was? Karparla ist eine Deutsche?«

»Ja.«

»Nein, das ist nicht wahr,« schalt der Fürst ein. »Sie ist eine Russin.«

»Ihr Vater war ja aus Deutschland,« entgegnete seine Frau.

»Aber ihre Mutter war eine Russin, und überdies ist sie in Rußland geboren.«

Das war für Steinbach freilich höchst interessant. Die beiden Eheleute befanden sich in einer bedeutenden Erregung, welche benutzt werden mußte, um von ihnen ein Geständniß zu erlangen.

»Bleibt ruhig, bleibt ruhig!« bat er. »Ihr werdet so gut sein, mir zu erzählen, wie Karparla Eure Tochter geworden ist.«

»Nein, das werden wir nicht thun,« antwortete der Fürst, indem er sich langsam wieder niedersetzte.

»Ihr seid es mir schuldig.«

»Nein, nein. Ich spreche von dieser Sache nicht. Karparla ist unsere Tochter, und das ist genug. Wie sie es geworden ist, das braucht Niemand zu erfahren.«

Steinbach machte mit Absicht ein möglichst enttäuschtes Gesicht und stieß in sehr bedenklichem Tone hervor:

»Schade, jammerschade! Ich habe Euch bisher für brave, ehrliche Leute gehalten.«

»Das sind wir auch.«

»Jetzt möchte ich daran zweifeln.«

»Herr, willst Du uns beleidigen? Willst Du uns kränken, uns, Deine Gastfreunde?«

»Nein. Ganz im Gegentheile kränkt es mich, denken zu müssen, daß Ihr, die ich so liebe, eine böse That auf dem Gewissen habt!«

Da rief der Fürst ganz entsetzt seiner Frau zu:

»Hörst Du, Kalyna, eine böse That!«

»Ich höre es,« antwortete sie ganz außer sich. »Eine böse That! Und doch ist es grad im Gegentheile eine sehr gute That gewesen, eine Wohlthat für das Kind!«

»Das sollte mich freuen,« meinte Steinbach. »Es erleichtert mir das Herz außerordentlich, überzeugt sein zu dürfen, daß Ihr an dem Mädchen kein Verbrechen begangen habt.«

»Ein Verbrechen! Ein Verbrechen! Für was hältst Du uns?« rief der Fürst.

»Jetzt weiß ich ja gar nicht, was ich von Euch halten soll. Ihr wollt mir ja Alles verschweigen, also kann ich eigentlich nichts Gutes, sondern nur Böses von Euch denken.«

»Ich erschrecke! Wer kann uns etwas Böses nachsagen!«

»Bis jetzt Niemand. Aber was werden die Leute dann sagen, wenn Ihr vor die Polizei und vor das Gericht gefordert werdet!«

»Vor die Polizei? Wir? Herrgott! Dazu giebt es doch gar keinen Grund.«

»O doch! Einen sehr triftigen.«

»Welchen denn?«

»Ihr habt ein fremdes Kind bei Euch und haltet es seinen Eltern zurück. Ihr sagt nicht, wem es gehört. Das ist ein Verbrechen, welches sehr schwer bestraft wird.«

»Ein Verbrechen? Wäre es wirklich eins?«

»Natürlich, ein sehr großes sogar.«

»Und es wird bestraft?«

»Mit Zuchthaus, mit lebenslänglicher Verbannung in die Bergwerke.«

»Mein Heiland!« schrie die Fürstin auf.

»Du Herr mein Gott!« rief auch der Fürst.

Er, ein Nommadenfürst, von Jugend auf an das freie, ungebundene Herumziehen gewöhnt, sollte in das Zuchthaus kommen oder gar lebenslänglich unterirdisch in den Bergwerken arbeiten, ohne jemals das Licht der Sonne wieder zu erblicken! Es konnte für ihn gar nichts Schrecklicheres, Entsetzlicheres geben.

»Ja, da erschreckt Ihr nun,« sagte Steinbach. »Es ist sicher, daß Ihr ein solches Verbrechen auf dem Gewissen habt, und grad ich muß es sein, es entdeckt und Euch der Polizei überliefert, ich, den Ihr als Euern Gast hier aufgenommen habt. Das ist mir sehr leid; es ist traurig für mich, aber ich kann es nicht ändern; ich muß leider meine Schuldigkeit thun.«

»Du, Du willst uns anzeigen!«

»Ja, ich muß.«

»Nein, Du mußt nicht!«

»O doch! Du bist ja selbst dabei gewesen, als ich den Kreishauptmann und den Rittmeister habe arretiren lassen. Ich bin als Beauftragter der Criminaljustiz gekommen und muß Alles, was ich auch nur zufällig entdecke, bestrafen lassen.«

Das Gesicht des armen Fürsten wurde ganz starr und bewegungslos. Das Blut war gänzlich aus demselben gewichen. Die gute Kalyna rang die Hände; sie brachte vor Entsetzen kein Wort hervor. Sie athmete schwer und vermochte nur, zu seufzen.

