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80

»So muß ich, sobald ich die Heimath erreiche, sofort um Avancement bitten,« lachte Steinbach.

»Meinetwegen brauchst Du das nicht zu thun. Mir bist Du gerade so recht, wie Du bist. Aber, Karparla, ich muß dennoch meine Frage wiederholen: Kannst Du errathen, was er ist? Nämlich was er nur ist?«

»Ja,« antwortete die Gefragte. »Ich brauche ja nur in Dein glückstrahlendes Auge zu blicken, so weiß ich es. Er ist –«

»Nun, meine Liebe?«

»Dein – Bräutigam.«

»Ja, ja, das ist er, das ist er. Und Recht hast Du. Ich bin sehr, sehr glücklich.«

»Donnerwetter!« flüsterte Jim seinem Bruder zu. »Hast Du es gehört?«

»Freilich!« nickte Tim.

»Ihr Bräutigam!«

»Möchte ich auch sein!«

»Ein verteufelt passables Weibsbild. Ich gäb gleich einige tausend Dollars, wenn der Priester mir so eine famose Lady ankopuliren wollte!«

»Ich noch viel mehr!«

»Es wird bald Zeit, daß wir uns auch nach so Etwas umsehen.«

»Hm! Schau Dich um! Solche alte Swalker, wie wir sind, dürfen sich die Finger ablecken, aber so eine Frau bekommen sie nicht. Eine alte Mulattin ohne Zähne, ja, die vielleicht.«

»Oder gar eine Schwarze mit Wollhaar und weißen Blatternarben. Pfui Teufel!«

Während die Beiden sich diese Bemerkungen zuflüsterten, hatten die Anderen sich wieder niedergesetzt, Steinbach auf den Ehrenplatz, wie der Fürst es gar nicht anders zugegeben hatte.

»Jetzt, lieber Sam,« sagte er in russischer Sprache, damit die Anderen ihn alle verstehen könnten, »jetzt ist es vor allen Dingen nothwendig, daß Du mir erzählst, was nach unserer Trennung Du mit Jim und Tim Alles erlebt hast.«

»Hm,« meinte der Dicke. »Da kann ich sehr lange erzählen, denn das, was wir gethan und erfahren haben, könnte wohl beinahe ein ganzes Buch füllen.«

»So beginne gleich, damit Du desto eher fertig wirst.«

»Nein,« fiel der Fürst ein. »Meine Brüderchen sollen zunächst essen und trinken, damit ich unserem neuen Gaste beweisen kann, wie willkommen er mir ist.«

»Ich danke!« gegenredete Steinbach. »Ich glaube Dir gern, daß Du gewillt bist, mich freundlich bei Dir aufzunehmen, aber in dem Lande, aus welchem ich stamme, ißt man erst, nachdem man gearbeitet hat.«

»Das sollst Du ja auch hier. Du hast ja gearbeitet.«

»Was?«

»Du bist gereist. Das ist eine gar schwere Arbeit.«

»O nein. Die eigentliche Arbeit erwartet mich erst jetzt, wie Du bald sehen wirst. Ich bitte Dich dringend, erst erfahren zu dürfen, was meine drei Freunde hier erlebt haben. Nachher werde ich mich nicht weigern, von Deiner Freundlichkeit Gebrauch zu machen.«

»Du bist der Gast und ich habe also zu gehorchen.«

»Gut. Also erzähle jetzt, Sam!«

Der dicke Jäger kam dieser Aufforderung nach. Der Fürst, die Fürstin, Karparla und Semawa erfuhren jetzt erst den Zusammenhang alles Geschehenen. Sie unterbrachen den Redner oft mit lauten Ausrufen der Verwunderung.

Steinbach hingegen sagte kein Wort. Er hörte ruhig zu und gab nur hier und da durch ein Kopfnicken zu erkennen, daß der wackere Sam ganz nach seiner Ansicht, also sehr richtig gehandelt habe.

Diese schweigende Zustimmung gab dem Dicken den Muth, zuletzt sogar den Waffen- und Munitionsdiebstahl zu erzählen. Da aber verfinsterte sich das Gesicht Steinbach's.

»Halt!« sagte er, noch bevor Sam geendet hatte. »Ich mag es nicht bis zu Ende hören.«

»Warum?«

»Ich darf es nicht hören. Ich ahne, was geschehen ist. Ihr mögt Eure guten Gründe dazu gehabt haben, aber wenn Du es mir ausführlich erzähltest, so müßte ich Alles aufbieten, das, was Ihr gethan habt, ungeschehen zu machen.«

»Ich sehe aber keinen Grund dazu.«

»Es ist sogar ein sehr triftiger vorhanden, Sam.«

»Den kenne ich nicht.«

»Du wirst ihn sehr bald erfahren. Ich bin nämlich nicht als Privatmann hier.«

»Als was denn?«

»Davon später.«

»Etwa auch als Assessor?«

»Vielleicht.«

»Donnerwetter! Da laufe ich vielleicht gar Gefahr, arretirt zu werden, arretirt und processirt für meinen guten Willen.«

»Das ist sehr leicht möglich.«

»Also schweige ich lieber.«

»Ja, daran thust Du recht. Du hast so Vieles zu meiner vollsten Zufriedenheit gethan, wohl noch viel besser, als ich es selbst hätte thun können, daß ich aus Anerkennung dafür von Deinem letzten Besuche im Regierungshause gar nichts hören will. Du hast mich zum Lobe und zur Dankbarkeit verpflichtet, und so will ich keine Veranlassung kennen lernen, Dich zu tadeln.«

»Sakkerment! Das klingt freilich ganz wie Gerichtsassessor. Schweigen wir also davon. Die Hauptsache ist, daß wir Alle, die wir suchen, am Mückenflusse finden.«

»Ja. Wir müssen natürlich hin und dürfen keine Zeit verlieren. Am Allerliebsten möchte ich, wie die Angelegenheit steht, gleich jetzt aufbrechen und –«

»Nein, Herr Assessor, das darfst Du nicht,« fiel der Fürst schnell ein. »Du mußt, bevor Du von uns aufbrichst, erst meine Gastfreundschaft genießen. Sonst beleidigst Du mich.«

»Gemach, gemach!« lächelte Steinbach. »So schnell komme ich ja auch gar nicht von hinnen. Es ist nothwendig, vorher noch gar Manches zu besprechen und reiflich zu überlegen. Ferner scheint es nur, als ob ich auch noch Einiges genauer kennen lernen müsse und endlich habe ich meine Bagage noch nicht hier, deren Ankunft ich unbedingt abwarten muß. Also werde ich mich wohl wenigstens noch diese Nacht hier verweilen müssen.«

Bei den Worten, daß er Einiges näher kennen lernen müsse, fixirte er Karparla prüfend. Sie sah es und erröthete. Ihr Vater aber enthob sie einer Bemerkung, durch welche sie in große Verlegenheit gesetzt worden wäre, indem er sagte:

»Nicht nur diese Nacht wirst Du hier bei uns bleiben, sondern noch viel länger.«

»Das wird unmöglich sein.«

»O doch, denn Du gefällst mir sehr, mein liebes Söhnchen, Herr Assessor.«

Er wollte ihn nach seiner Weise, nach dem Gebrauche jenes Landes tituliren, welcher erfordert, daß man einen Aelteren Väterchen, einen Gleichalten Brüderchen und einen Jüngeren Söhnchen nennt, und doch wollte er ihm auch die Ehre geben, auf welche Steinbach als Assessor Anspruch hatte; darum nannte er ihn so naiv, aber wohl gemeint, mein liebes Söhnchen, Herr Assessor.

»Auch Du gefällst mir ganz außerordentlich, mein gutes Väterchen,« antwortete Steinbach. »Du hast ein prächtiges Mütterchen und ein reizendes Töchterchen. Darum würde ich von Herzen gern recht sehr lange bei Dir bleiben; aber ich bin gewohnt, vor allen Dingen meine Pflicht zu thun, und darum – horch!«

Er war von einem lauten Geräusch unterbrochen worden, welches sich draußen hören ließ, Pferdegetrappel, Räderrollen, Stimmengewirr, Willkommenrufe und Peitschengeknall.

»Da sind Fremde angekommen,« sagte der Fürst. »Man wird mir gleich melden, wer es ist.«

Er hatte ganz richtig vermuthet, denn einer seiner Tungusen trat ein und sagte:

»Der Kreissecretär ist angekommen und hat Begleitung mitgebracht. Er hat nach der Stadt gewollt, aber ehe er diese erreichte, von uns erfahren, daß der Fremde, den er dort treffen will, hier bei uns ist. Darum hat er die Pferde und Wagen hierher zu uns gelenkt.«

»Ah, da kommen meine Sachen,« rief Steinbach erfreut. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß der Secretär mir so schnell dienen könnte. Bring ihn herein, Brüderchen. Ich will mit ihm sprechen.«

Der Tunguse entfernte sich und gleich darauf trat der Secretär in das Zelt.

Er war ein noch ziemlich junger Mann mit intelligenten, energischen Gesichtszügen, in welchen sich trotzdem ein gewisses Wohlwollen aussprach. Seine Kleidung war die gewöhnliche russische und die Knute, welche an seiner Seite hing, deutete an, daß er ein kaiserlicher Beamter sei, welcher die Berechtigung hatte, seinen Worten durch gewichtige Hiebe Nachdruck zu geben. Er machte eine höfliche, dabei aber doch einigermaßen herablassende Verbeugung und sagte:

»Die heilige Jungfrau gebe Euch Allen einen guten Abend und eine süße Nachtruhe! Herr Steinbach, Du hast mich rufen lassen. Ich hörte, daß Du nicht im Regierungshause abgestiegen seist.«

»Der Fürst der Tungusen hat mir seine Gastlichkeit angeboten, und da meine Freunde bereits bei ihm wohnen, so habe ich mich gern entschlossen, sie anzunehmen.«

»Du hättest auch im Regierungshause Aufnahme gefunden, weil Du einen kaiserlichen Paß besitzest.«

»Die Störung wäre dem Kreishauptmanne doch vielleicht unlieb gewesen. Hier aber weiß ich, daß ich willkommen bin.«

Der Secretär zuckte die Achsel und fragte dann in geschäftsmäßigem Tone:

»Deine Effecten sind angekommen. Wo wünschest Du, daß sie abgeladen werden?«

»Hier vor dem Zelte.«

»Hast Du sonst noch eine Bit– einen Wunsch?«

Er verbesserte das Wort Bitte, welches er hatte aussprechen wollen. Er fühlte sich doch als Regierungsbeamter höher als Steinbach, welcher ihm nur als Privatreisender bekannt war. Desto anerkennungswerther war die Bereitwilligkeit, mit welcher er den sicheren Transport des Eigenthums Steinbach's übernommen hatte. Man erkannte daraus, daß er ein pflichtgetreuer und gefälliger Beamter sei.

»Nein, ich danke Dir,« antwortete Steinbach. »Aber wie ist es gekommen, daß Ihr so schnell angekommen seid?«

»Als Du kaum fort warst, kam ein Zug Jakuten mit frischen Pferden, die sie uns gegen Bezahlung gern überließen. So konnten wir Dir rascher folgen, als wir geglaubt hatten. Willst Du nicht heraus kommen und Dich überzeugen, daß Alles, was Du mir übergeben hast, sich in dem besten Zustande befindet?«

Steinbach mußte dieser Aufforderung Folge leisten. Sam und die beiden amerikanischen Brüder folgten ihm. Auch Semawa ging mit. Sie wollte ihn möglichst wenig verlassen, ihn, den sie so lange, lange Zeit hatte missen müssen.

Bula, der Fürst der Tungusen, wäre sehr gern auch mitgegangen, um zu sehen, wie die Reisebagage eines Europäers eingerichtet sei, doch verbot ihm dies seine fürstliche Würde. Da er jedoch zu sehr Naturmensch war, als daß er seine Wißbegierde hätte vollständig zu beherrschen vermocht, so trat er wenigstens vor sein Zelt hinaus und gab den Befehl, die Lagerfeuer so hell wie möglich zu machen.

Bei dem jetzt erfolgenden Auflodern derselben erblickte man vier Kibitken, das sind leichte Wagen, welche mit den Effecten Steinbachs beladen waren. Dabei wurden von einigen Kosaken eine Anzahl Pferde gehalten, welche auch Steinbach gehörten. Obgleich der Schein der Feuer nicht hinreichte, die Thiere vollständig tageshell zu beleuchten, standen doch bereits eine Menge Tungusen und andere sibirische Nomaden bei diesen edlen Thieren, um dieselben zu bewundern.

Steinbach überzeugte sich zunächst, daß er sein Eigenthum vollständig beisammen habe und ihm nicht das Geringste davon abhanden gekommen sei; dann bezahlte er die begleitenden Reiter und Fahrer in einer Weise, daß sie höchst erstaunt über eine solche Freigebigkeit waren und sich nach ihrer Weise in den überschwenglichsten Ausdrücken bei ihm bedankten. Sodann wendete er sich an den Kreissecretär:

»Du hast mir mein Eigenthum so wohl beaufsichtigt, daß ich Dir sehr dankbar sein muß. Bestimme Du selbst den Preis, welchen ich Dir zu bezahlen habe.«

Der Aufgeforderte schüttelte den Kopf und antwortete:

»Hältst Du mich für eine Dienstperson? Ich habe Dir einen Gefallen gethan, für welchen Du mir keine Bezahlung schuldig bist.«

»Das weiß ich; aber ein Geschenk wirst Du wohl nicht von mir zurückweisen, und da dies in Geld bestehen soll, so bitte ich Dich, mir anzugeben, mit wie viel ich Dir dienen kann.«

Er kannte den Gelddurst und die Bestechlichkeit dieser Art von Beamten und nur darum hatte er diese Aufforderung ausgesprochen. Es zeigte sich aber, daß er sich in dem Secretär geirrt habe, denn derselbe antwortete ihm:

»Herr, wenn Du mir Geld geben wolltest, so würdest Du mich sehr beleidigen. Es freut mich, daß ich Dir einen Gefallen erweisen konnte, und Du solltest mir diese Freude nicht dadurch verderben, daß Du mich mit Anderen, welche über ihre Pflicht hinausgehen, auf gleiche Stufe stellst.«

Da reichte Steinbach dem braven Manne die Hand und sagte:

»Du bist ein Ehrenmann, wie man ihn hier wohl nicht oft findet. Wohlan, ich will Dich nicht mit Geld belohnen; aber ich werde zu Dir kommen, und dann sollst Du sehen, daß ich Dir dankbar sein kann, auch ohne daß ich Dich wie einen Dienenden bezahle.«

Es glitt ein ungläubiges Lächeln über das Gesicht des Kreissecretärs, indem er jetzt antwortete:

»Ich muß jedes Geschenk zurückweisen.«

»Ich werde Dir nichts schenken, gar nichts, aber dennoch werde ich Dir eine Freude bereiten, welche größer sein wird, als Du Dir jetzt zu denken vermagst.«

»Eine Freude? Worüber?«

»Das wirst Du dann erfahren, wenn ich zu Dir komme. Ich werde Dir eine Botschaft bringen, von der Du jetzt noch nichts ahnen kannst.«

»Warum hast Du sie mir nicht bereits mitgetheilt?«

»Weil ich erst vor wenigen Augenblicken selbst davon erfahren habe.«

»So komm. Ich bin am heutigen Tage für Dich zu jeder Zeit zu sprechen, außer wenn ich mich beim Kreishauptmanne befinde, dem ich meine Rückkehr persönlich zu melden habe.«

Er setzte sich auf sein Pferd und ritt nach der Stadt. Es wäre, trotzdem dieselbe so sehr nahe lag, gegen seine Würde gewesen, zu Fuß nach derselben zu gehen.

Jetzt ergriff Sam Steinbachs Arm, zog ihn ein Wenig seitwärts und sagte:

»Ich habe gesehen, daß Sie vorhin Karparla so eigenthümlich anguckten, als Sie sagten, daß Sie noch Einiges erfahren müßten. Was meinten Sie da? Jetzt hört der Fürst es nicht und wir können also davon sprechen.«

»Als Du von dem Kosaken Nummer Zehn sprachst, bemerkte ich, daß Karparla mit größtem Interesse bei Deiner Rede war. Sie ist es auch gewesen, welche Euch gebeten hat, ihn zu befreien. Sollte er ihr etwa nicht ganz gleichgiltig sein?«

»Hm! Sie haben weiß Gott ein Auge, wie ein Adler.«

»Ich vermuthe also richtig?«

»Ja. Er hat sie einmal vom Tode des Ertrinkens gerettet, und nun ist sie ihm gut.«

»Also wirklich eine Liebe?«

»Und er?«

»Sapperment! Wenn er ihr nicht wieder gut wäre, so müßte er ja keine Augen im Kopfe haben!«

»Sind sie einig?«

»Es scheint so. Wenigstens habe ich noch nichts davon gehört, daß sie sich geprügelt haben.«

»Aber ihre Eltern?«

»Davon weiß ich freilich nichts.«

»Nummer Zehn ist ein Verbrecher. Er muß es in ihren Augen sein. Bula ist Fürst. Wird er Ja sagen zu dieser Liebe?«

»Ich weiß es nicht.«

»Nummer Zehn wird verfolgt. Unter gewöhnlichen Verhältnissen ist es ganz unmöglich, daß er der Mann Karparla's werden kann. Darum steht zu erwarten, daß ihre Eltern ganz gegen diese Herzensneigung sein werden.«

»Hm, ja! So müßte man eigentlich denken; aber Karparla besitzt einen sehr festen Character und einen bestimmten Willen. Und ihre Eltern haben sie so lieb und sind so gutmüthige Menschen, daß es dennoch möglich ist, daß sie ihr den Willen thun.«

»Aber wie sollen die beiden Liebenden Mann und Frau werden? Der Kosak darf sich doch nirgends sehen lassen, ohne eingefangen und bestraft zu werden.«

»Ich denke mir, daß der Fürst dennoch Mittel und Wege zu finden wissen wird. Haben Sie von dem Engel der Verbannung gehört?«

»Ja, bereits in Irkutsk.«

»Nun, Karparla ist dieser Engel.«

»Wirklich?« fragte Steinbach im Tone der Ueberraschung.