»Cri–mi–nal–ju–stiz! Gnade, Gnade! Es zwingt Dich ja Niemand, uns anzuzeigen!«

»O freilich doch!«

»Wer denn?«

»Ihr selbst.«

»Das fällt uns ja gar nicht ein! Wir wollen nicht angezeigt sein. Wie kannst Du da sagen, daß wir Dich zwingen!«

»Ihr zwingt mich dazu, indem Ihr Euch weigert, mir die Sache zu erzählen. Wenn Ihr die Wahrheit sagtet, könnte ich vielleicht eine Möglichkeit entdecken, die That ungeschehen zu machen.«

»Meinst Du, Herr? Meinst Du wirklich?«

»Ja. Ich bin gern bereit, Alles zum Besten zu kehren; aber wissen muß ich da natürlich, wie es zugegangen ist.«

»Ganz gesetzlich ist es zugegangen, ganz gesetzlich. Das kannst Du uns glauben!«

»Wenn ich es wirklich glauben soll, so müßt Ihr es mir erzählen.«

»Was soll ich thun! Kalyna, liebe Kalyna, sage mir, was ich thun soll!«

»Bula, bester Bula, erzähle es!« antwortete sie. »Das wird das Beste sein.«

»Aber dann kommts heraus!«

»Wenn Du es diesem Herrn nicht erzählst, wird es auch herauskommen, denn Du wirst es der Polizei sagen müssen.«

»Und die kennt nachher keine Rücksicht,« fügte Steinbach hinzu. »Ich aber kann die Sache freundschaftlich behandeln.«

»Wirst Du das wirklich thun?«

»Ganz gewiß.«

»Nun, so werde ich mich doch wohl entschließen, es Dir zu erzählen.«

»Das ist das beste, was Du thun kannst.«

»Du wirst erkennen, daß wir nichts Böses begangen haben.«

»Ich will das hoffen. Nun aber laß die Zeit nicht noch länger unnütz verstreichen. Sie ist mir zu kostbar, als daß ich sie mit leeren Reden verschwenden möchte.«

»Ja, ich will reden, Herr. Es war im Winter, in einem schweren, harten Winter, in welchem uns selbst die Rennthiere erfroren, weil sich so starkes Eis gebildet hatte, daß sie nicht durch dasselbe zu dem Moose gelangen konnten, welches ihnen zur Nahrung dient. Wir hatten unsere Zelte an der großen Straße aufgeschlagen, auf welcher die Verbannten nach dem Osten geschafft werden. Der Sturm pfiff schrecklich und wehte den Schnee in dichten Wolken vor sich her. Da kam ein Zug Gefangener und hielt bei uns an, um zu rasten – – –«

»Waren sie in Schlitten?«

»Nein. Damals gab es für sie diese Erleichterung noch nicht. Sie mußten laufen, selbst im Winter. Es waren über sechzig Personen, Verbannte und die Familienglieder, welche ihnen freiwillig gefolgt waren. Sie trugen ihre wenigen Habseligkeiten bei sich. Ein Mann hatte einen Knaben auf dem Arme, den er kaum gegen die grimmige Kälte bedecken konnte. Sein Weib trug ein ganz kleines Mädchen, welches noch nicht ein Jahr alt sein konnte. Die Frau hatte ihre Kleidung vorn geöffnet und hielt das Kind an den nackten Leib, damit es von demselben erwärmt werde. Aber es war doch unnütz gewesen, denn als ich aus Mitleid sie in mein Zelt führte und sie das Kind von ihrem Herzen nahm, war es todt.«

»Ja, todt, ganz starr und todt!« bekräftigte die gutherzige Kalyna, indem sie in ein lautes Weinen ausbrach.

Sie fühlte sich noch jetzt, nach so langer Zeit, aufs Tiefste gerührt, als sie an jene Stunde dachte. Der Fürst fuhr fort:

»Das Herz thut, mir noch heut weh, wenn ich mir das Weib vergegenwärtige. Sie stand ganz starr da, den Blick auf die kleine Leiche gerichtet. Dann stieß sie einen Schrei aus, den ich nie vergessen werde, und sank auf den Boden nieder.«

»Habt Ihr nicht versucht, das Kind wieder in's Leben zurückzubringen?« fragte Steinbach.