»Ja, sie ists.«

»Wer sagte es Dir?«

»Sie selbst.«

»So muß sie ein großes Vertrauen zu Dir haben.«

Sam lachte vergnügt auf und antwortete:

»Das meine ich. Ich bin auch ganz der richtige Kerl darnach. Oder etwa nicht?«

»Ja. Wer Dir in das Angesicht guckt, der kann keinen Argwohn gegen Dich haben. Also sie, sie ist der berühmte Engel der Verbannten! Ich habe es mir doch sogleich gedacht, daß dieser Engel über die Hilfe eines ganzen Stammes gebieten müsse, sonst hätte er nicht das ausführen können, was man von ihm erzählt. Natürlich wissen ihre Eltern davon? Das versteht sich. Und sonst noch Jemand?«

»Außer mir wohl schwerlich Einer.«

»Das ist sehr gut. Wenn sie die Beschützerin so vieler entflohener Verbannter ist, so glaube ich nun, daß Kosak Nummer Zehn mit ihrer Hilfe entkommen wird. Und da halte ich es auch für möglich, daß sie den Gedanken hat, sich mit ihm zu verbinden, trotzdem er sich vor den Russen nicht sehen lassen darf.«

»Das meine ich auch. Sibirien ist groß genug. Der Stamm könnte sich leicht eine Gegend wählen, in welcher die Russen nicht mehr zu fürchten sind.«

»Freilich wird nun Alles anders, als sie denkt. Da der Kosak kein Anderer als Georg Adlerhorst ist, so wird er jedenfalls nach Deutschland zurückkehren. Wird sie ihm folgen?«

»Hm! Wohl kaum!«

»Ich glaube auch nicht, daß sie um seinetwillen ihre Heimath und ihre Eltern verlassen wird.«

»Ja, sie kommt da in ein arges Dilemma. Das arme Mädchen dauert mich, denn ich bin ihr wirklich herzlich gut.«

»Das glaube ich. Welchem hübschen Mädchen, welches Sam Bart überhaupt gesehen hat, wäre er nicht gut gewesen!«

»Donnerwetter! Bin ich denn ein gar so ausgezeichnet hübscher Kerl?«

»Das nicht.«

»Ein Don Juan?«

»Ja, aber ein sehr unglücklicher. Es will Dich Keine. Verstanden, Dicker?«

»Na, so schlimm ist es doch nicht.«

»Wenn auch nicht ganz so, aber dennoch schlimm genug.«

»So muß ich mich zu trösten suchen. Aber, jetzt im Ernste gesprochen, ich fühle mich wirklich auf eine ganz ungewöhnliche Weise zu Karparla hingezogen. Ich bin ihr herzlich gut, nicht so, wie ein junger Bursche ein Mädchen lieb hat, sondern es ist eine mehr väterliche Regung, so ungefähr, als ob ich ein Verwandter von ihr sei.«

»Na, sie wird doch nicht etwa eine Cousine oder Nichte von Dir sein!« scherzte Steinbach.

»Das ist freilich unmöglich, obgleich ich in Rußland wohl auch Verwandte habe.«

»Wie kommt das?«

»Nun, ich war nicht der einzige Sohn meiner Eltern. Ich hatte einen Bruder. Sie werden gehört haben, daß vor einigen dreißig Jahren viele Deutsche nach Rußland auswanderten, besonders nach dem Kaukasus?«

»Ich weiß es. Es waren meist Schwaben.«

»Auch Sachsen gingen mit. Unter ihnen befand sich mein Bruder Carl. Er wollte sein Glück in der weiten Welt suchen. Er suchte es im Osten, in Rußland, ich im Westen, in Amerika. Welcher von uns Beiden es gefunden hat, ob er, ob ich? Hm! Aber ich möchte doch gern wissen, ob er noch lebt.«

»Hast Du denn niemals Etwas von ihm gehört?«

»Er hat mir einige Male geschrieben und ich antwortete ihm. Dann kam die Geschichte mit der Auguste! Sie wissen es, daß ich vor Wuth über ihre damalige Untreue nach Amerika ging. Da habe ich keinen Brief mehr bekommen. Ich schrieb ihm zwar noch einige Male, erhielt aber von der dortigen Behörde die Benachrichtigung, daß er nach der Ukraine gezogen sei, Wohin, das wußte man nicht. Seit jener Zeit weiß ich nicht, ob er noch lebt. Also, in Rußland kann ich ganz gut Verwandte haben.«

»Unter diesen Verhältnissen, ja. Aber Karparla geht Dich keineswegs etwas an.«

»Das versteht sich ganz von selbst. Und doch, wenn ich sie mir näher betrachte, so ist in ihrem Gesichte Etwas, so Etwas – Etwas – wie sage ich doch gleich, so Etwas, als ob ich sie früher schon einmal gesehen und gekannt haben müsse.«

»Das kommt im Leben sehr oft vor. Mich freut es außerordentlich, daß sie der Engel der Verbannten ist, denn nun darf ich darauf rechnen, daß ihr Vater mir seine Unterstützung nicht versagen wird.«

»Wollen Sie sich dieselbe erbitten?«

»Ja.«

»Sie meinen also, daß wir die Tungusen brauchen werden?«

»Ganz gewiß. Um den Maharadscha und den Kosaken heraus zu bekommen, reicht zwar mein Einfluß aus, denn –«

»Obgleich Sie nur Assessor sind,« unterbrach Sam ihn lachend.

»Meinst Du etwa, daß ich mehr bin?«

»Hm!«

.

»Du irrst!«

»Na, so bleiben Sie in Gottes Namen Assessor! Ich habe ja gar nichts dagegen. Aber wenn mir Jemand heut sagte, daß Sie ein Fürst oder gar ein Herzog seien, so soll mich der Teufel holen, wenn ich es nicht auf der Stelle glaubte.«

»Das wäre Aberglaube. Also mein Einfluß reicht hier wohl aus, den Maharadscha und auch den Nummer Zehn frei zu bekommen. Aber wir wollen doch den Grafen und auch den früheren Derwisch ergreifen. Dazu bedürfen wir zunächst einer anderen als der russischen Hilfe.«

»Die tungusische?«

»Ja. Ich habe freilich nicht genau wissen können, wo der Maharadscha sich befindet. Noch weniger konnte ich ahnen, daß der Graf und der Derwisch in Sibirien seien. Aber ich hatte doch eine Ahnung, daß ich des Beistandes deiner hiesigen Völkerschaft bedürfe, und darum habe ich reichliche Geschenke mitgebracht, freilich ohne zu wissen, wer dieselben bekommen werde.«

»Ja, zum Beispiel die wunderbar schöne Uniform.«

Er lachte dabei. Steinbach lachte mit und antwortete:

»Nun, wenigstens habe ich mich in Beziehung auf diese Uniform nicht verrechnet. Ich berücksichtigte die Kleinheit der in Sibirien wohnenden Nomaden. Ich konnte mir auch denken, daß der Beherrscher eines hiesigen Stammes bei dem ruhigen, sitzenden Leben dick sein werde. Darum habe ich diese Uniform so zuschneiden lassen, daß sie jedem kleinen, dicken Menschen leidlich passen muß. Ich glaube, daß sie dem guten Fürsten der Tungusen wie angegossen auf dem Leibe sitzen wird.«

»Der soll sie bekommen?«

»Ja.«

»Donnerwetter! Da werden wir freilich eine gewaltige Ehre einlegen, Aber die Fürstin darf nicht leer ausgehen!«

»Nein. Sie erhält Schmucksachen und Seidenstoffe, über welche der guten Dicken die Augen übergehen werden.«

»Bravo! Diese Leute werden ihr Leben für uns lassen.«

»Sodann giebt es Tabak und Tabakspfeifen für den ganzen Stamm. Tabak mehrere Zentner.«

»Das wird ein Jubel, welcher bis zum Himmel reicht!«

»Und Rum, echten, guten, starken Rum, mehrere Fässer.«

»Das ist die Krone der ganzen Geschichte. Rum ist noch nie da gewesen unter den Tungusen. Das ganze Volk wird geradezu verrückt vor Entzücken.«

»Wenn es auch nicht gar so schlimm ausfällt, so weiß ich doch, daß meine Geschenke große Befriedigung hervorrufen werden. Darum bin ich überzeugt –«

Er wurde durch einen lauten Schrei unterbrochen, welcher sich in der Nähe hören ließ.

Semawa war, als sie bemerkt hatte, daß Steinbach mit Sam unter vier Augen sprechen wolle, langsam bei Seite gegangen. Sie betrachtete sich die Pferde Steinbachs und sodann die Wagen. An einem derselben lehnte eine schlanke, hohe Gestalt, zwar in die Tracht des Landes gekleidet aber doch etwas Fremdartiges in der ganzen Haltung zeigend. Das scharf geschnittene Gesicht, von vielen Runzeln durchfurcht, hatte eine braune, hier in Sibirien ganz seltene Farbe. Der Mann bewegte sich nicht und blickte in das Feuer, dessen Flamme ihn beschien. Er glich einer Statue.

Da kam Semawa langsam herbei, leisen Schrittes, so daß sie kaum zu hören war. Dennoch bemerkte er ihr Nahen und wendete ihr das Gesicht zu.

Noch stand sie im Schatten, welchen der nächste Wagen warf. Nun aber trat sie aus demselben heraus und ihr Gesicht war deutlich zu erkennen.

Da war es, als ob eine unsichtbare Hand den Mann um einen Schritt vom Wagen wegreiße. Er erhob die Arme und stieß jenen lauten Schrei aus, durch welchen Steinbach in seiner Rede unterbrochen worden war.

Semawa erschrak. Sie blieb stehen und heftete ihre Augen auf den Mann.

»Allah il Allah!« schrie dieser auf, indem er sich der arabischen Sprache bediente, welche auch die Muselmänner Hochasiens sprechen und verstehen. »Ists ein Wunder? Stehen die Todten auf?«

»Welche Todten?« fragte Semawa.

Er ließ die Arme wieder sinken, behielt aber sonst die Stellung bei, welche sein Entsetzen ausdrückte und antwortete:

»Kalida!«

Semawa trat sofort einen Schritt näher, bohrte ihren Blick in sein Gesicht und fragte:

»Kalida? Kanntest Du sie?«

»Ob ich sie – ob ich Dich kannte? Du bist es ja selbst. O, Allah ist groß, Allah ist allmächtig. Die Todten stehen auf, um sich zu rächen!«

Er sank langsam in die Kniee.

»Ich lebe; ich bin keine Todte,« sagte Semawa.

»Nein, Du bist keine Lebende. Du kommst aus dem Jenseits, um Dich zu rächen. Gnade, o Gnade!«

»Wie heißest Du?«

»Weißt Du das nicht mehr? Ist mein Name Dir in den Herrlichkeiten jenes Lebens verloren gegangen?«

Sie trat ganz nahe zu ihm heran und beugte sich nieder zu ihm. Sie nahm ihm die Mütze vom Kopfe. Sie sah sein geschorenes Haupt, welches er noch heut nackt trug wie in seiner indischen Heimath. Sie sah nun deutlicher den Kopf, den sie in ihrer Kindheit so oft gesehen hatte. Er war alt geworden, sehr alt, dieser einstige Diener ihres Vaters, aber seine Züge waren so charakteristisch, daß sie dieselben jetzt erkannte.

»Nena!« rief sie aus, indem sie seine Mütze aus der Hand fallen ließ.

»Du kennst mich, o, Du kennst mich!« stieß er hervor.

»Verräther!«

»Gnade, Gnade!« bat er, die Arme zu ihr erhebend. »Du bist eine Selige, Kalida. Du kannst mich nicht verdammen. Bitte Allah, daß er sich meiner erbarmen möge!«

»Ich bin nicht Kalida,« antwortete sie.

»Nicht Kalida, das Weib meines Maharadscha? Wer wärst Du sonst?«

»Ich bin Semawa, ihre Tochter.«

Da sprang er, wie von einer Spannfeder geschnellt, vom Boden auf.

»Semawa, Semawa! Allah ist groß!« schrie er laut! »Semawa ist da! Semawa ist gefunden. Sidi, Sidi, öffne Deine Ohren und vernimm die Botschaft, daß – –«

»Still, ich weiß es bereits,« sagte Steinbach, welcher herbeigetreten war und ihm nun beruhigend die Hand auf den Arm legte.

»Du weißt es? Du weißt es?« fragte der Indier.

»Ja, noch eher als Du.«

»Und Du jubelst nicht laut auf, daß alle Welt es hört? Du springst nicht vor Freude und Wonne? Semawa ist gefunden, und Du stehst hier bei ihr, als ob sie nie verloren gewesen wäre!«

Es war ihm anzusehen, daß sein Entzücken ein wirklich aus dem Herzen kommendes sei. Semawa war gerührt davon, obgleich sie ihm so viel Böses zu verdanken hatte.

»Du lebst! Du bist hier!« fuhr er fort. Wo Du bist, muß auch Derjenige sein, der mir so viel zu verzeihen hat. Dein Vater, der Maharadscha. Weißt Du von ihm?«

»Ja,« antwortete sie.

»Lebt er noch?«

»Er lebt.«

»Als Gefangener?«

»Als Verbannter. Du weißt es ja. Du bist es ja gewesen, auf dessen falsches Zeugniß hin er fortgeschleppt und verurtheilt worden ist.«

»Ich habe es bereut, längst bereut und werde Alles, Alles wieder gut machen.«

»Das kannst Du nicht.«

»Ich kann es, ich kann es!«

»Nie!«

»Ich werde beschwören, daß er nicht Saltikoff heißt, sondern daß er der verschwundene Maharadscha von Nubrida ist.«

»Kannst Du ihm und mir die Jahre zurückgeben, welche wir in tiefem Elende verbracht haben? Kannst Du das?«

Bei dieser ernsten, vorwurfsvollen Frage schwand sein Entzücken. Er senkte den Kopf und antwortete:

»Das kann ich freilich nicht. Jetzt sehe ich ein, was ich verbrochen habe. Ich kann weder bei Dir noch bei Allah Gnade finden. Hier, nimm dies! Stoße mir den Stahl in das Herz.«

.

Er zog das lange Messer, welches er im Gürtel stecken hatte, und hielt es ihr hin. Ihr Blick war finster auf den Zerknirschten gerichtet, fiel aber nun auf Steinbach, welcher erwartungsvoll neben demselben stand. Sofort nahm ihr Gesicht einen ganz anderen Ausdruck an. Sie schob die Hand mit dem Messer zurück und antwortete in mildem Tone:

»Es ist mir gesagt worden, daß Du bereut und gebüßt habest. Dir sei vergeben. Möge Allah Dir verzeihen, wie ich Dir verzeihe. Stehe auf.«

Da ergriff er ihr Gewand und zog es an seine Lippen.

»Du verzeihst! Du gewährst mir Gnade! So wird auch Allah nicht mit mir in's Gericht gehen!« rief er aus. »Ich bin meiner schweren Schuld ledig und werde Dir mein Leben weihen. Dir und der Befreiung dessen, dessen Gefangenschaft ich verschuldet habe.«

Alle, welche dieser Scene zugeschaut hatten, waren des Arabischen nicht mächtig. Sie wußten nicht, um was es sich handelte. Doch erkannten sie so viel, daß Nena ein Bittender sei, dessen Bitte Semawa erfüllt habe. Sie wurden gerührt von dem Ausdrucke tiefsten Dankes, mit welchem der Indier sich jetzt von der Erde erhob.

Steinbach nahm die Geliebte bei der Hand, um sie nach dem Zelte zu führen.

»Ich danke Dir!« flüsterte er ihr liebevoll zu. »Fast glaubte ich. Du würdest ihm die erbetene Gnade versagen.«

»Es war mir, als ob ich ihm nicht verzeihen dürfe; aber als ich Dein Auge so erwartungsvoll und ernst auf mich gerichtet sah, mußte ich ihm gnädig sein, ich konnte nicht anders. Möge er sehen, wie er mit seinem Gewissen fertig wird.«

Als sie an das Zelt gelangten, trat von der anderen Seite ein Tunguse heran, um mit dem Fürsten Bula, welcher noch immer vor dem Eingange stand, zu sprechen. Steinbach wollte sich rasch zurückziehen, aber Bula sagte:

»Bleibt hier! Was dieser Mann mir zu sagen hat, das dürft Ihr hören.«

Aber der Tunguse kam doch in Verlegenheit, denn er schüttelte den Kopf und meinte:

»Väterchen, Niemand darf es wissen.«

»So? Warum?«

»Weil es ein Geheimniß ist. Nur Du darfst es erfahren. Du und Karparla, die Prinzessin der Tungusen.«

Karparla stand mit ihrer Mutter dabei. Sie sagte dem Manne:

»Was ich wissen darf, dürfen diese Beiden auch wissen. Sie sind so gut wie meine Schwester und mein Bruder.«

»Aber weißt Du denn, was es betrifft?«

»Nein.«

»Wenn Du es wüßtest, würdest Du mich ganz allein hören wollen.«

»Nun, was betrifft es denn?«

»Die armen Leute.«

Unter dem in ganz Sibirien landläufigen Ausdrucke ›arme Leute‹ sind die Verbannten zu verstehen.