»Ja, natürlich haben wir es gethan.«

»Wie denn?«

»Wir haben es über das Feuer gehalten, um es zu erwärmen, und als das nichts half, haben wir es in den Kessel gelegt und mit warmem Wasser begossen; aber auch da blieb es todt.«

»Natürlich! Ihr habt es ganz verkehrt gemacht.«

»Wieso denn?«

»Einen Erfrorenen behandelt man doch nicht mit Wärme, sondern mit Kälte.«

»Herr, Du spaßest!«

»Nein. Ich spreche im Ernst.«

»Wer erfriert, dem geht doch die Lebenswärme verloren. Ist das nicht so?«

»Allerdings.«

»Also muß man ihm Wärme geben!«

»Ja, aber nicht durch Feuer und warmes Wasser; da tödtet man ihn vollends. Was machst Du denn, wenn Deine Nase weiß wird und erfrieren will?«

»Ich reibe sie schleunigst so lange mit Schnee, bis sie die Farbe wiederbekommt.«

»Und wenn Du den Fuß oder die Hand erfrierst, was thust Du dann?«

»Ich stecke sie in Schnee.«

»Warum denn nicht in warmes Wasser?«

»Das würde nichts helfen, sondern die Sache nur schlimmer machen.«

»Nun siehst Du. So hättet Ihr es auch mit dem Kinde machen sollen. Anstatt dessen aber habt Ihr es in's warme Wasser gebracht und es vollends getödtet, wenn es ja noch eine Spur von Leben gehabt hat.«

»Herr, ich denke, nur mit der Nase und Händen und Füßen darf man das machen. Da wird mir doch das Herz leicht, wenn ich daran denke, daß das kleine Mädchen nicht gestorben ist.«

»Ah, es ist wieder erwacht? Es war nicht ganz todt?«

»Nein. Könnte es da noch leben, wenn es ganz todt gewesen wäre. Es war ja unsere Karparla.«

»Ach so! Erzähle weiter!«

»Wir waren freilich Alle überzeugt, daß es todt sei. Der Vater war ganz untröstlich, und die Mutter hatte vor Jammer fast den Verstand verloren. Sie sagte nichts und ließ mit sich machen, was man wollte.«

»Das ist der höchste Grad des Schmerzes gewesen.«

»Die Leute konnten nicht bleiben, denn die Stationen sind ihnen ganz genau vorgeschrieben, und die Kosaken trieben bald zum Aufbruche. Der Mann wollte die Leiche seines erfrorenen Kindes mit sich nehmen; aber der Anführer litt es nicht; er verbot es ihm.«

»Welch eine Grausamkeit!«

»So dachte ich auch. Aber man kann eine Leiche doch nicht stets bei sich führen. Sie muß begraben werden. Darum hatte der Anführer doch vielleicht Recht. Er war auch nicht ganz so grausam, wie es scheinen mochte, denn er erlaubte dem Vater, das Kind noch schnell zu begraben. Es wurde der harte Schnee entfernt, gar nicht weit von meinem Zelte. Aber der Erdboden war so fest gefroren, daß man mit den vorhandenen Werkzeugen kein Grab machen konnte. So begrub man also die Leiche einstweilen nur in den Schnee, und ich versprach, sie später der Erde zu übergeben. Die Kosaken und Verbannten sprachen ein Gebet und zogen dann weiter.«

»Wie verhielt sich die Mutter des Kindes dabei?«

»Um sie war es mir eigentlich angst; aber sie war ganz still; sie that gar nicht so, als ob die Sache sie etwas angehe. Sie hielt die Arme immer so, als ob sie ihr Kind noch auf denselben trage, und sang leise vor sich hin, wie man singt, wenn man ein Kind in den Schlaf singen will.«

»Mein Gott! Sie ist wahnsinnig gewesen.«

»Das dachten wir auch. Aber konnten wir die Sache ändern?«

»Nein.«

»Also sie zogen fort, in den Schneesturm hinein. Es wurde kurze Zeit darauf Abend. Wir saßen um das Feuer und tranken heißen Thee. Wir sprachen natürlich von den ›armen Leuten‹ und bedauerten sie von ganzem Herzen; da – errathe einmal, was jetzt plötzlich geschah!«