»Was ist mit ihnen?« fragte Karparla.

»Darf ich es Dir denn sagen?«

»Ja. Immer sprich!«

»Gestern kam die Botschaft, daß es einer ganzen Anzahl gelungen ist, aus den gräßlichen Bergwerken von Nertschinsk zu entfliehen.«

»Einer ganzen Anzahl? Wie ist das möglich? Das ist noch nie dagewesen.«

»Wie es ihnen gelungen ist, das weiß man jetzt auch noch nicht; aber sie haben der guten Mila Dobronitsch das Zeichen gegeben, und diese hat mich schleunigst zu Dir gesandt. Dich um Hilfe bittend.«

»Wenn Mila Dobronitsch Dich sendet, so muß ich helfen. Nicht wahr, Vater?«

Der dicke, gutmüthige Fürst zeigte in seinem Gesichte einige Verlegenheit. Es war ihm doch nicht ganz gleichgiltig, wissen zu lassen, daß er sich der entflohenen Verbannten anzunehmen pflege, doch nickte er seiner Tochter zu und antwortete:

»Ja, wir haben die Mila Dobronitsch ja dazu angestellt, daß sie uns stets benachrichtigen soll.«

»Sind die Flüchtigen denn bereits dort angekommen?« fragte Karparla den Tungusen.

»Nein, sie selbst nicht, sondern nur erst die Kunde von ihrer Flucht.«

»Wenn einmal die Kunde da ist, so werden sie auch nicht lange auf sich warten lassen. Wie steht es an der Grenze?«

»Sie ist alarmirt. Sowohl die russischen als auch die chinesischen Wächter sind auf ihren Posten. Es wird den ›armen Leuten‹ dieses Mal schwer werden, sehr schwer, die Freiheit zu erlangen.«

»So müssen wir ihnen eben helfen. Dazu sind wir da. Vater, gieb sogleich den Befehl zum Aufbruche. Wir dürfen nicht zögern!«

»Kindchen, Töchterchen, was fällt Dir ein!« antwortete er. »Wir müssen noch hier bleiben.«

»Warum?«

»Ist denn Alles geschehen, was wir hier zu thun haben?«

»Ja.«

»Hast Du vergessen, daß wir Gäste bei uns haben?«

»Ich habe es nicht vergessen, ich weiß es sogar sehr genau. Und grad weil wir diese Gäste haben, müssen wir baldigst aufbrechen, denn diejenigen Personen, denen sie nachstreben, befinden sich ja grad dort, wohin wir auch ziehen müssen, wenn wir den ›armen Leuten‹ Hilfe bringen wollen.«

»Wie?« fragte Steinbach. »Meinst Du etwa den Mückenfluß, Karparla?«

»Ja.«

»Dorthin werden die Flüchtigen kommen?«

»Ja, und darum müssen wir auch hin.«

»Ihr Alle, der ganze Stamm?«

»Alle Tungusen, welche meinem Vater zu gehorchen haben. Von den anderen Stämmen der Tungusen ist natürlich nicht die Rede.«

»So bitte ich allerdings um den schleunigsten Aufbruch.«

»Du willigst jetzt also ein, daß wir so schnell wie möglich hier fortreiten? Und vorhin warst Du doch dagegen!«

»Jetzt steht es anders als vor noch einer halben Stunde. Ich habe erfahren, was ich noch wissen wollte; meine Sachen sind angekommen und ich habe hier weiter nichts mehr zu thun, als dem Herrn Kreisdirector einen Besuch abzustatten.«

»Der wird bereits schlafen.«

»So wecke ich ihn.«

»Er wird Dir das gewaltig übel nehmen.«

»Darnach frage ich nicht. Er mag sich vorsehen, daß ich ihm nichts übel nehme.«

»Liebes Brüderchen, ich vermuthe, daß Du Dich in ihm verrechnest.«

»Inwiefern?«

»Bist Du ein Russe?«

»Nein, sondern ein Deutscher.«

»Haben die Deutschen dem Russen Etwas zu befehlen, Brüderchen?«

»Nein,« antwortete er, indem er sich Mühe gab, bei dieser naiven Frage des Naturkindes ernst zu bleiben.

»So hast Du also dem Kreisdirector auch nichts zu befehlen.«

»In meiner nationalen Eigenschaft als Deutscher freilich nicht.«

»Und was ist mehr, ein Assessor oder ein Kreishauptmann? Sage es mir doch!«

»Allemal steht der Kreishauptmann höher.«

»So ist er also mehr als Du?«

»Ja.«

»Und Du willst ihn wecken? Thue es nicht. Er könnte sehr zornig darüber werden. Er ist über Vieles, was jetzt geschehen ist, sehr aufgebracht, und es sollte mir leid thun, wenn Du die Thaten anderer Leute zu büßen hättest.«

»Ich danke Dir für Deine theilnehmende Warnung, liebes Schwesterchen; aber ich habe keine Lust, mich vor dem Kreishauptmanne in Acht zu nehmen. Schau, unser Freundchen Sam ist viel weniger als ich, er ist nicht Assessor, sondern nichts als ein einfacher Privatmann. Aber obgleich er nur ein Privatmann ist, also irgend einen Rang nicht besitzt, wirst Du nicht bemerkt haben, daß er sich vor dem Kreishauptmanne gefürchtet hat.«

»Das ist wahr. Auch Deine beiden anderen Freunde fürchteten sich nicht.«

»Du siehst daraus, daß Du in Beziehung auf mich ganz ruhig sein kannst. Ich muß zu ihm, und wenn er schläft, so werde ich ihn wecken. Will er sich das nicht gefallen lassen, so werde ich ja wohl erfahren, wie er die Störung aufnimmt.«

»So gehe wenigstens nicht allein, sondern nimm noch Jemand mit!«

»Das werde ich allerdings thun. Ich bitte sogar Euch Alle, mit mir zu kommen.«

»Alle, wirklich Alle?« fragte sie verwundert.

»Ja, Du, Deine Eltern, Semawa, Sam und auch Jim und Tim.«

»Warum so viele? Warum auch wir drei Frauen mit, die wir Dich doch wohl kaum werden beschützen können?«

»Es handelt sich nicht um meinen Schutz, sondern darum, daß Ihr erfahren sollt, was ich mit ihm zu verhandeln habe. Ich bitte also, Euch fertig zu machen. Ich werde mich nur für wenige Augenblicke entfernen und Euch dann abholen!«

Er ging hinaus zu einer der Kibitken. Er stieg auf den Wagen, öffnete einen darauf befindlichen Koffer, entnahm demselben verschiedene Sachen und stieg dann wieder ab. Nun begab er sich mit diesen Sachen nach dem Zelte, in welchem er vorhin sein Wiedersehen mit Semawa gefeiert hatte. Er band den Eingang von innen zu, um nicht überrascht zu werden.

Das Zelt war noch von vorhin erleuchtet. Die Sachen, welche er aus dem Wagen geholt hatte, bildeten einen vollständigen Militäranzug mit Säbel und allem Zubehör. Er legte seine bisherigen Kleider ab und den Anzug an. Niemand, selbst Sam nicht, hatte von dem Vorhandensein dieser Uniform eine Ahnung gehabt.

Er setzte anstatt des Hutes, welchen er vorher getragen hatte, eine hohe Lamafellmütze auf, welche aber mit einem Ueberzuge versehen war, den er darüber ließ. Dann zog er einen langen, weiten Ueberrock aus grauem Stoffe an, der ihn bis herab auf die Sporen reichte. Der Degen wurde angekoppelt, so daß auch dieser nicht zu sehen war.

Nun verließ er das Zelt wieder, die abgelegten Sachen in demselben zurücklassend.

Die Anderen warteten bereits auf ihn. Da sie vor dem Zelte standen und er also dasselbe, welches erleuchtet war, nicht zu betreten brauchte, und da auch die Lagerfeuer wieder nur noch nothdürftig klimmten, so fiel die Veränderung, welche mit seinem Aeußeren vorgegangen war, gar nicht auf. Alle die vorhin genannten Personen bestiegen die Pferde und ritten nun nach dem Regierungsgebäude.

Als sie dort angekommen waren, sahen sie noch Licht in dem Wohnzimmer. Der Hufschlag ihrer Pferde war gehört worden, denn es trat eine männliche Gestalt an das erleuchtete Fenster, um herabzuschauen.

»Der Kreissecretär,« sagte Steinbach. »Er ist noch beim Kreishauptmanne, bei welchem er sich jedenfalls gemeldet hat. Das ist mir sehr lieb, denn da brauche ich ihn nicht holen zu lassen. Es sind nun alle Personen beisammen, deren Anwesenheit ich wünsche.«

Der Kreissecretär öffnete das Fenster.

»Will Jemand herein?« fragte er.

»Ja,« antwortete Steinbach.

»Wer ists?«

»Steinbach.«

»Ah Du! Ists so nothwendig, daß Du noch in der Nacht kommst?«

»Ich habe morgen keine Zeit dazu.«

Der Secretär wendete sich vom Fenster ab und sprach in das Innere der Stube hinein. Dann rief er herab:

»Und der Herr Kreishauptmann hat jetzt keine Zeit. Das soll ich Dir sagen.«

»Das geht mich nichts an. Ich bitte, zu öffnen.«

»Er will nicht.«

»So ersuche ich Dich, es zu thun. Ich bringe Dir die frohe Botschaft, welche ich Dir versprochen habe. Morgen früh könnte es bereits zu spät dazu sein.«

Dies schien zu wirken, denn der Secretär wendete sich abermals in die Stube zurück, sprach eine Weile mit den in derselben befindlichen Personen und meldete dann herab:

»Auf meine besondere Fürsprache will der Herr Kreishauptmann es ausnahmsweise erlauben. Ich werde also hinabkommen, um Dir zu öffnen.«

Er schien anzunehmen, daß nur Steinbach allein zum Kreishauptmanne wollte. Daß er sich jetzt noch in so später Stunde bei demselben befand, war leicht erklärlich. Als er sich von Steinbach getrennt hatte, um heimzureiten, hatte er in dem Wohnzimmer seines Vorgesetzten Licht bemerkt. Da es eben das Wohn- und nicht ein anderes Zimmer war, so ließ sich mit Gewißheit annehmen, daß der Gebieter von Platowna noch wach sei und sich im Kreise seiner Häuslichkeit befinde. Da es für den Secretär Pflicht war, seine Rückkehr von der Reise so bald wie möglich zu melden, so zögerte er keinen Augenblick, noch jetzt zu seinem Vorgesetzten zu gehen. Er stieg also ab, band sein Pferd an und klopfte.

Der Kreishauptmann befand sich in Gesellschaft seiner Frau und seines Sohnes. Sie hatten noch nicht an's Schlafen gedacht. Sie Alle waren zu sehr erregt von dem Geschehenen.

Zwar waren sie dem Secretär nicht freundlich gesinnt, aber seine Ankunft war ihnen jetzt doch willkommen. Sie hofften von seiner Energie und Ueberlegenheit, von welcher sie innerlich sehr überzeugt waren, ohne dies freilich jemals hörbar auszusprechen und zuzugeben, daß er die Fremden, die ein so ungewöhnliches Benehmen gezeigt hatten, zu Paaren treiben werde. Darum wurde er sehr gern vorgelassen.

Natürlich ging es nun an ein Erzählen, wobei, wie leicht zu denken, Alles so gerichtet und gefärbt wurde, daß der Kreishauptmann Recht haben mußte. Alles, was nicht verändert dargestellt werden konnte, wurde verschwiegen.

Der Kreissecretär war kein Freund von unnöthigen Worten. Er hörte schweigend zu. Erst als die Drei sich vollständig ausgesprochen hatten, stand er auf und ging nachdenklich einige Male in der Stube auf und ab. Dann blieb er kopfschüttelnd stehen und sagte:

»Väterchen, was Ihr mir da erzählt habt, das kann ich nicht begreifen. So Etwas kann doch gar nicht geschehen.«

»Es ist aber doch geschehen!« raisonnirte der Kreishauptmann.

»So muß es anders sein, als Ihr es mir berichtet habt.«

»Gar nicht anders. Wir haben uns ganz genau an die Wahrheit und an die Thatsachen gehalten.«

»Da Du das versicherst, so muß ich es freilich glauben. Aber dennoch ist mir diese ganze Sache im höchsten Grade unklar. Es muß Etwas vorhanden sein, was ich noch nicht weiß, was Du mir verschwiegen hast.«

»Nichts, gar nichts. Ich habe Dir Alles gesagt.«

»So begreife ich Euch nicht. Warum habt Ihr Euch denn das Alles gefallen lassen?«

»Mußten wir nicht?«

»Warum mußtet Ihr?«

»Wegen dem verdammten Passe, den dieser dicke Hallunke hatte, und wegen dem Curier, welcher vorher angekommen war, um mir zu melden, daß ein Reisender Namens Steinbach ankommen werde, welcher mit ganz besonderer Rücksicht aufzunehmen sei.«

»So! Das ist ganz gut. Aber wenn mir ein Mensch noch so dringend empfohlen worden ist, sobald er mich kränkt und fortgesetzt beleidigt, sobald er sich sogar, wie es hier geschehen ist, gegen die von Gott eingesetzte Behörde, gegen den Vertreter des Czaren vergeht, dann nehme ich auf diese Empfehlung keine Rücksicht mehr. Es ist die Pflicht eines jeden Beamten, solche Menschen zu bestrafen. Warum habt Ihr das nicht gethan?«

»Eben wegen ihrer Legitimation, und weil sie keine Russen sind.«

»Das geht mich den Teufel an! Und wenn sie Hottentotten wären, würde ich sie unnachsichtlich bestrafen. Das Völkerrecht ist nicht dazu da, den Menschen die Erlaubniß zu geben, in jedem anderen Lande Thaten zu begehen, welche in ihrer Heimath bestraft werden. Wer gegen die Gesetze sündigt, gleichviel, ob er ein In- oder ein Ausländer ist, verfällt dem betreffenden Strafgesetzbuche.«

»Das klingt ganz gut. Aber diese Kerls machen sich aus dem Strafgesetzbuche so wenig, wie das Pferd aus dem Frosche.«

»Du hast Dich wohl falsch ausgedrückt?« fragte der Kreissecretair lächelnd.

»Wieso?«

»Du wolltest sagen, daß sie sich aus Euch nichts gemacht haben.«

»Oho!«

»Nun, aus dem Strafgesetzbuche müssen sie sich wohl Etwas machen, falls der Beamte die nöthige Energie besitzt, es zur Geltung zu bringen.«

»Meinst Du, daß wir es an Energie haben fehlen lassen?«

»Das meine ich freilich.«

»So irrst Du sehr.«

»Ich kann nicht irren, denn diese Männer laufen ja noch frei herum und müßten sich doch unbedingt in Gefangenschaft befinden.«

»Das ist leicht gesagt. Wer soll sie arretiren lassen?«

»Du natürlich!«

»Schön! Und wenn sie nicht gehorchen? Wenn sie sich nicht einstecken lassen?«

Der Kreissecretair fuhr einige Schritte zurück und machte ein Gesicht, wie es erstaunter gar keins geben kann.

»Was?« rief er aus. »Sich nicht einstecken lassen! Höre ich denn wirklich recht?«

»Jawohl hörst Du recht.«

»So zwingt man sie.«

»Womit?«

»Heiliger Iwan von Ostrowa! Giebt es denn keine Polizei hier!«

»Einige versoffene Hallunken, ja. Wenn man sie braucht, hocken sie in irgend einem Winkel, um ihren Rausch auszuschlafen.«

»So weckt man sie mit der Knute auf. Das werden sie sich merken. Aber auch davon abgesehen – giebt es denn kein Militair hier? Steht nicht hier in Platowa eine ganze Sotnie Kosaken?«

Eine Sotnie ist eine Schwadron oder Kompagnie von hundert Mann. Der Befehlshaber derselben ist der Sotnik oder Rittmeister. Der Kreishauptmann antwortete:

»Kosaken haben wir hier, ja; aber was kann das nützen?«

»Was es nützen könne, fragst Du? Nimm es mir nicht übel, aber ich weiß in diesem Augenblicke wirklich nicht, ob ich verrückt bin oder ob Du im Fieber redest. Um dem Gesetze Respect zu verschaffen, dazu sind sie da. Oder ist das etwa nicht der Fall?«

»Jawohl, dazu sollte das Militair eigentlich vorhanden sein; aber was vermögen unsere Kosaken gegen solche Menschen!«

»Was? Hundert Kosaken gegen drei Ausländer vermögen nichts?«

»Gegen diese Drei wirklich nicht. Die Kerls greifen bei jedem Worte, welches ihnen nicht gefällt, an die Gewehre.«

»Nun, so greifen die Kosaken auch zu den Waffen. Da wird man wohl sehen, wer der Sieger bleibt. Ich möchte diese Menschen, vor denen sich hundert Kosaken fürchten müssen, doch einmal sehen. Ist ihr Aussehen denn gar so schrecklich?«

»Sie sehen ganz so aus wie Straßenräuber und Mordbrenner. Einer von ihnen, der Schlimmste, ist kurz und dick. Die beiden Anderen sind sehr lang und dürr.«

»So! Da hab ich sie doch vielleicht bereits gesehen.«

»Wo?«

»Im Zelte des Tungusenfürsten.«

»Da warst Du bereits heut Abend?«

»Ja.«

»Bevor Du zu uns kamst? Was hattest Du dort zu thun?«

»Ich mußte jenem Steinbach, von welchem Du vorhin sprachst, seine Sachen übergeben.«