»Was kann ich rathen? Erzähle es!«

»Wir hörten Etwas.«

»Nun, was denn?«

»Das wußten wir auch nicht. Erst dachte ich, es heule in der Ferne ein Hund, der sich verlaufen habe und nicht weiter könne; aber bald bemerkten wir, daß die Töne aus der Nähe kamen. Ich ging vor das Zelt. Woher denkst Du wohl, woher die Töne kamen?«

»Jetzt errathe ich es – von der Stelle her, an welcher das Kind begraben worden war.«

»Ja, so war es. Ich eilte hin, scharrte den Schnee gleich mit den Händen fort und sah dann, daß das Kind lebendig war. Es strampelte mit Armen und Beinen und schrie zum Entzücken. Sollte man so Etwas für möglich halten! Es war ein Wunder!«

»Nein, es war kein Wunder. Es läßt sich das sogar sehr leicht, erklären.«

»Da bist Du klüger als ich. Das Kind war todt und begraben. Es wurde wieder lebendig. Kann es ein größeres Wunder geben?«

»Das Kind war nicht todt – – –«

»Wir haben es doch begraben!«

»Ja, lebendig!«

»Heiliger Iwan! Wir werden doch keinen Lebendigen begraben!«

»Und doch habt Ihr es gethan. Es ist nicht erfroren, sondern nur erstarrt gewesen. Durch das warme Wasser habt Ihr es verhindert, daß es erwachen konnte, und das ist freilich ein Wunder, daß es nicht daran vollends gestorben ist. Dann, nachdem es in den Schnee verscharrt worden war, that dieser seine Schuldigkeit grad so, wie wenn Ihr Euch die Nase mit demselben einreibt – das Kind erwachte.«

»Wenn Du es so erklärst, möchte man freilich meinen, daß Du Recht habest.«

»Ich habe Recht. Erzähle weiter!«

»Ich habe ja nichts weiter zu erzählen. Das Kindchen war Karparla.«

»Ich meine im Gegentheile, daß Du nun erst noch die Hauptsache zu erzählen hast. Was thatest Du, als Du das Kind in das Zelt brachtest?«

»Ich gab es meinem guten Weibe Kalyna. Die nahm es an ihr Herz und gab ihm Thee zu trinken und Fleisch zu essen.«

»Einem Kinde von noch nicht einem Jahre! Nachdem es erst vom Scheintodte erwacht war!«

»Ja. Was sollten wir sonst thun.«

»Gab es keine Milch?«

»Rennthiermilch gab es; aber wir dachten, Fleisch sei für einen vom Tode Erstandenen kräftiger.«

»Ihr konntet es ja sofort wieder tödten.«

»O nein. Das Kindchen aß und trank wie ein Alter. Es sah erst ganz blauroth am ganzen Körper. Bald aber färbte sich die Haut wieder weiß, und als nachher auch noch die schönen, hell glänzenden Haare wuchsen, nannten wir das Mädchen Karparla – die wie Schnee Glänzende.«

»Aber die Eltern desselben? An diese mußtet Ihr doch denken.«

»Herr, haben wir auch gethan. Wir haben gedacht, wie sie entzückt sein würden, wenn sie erführen, daß ihr Kindchen noch lebte.«

»Ihr mußtet ihnen das Kind bringen. Ihr wart verpflichtet, es ihnen nachzuschaffen oder nachzusenden.«

»Das wollten wir auch.«

»Habt es aber doch nicht gethan!«

»Wir konnten nicht, denn während der Nacht stieg der Sturm zum Orkane welcher mehrere Tage wüthete. Und als er sich endlich legte, der Schnee viele, viele Werste weit so hoch, daß es ganz unmöglich war, fortzukommen. Wir waren Wochen lang eingeschneit, und als wir endlich wieder reiten konnten und nach jenem Gefangenentransport suchten, konnten wir nichts erfahren. Wir behielten das Kind bei uns und haben es wie unser eigenes Kind gehalten. Nun sage uns, ob wir ein Verbrechen begangen haben.«

»Ein Verbrechen nicht, vielleicht aber eine Unterlassungssünde. Habt Ihr Euch denn später keine Mühe gegeben, die Eltern zu entdecken?«

»O, viele; aber es war vergebens.«

»Wie habt Ihr das denn gemacht?«

»Wir haben alle Leute gefragt, welche uns begegneten.«

»O wehe! Das genügt nicht. Ihr mußtet die Sache bei der Behörde melden; die hätte die Eltern sicher gefunden.«

»Daran haben wir freilich nicht gedacht.«

*


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