»Steinbach? Ah! Du hast den Mann gesehen?«

»Gesehen und auch mit ihm gesprochen.«

»Wo?«

»Auf der Station Boliwa. Er hielt dort mit seinen Wagen und Pferden, deren Beaufsichtigung er mir bittweise übergab, da ich in derselben Richtung reiste.«

»Wie? Du hast ihn bedient?«

»Bedient! Wer hat das gesagt?«

»Du selbst. Du hast seine Sachen beaufsichtigt, ihn also bedient.«

»O nein. Er mußte schnell vorwärts nach hier, nach Platowa, und war daher gezwungen, seine Begleitung, welche ihm nicht so schnell zu folgen vermochte, zurückzulassen. Er bat mich um die Erlaubniß, daß sich dieselbe mir anschließen dürfe. Das ist Alles. Habe ich also seinen Diener gemacht?«

»Nein, wenn Du es so nimmst.«

»Ich habe sogar das Vergnügen gehabt, nicht allein reisen zu müssen.«

»Warum rittest Du nicht sofort mit ihm anstatt mit seiner Begleitung?«

»Weil ein Kreissecretair bei seiner Besoldung sich keine solchen Rennpferde kaufen kann, wie dieser Steinbach besitzt.«

»So ist er reich?«

»Es scheint so.«

»Ist er auch so ein Kerl wie die Drei, welche vor ihm hier angekommen sind?«

»Ich habe an ihm eine wirklich prachtvolle, gebieterische Erscheinung bewundert. Er ist mir vorgekommen wie ein Mann, mit dem nicht zu spaßen ist.«

»Ah! Also doch auch!«

»Was? Ein rücksichtsloser Mensch ist er auf keinen Fall. Er hat mich mit aller Würde und Freundlichkeit behandelt.«

»So! Und jetzt ist er bei dem Tungusenfürsten und hat natürlich Alles erfahren, was hier geschehen ist?«

»Vermuthlich, obgleich er gegen mich kein Wort davon erwähnt hat.«

»Nun, so werden wir morgen jedenfalls Gelegenheit haben, uns ein Urtheil über ihn zu fällen. Gegen Dich ist er natürlich höflich gewesen, weil er Dich um eine Gefälligkeit bitten mußte. Ich vermuthe sehr, daß er morgen ganz andere Seiten anschlagen wird.«

»So schlage ich ganz denselben Ton an wie er. Und was diese drei Menschen betrifft, welche hier in einer so gradezu unbegreiflichen Weise aufgetreten sind, so sollen sie es nur unterlassen, dasselbe an mir zu versuchen.«

»Was würdest Du thun?«

»Ich würde sie festnehmen und auspeitschen lassen, ganz so, wie sie es verdienen.«

»Hm! Schau sie Dir nur erst an!«

»Das ist nicht nöthig. Ich kenne meine Pflicht und werde sie gegen einen Jeden erfüllen, er mag aussehen, wie er nur immer wolle. Aber horch, da höre ich Pferde. Wer mag kommen? Vielleicht ein Courier.«

Er trat an das Fenster und blickte hinab. Dann meldete er:

»Es sind mehrere Reiter. Sie bleiben hier halten. Soll ich fragen, was sie wollen?«

»Ja, frage sie!«

Nun erfolgte das bereits erwähnte Gespräch durch das Fenster. Sodann nahm der Kreissecretair ein Licht und ging hinab, um die Thür zu öffnen.

Als während dieser kurzen Zeit die andern Drei allein waren, sagte der Kreishauptmann:

»Der hat gut Reden. Er weiß nicht Alles.«

»Er wird es aber erfahren. Was thun wir dann?« fragte sein Sohn, der Rittmeister.

»Wir müssen dafür sorgen, daß er es nicht erfährt. Diese drei Kerls müssen verschwinden. Laßt nur den Morgen herankommen, dann werden wir handeln.«

»Und was mag dieser Steinbach wollen?«

»Quartier natürlich.«

»Giebst Du es ihm?«

»Ich muß.«

»Verdammt!«

»Ja, mir ist es ebenso unangenehm; aber es läßt sich nichts dagegen thun. Wehe ihm aber, wenn er etwa glaubt, ebenso rücksichtslos sein zu können wie seine drei Leute. Dann zeige ich ihm die Zähne!«

»Und ich ihm meinen Degen. Es ist gerathen, sich überhaupt gleich vom ersten Augenblicke an gegen ihn so zu benehmen, daß er Respect bekommt.«

»Richtig! Thun wir das!«

»Wir bleiben sitzen. Wir stehen gar nicht auf, wenn er eintritt. Er mag die Suppe ausessen, welche ihm seine drei Kerls eingebrockt haben. Still; er kommt! Sapperment! Das klingt nicht wie nur Einer. Das klingt grad so, als ob eine ganze Schwadron angestiegen käme.«

Ja, es war freilich nicht Steinbach allein. Auch der Kreissekretair hatte sich gewundert, als er anstatt einer volle sieben Personen vor der Thür stehen sah, als er öffnete, darunter sogar dreie weiblichen Geschlechtes.

»Hoffentlich wollen doch nicht diese alle herein?« fragte er erstaunt.

»Alle,« antwortete Steinbach, welcher voran stand und vorsichtig den Fuß auf die Schwelle setzte, damit die Thür nicht zugemacht werden könne.

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich habe nur die Erlaubniß für Dich allein erhalten.«

»Und ich kam nur in der Absicht, mit allen meinen Begleitern hier einzutreten.«

»Diese Absicht geht mich nichts an!«

»Und mich die Erlaubniß nicht, welche Du erhalten hast.«

»So bleibst auch Du draußen!«

Er wollte die Thür schließen, was jedoch nicht ging, weil Steinbach mit dem Fuße dazwischen stand.

»Geh weg!« gebot der Beamte.

»Ich weiche nicht.«

»So zerquetsche ich Dir den Fuß. Oder willst Du Dir den Eingang mit Gewalt erzwingen?«

»Unter Umständen, ja.«

»Also Haus- oder gar Landfriedensbruch!«

»Nenne es, wie Du willst!«

»Weißt Du, was darauf folgt?«

»Ja, nichts.«

»Oho! Du würdest sofort erfahren – – –«

»Unsinn!« rief da der dicke Sam. »Wir wollen von Dir gar nichts erfahren, sondern vielmehr Du sollst von uns hören. Meinst Du etwa, wir hätten große Lust, hier unter der Thür mit Dir einige Dutzend Strümpfe zu stricken? Dazu giebt es keine Zeit. Mach Platz!«

»Nicht einen Schritt! Wer will es wagen, hier einzudringen?«

Er rief diese Frage in drohendem Tone aus und stellte sich mitten in die Thüröffnung, damit Niemand eintreten könne.

»Ich,« antwortete Sam. »Geh zur Seite!«

»Nur über mich hinweg geht der Weg in das Haus.«

»Unsinn! Ueber Dich hinweg! Das fällt uns gar nicht ein. Wir machen uns schon auf andere Weise Platz. Gieb also Raum, liebes Brüderchen!«

»Nein!«

»Nun, so machen wir uns welchen. Komm, hopp Dich! Da, hier stehst Du! Nun schau zu, wie hübsch wir hinein gehen.«

Der Dicke hatte den Kreissecretair bei den Hüften hüben und drüben erfaßt, hoch empor gehoben, sich dann schnell umgedreht und ihn sodann außen vor dem Gebäude niedergelassen. Dort stand nun der Beamte und sah allerdings, daß die sieben Personen nunmehr ungehindert in das Haus traten.

»Donnerwetter!« fluchte er ergrimmt. »Das war der Dicke! Also so treibt er es! Jetzt kann ich fast begreifen, daß es ihm gelingt, die Leute einzuschüchtern. Aber in mir soll er sich im höchsten Grade geirrt haben. Ich arretire die ganze Gesellschaft, sperre sie ein und lasse sie am Morgen auspeitschen.«

Gesagt, gethan! Er rannte über den Platz hinüber nach dem Gebäude, welches als Kaserne diente. Im Wachtzimmer waren die Leute munter. Er ließ schnell noch Mehrere wecken, welche sich schleunigst bewaffnen mußten, und noch waren nicht zwei Minuten vergangen, seit Sam sich an ihm vergriffen hatte, als er auch bereits mit zehn Kosaken die Treppe emporstieg, um die Arretur auszuführen.

Der wackere Sam war, den Anderen voran, in das Wohnzimmer des Kreishauptmannes eingetreten. Steinbach hatte den Letzten gemacht, innerlich höchst belustigt über das resolute Vorgehen des dicken Deutschen.

Als diese sieben Personen eintraten, wollte der Kreishauptmann vor Schreck oder wohl auch vor Zorn aufspringen. Er besann sich aber noch rechtzeitig, daß er ja mit seinem Sohne übereingekommen sei, sitzen zu bleiben. Darum behielt er seinen Platz, machte aber die grimmigste Miene, die ihm möglich war.

»Was wollt Ihr?« fragte er.

»Dich besuchen,« antwortete Sam mit der größten Freundlichkeit.

»Das werde ich mir verbitten!«

»O nein. Du wirst berücksichtigen, daß ich Dir hier diesen Herrn vorzustellen habe.«

Er deutete dabei auf Steinbach.

»Wie heißt der Mann?«

»Sein Name ist Steinbach.«

»Ach so! Was will er von mir?«

Steinbach trat vor. Er hatte seine Mütze nicht abgenommen, sondern auf dem Kopf behalten.

»Was ich von Dir will,« sagte er langsam und mit schwerer Betonung. »Zunächst will ich, daß Du höflichst aufstehest, wenn Du von Leuten besucht wirst.«

»Ob ich daß thue, das kommt ganz auf meinen Gefallen an!« antwortete der Kreishauptmann, indem er das eine Bein gemächlich über das andere legte.

»Und auf die Personen, welche zu Dir kommen. Nicht?«

»Allerdings.«

»Nur wohlan! Ich gehöre zu den Personen, welche gewöhnt sind, höflich empfangen zu werden, folglich wirst Du Dich also erheben.«

»Oho!«

»Sofort!«

»Hast Du etwa die Mütze abgenommen?«

»Vor einem Menschen, wie Du bist, thue ich das freilich nicht. Du aber wirst meinem Befehle augenblicklich nachkommen!«

»Befehl? Mensch, was fällt Dir ein!«

Da trat Steinbach näher an ihn heran, blitzte ihn aus förmlich sprühenden Augen an und gebot:

»Auf!«

Es war nur dieses eine Wort, welches donnernd erklang, aber jetzt konnte der Beamte nicht widerstehen. Er fuhr vom Stuhle empor, als ob er durch einen Flaschenzug aufgerissen worden sei.

»Kreuzdonnerwetter!« knirschte sein Sohn, indem er Steinbach mit wüthigen Blicken musterte.

Dieser aber wendete sich ihm zu und fragte:

»Und wer ist der Laffe, welcher hier noch sitzen bleibt?«

»Laffe?« schrie der Rittmeister. »Das sollst Du mir entgelten. Ich bin Offizier, ich bin der Sohn des Kreishauptmannes, Rittmeister im Dienste des Czaren und Militaircommandant von Platowa.«

»So stehe auf!«

Diese drei Worte waren in einem Tone gesprochen, wie der Rittmeister ihn noch nie gehört hatte. Ohne es eigentlich zu wollen, fuhr er ebenso schnell vom Stuhle auf wie sein Vater.

Da ertönten draußen Schritte. Man hörte Gewehrkolben auf den Boden stoßen, und dann wurde die Thür geöffnet. Der Kreissecretair trat ein.

Er warf einen zornigen Blick in der Stube umher, trat auf Sam zu, legte ihm die Hand auf die Achsel und sagte:

»Mann, Du bist arretirt!«

»Von wem?« fragte der Dicke.

»Von mir!«

Sam machte das eine Auge zu und visirte ihn mit dem anderen vom Kopfe bis zu den Füßen herab, dann brach er in ein lautes, schallendes Gelächter aus.

»Mensch, was lachst Du!« rief der Kreissecretair. »Bist Du verrückt!«

Sam aber drehte sich zu den beiden langen Jägern um und fragte lachend:

»Tim, arretirt, hast Du es gehört?«

» Well!« lachte der Gefragte mit.

»Und Jim, wie kommt Dir das vor?«

»Wundervoll,« antwortete Jim, indem er in das Lachen der beiden Andern aus voller Kehle einstimmte.

»Und zwar von Dem da!« rief Sam, mit dem Finger auf den Secretair zeigend.

»Von Dem da!« secundirte Jim.

»Von Dem da!« stimmte Tim ein.

So standen alle Drei, mit den Zeigefingern auf den Kreissecretair deutend und dabei so lachend, daß der dicke Fürst auch mit angesteckt wurde. In Folge dessen begann seine noch dickere Kalyna auch, zu lachen, daß ihr der Bauch noch mehr wackelte als ihm der seinige. Da konnte Karparla sich nicht zurückhalten; sie lachte mit, und ihre Lustigkeit ging nun auch auf die neben ihr stehende Semawa über, welche sich vergeblich bemühte, ernsthaft zu bleiben.

Draußen vor der offenen Thür standen die zehn Kosaken, die Gewehre bei Fuße. Sie konnten die ganze Stube übersehen. Sie erblickten den ihnen so wohl bekannten Tungusenfürsten und dessen Gemahlin, welche Beide sehr gut bei ihnen angeschrieben waren. Diese zwei dicken Personen lachten, daß ihnen die Thränen in großen Tropfen über die Wangen liefen. Der dicke Sam bildete ebenso wie sie ein urkomisches Bild, seine beiden Kameraden nicht minder. Kosaken sind äußerst gemüthliche Leute. Erst begann Einer von ihnen zu lachen, der Zweite folgte, sodann der Dritte, der Vierte, Fünfte und Sechste, und endlich brüllten alle Zehn aus vollen Hälsen.

So gab es eine Lachfuge, wie sie hier noch nie gehört worden war. Wenn Einer einmal alle Kraft zusammen nahm, um aufzuhören, so wurde er im nächsten Augenblicke wieder in diese Epidemie hineingerissen. Der Bauch that Jedem und Jeder weh, und endlich schrie der dicke Fürst in heller Angst aber immer dabei laut lachend:

»Um Gotteswillen, hört auf, hört auf. Ich kann nicht mehr! Ich zerplatze! Mein Bauch, mein Leib, mein Bauch!«

Er hielt sich den Bauch mit beiden Händen, machte ein beispiellos jammervolles Gesicht und lachte doch immer weiter.

Seine Gemahlin lachte, daß es förmlich pfiff. Sie blickte sich in ihrer Herzensangst nach einem Stuhle um, auf den sie sich setzen könne, denn sie war dem Krampfe nahe. Dort stand Einer, vier Schritte weit hinter ihr. Sie wollte hin; aber das verteufelte Lachen raubte ihr die Kraft. Zwei Schritte konnte sie noch fertig bringen; dann aber war es aus. Sie setzte sich mit einen kräftigen Plumps auf den Boden nieder, so dick und rund wie sie war; aber aus dem Lachen kam sie doch nicht heraus.

»Hilfe, Hilfe! Ich ersticke, ich zerplatze!« schrie sie, und doch lachte und lachte sie dabei immer weiter.

Steinbach wendete eine fast übermenschliche Selbstbeherrschungskraft an, um nicht mitzulachen. Es gab ihm einige derbe Stöße von innen heraus, aber es gelang ihm doch noch, möglichst ernst zu bleiben.

Der Kreishauptmann, sein Sohn und seine Frau standen da, als ob sie der Donner gerührt habe. Sie machten wahre Schafsgesichter.

Der Kreissecretair wußte gar nicht, wie ihm geschah. Es war ihm wie Lachen und Weinen, wie Fluchen und Beten, wie Zanken und Toben zu gleicher Zeit. Seine Mienen spielten in den Reflexen aller möglichen Gemüthsbewegungen. Er wurde bald blaß bald roth und wartete auf eine Lachpause, um dann fürchterlich loszudonnern. Aber diese Pause ließ außerordentlich lang auf sich warten.

Nach und nach, als der lustigen Gesellschaft die Kräfte vergingen und der Athem zu mangeln begann, wurde das Lachen leiser. Zuletzt kamen nur noch einzelne Salven und Stöße zum Vorscheine, und endlich war die allgemeine Abspannung so groß, daß sich nur hier und da noch ein tiefer, tiefer aber schwächlicher Seufzer hören ließ.

»Gott sei Dank!« pustete der Fürst. »Ich schwitze wie ein Braten! So Etwas ist mir noch nicht passirt. Wie ist Dir zu Muthe, meine gute Kalyna?«

»Ich – ich – ich – bin todt!« stöhnte sie als Antwort.

»Wärt Ihr doch Alle daran gestorben!« zürnte jetzt der Kreissecretair. »Ich arretire diesen Menschen hier und erhalte als Antwort ein Gelächter, welches die gröbste Beleidigung der Staatsgewalt enthält. Ich werde Euch dafür nach Noten fuchteln lassen.«

»Fuchteln! Fuchteln! Habt Ihrs gehört?« fragte Sam, indem er sich Mühe gab, nicht abermals in ein lautes Gelächter auszubrechen.

»Ja, gefuchtelt wirst Du, geknutet!« drohte der Secretair. »Und je lustiger Dir das jetzt vorkommt, desto mehr Hiebe wirst Du erhalten. Du hast Dich an mir vergriffen. Nehmt ihn hinaus zu Euch!«

*


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