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Es war einmal ein armer Knabe, der hieß Heinz Dichter. Er liebte nichts so sehr als Träume, Spiel und Märchen. Die ganze Nacht war ihm immer zu kurz für die langen Geschichten, die er sich träumen ließ. Die Geschwister und Kameraden wurden zu bald müde wenn er mit ihnen Soldaten und Räuber spielte, und der schier unerschöpfliche Märchenschatz der Mutter reichte für seine Lust nicht aus. Darum wurde er ihr auch bald untreu und ließ sich von seinem steinernen Hündchen, von seinen Blumenstöcken und von seinen aufgespießten Schmetterlingen unendliche Abenteuer erzählen. Aber er war nicht ganz zufrieden mit ihnen, weil sie zu leise sprachen.
Sein Vater war nur ein armer Schriftsetzer; weil aber seine Mutter in einem gräflichen Hause gedient hatte, wurde er dennoch eines Tages ein Prinz. Als er fünf Jahre alt einmal zur Mittagsstunde im wilden Steinbruch neben dem großen Kleefeld eingeschlafen war, hatte sich ihm ein Pfauenauge auf die Nasenspitze gesetzt und ihm alles erzählt. Nach dem Erwachen hatte er das Pfauenauge gefangen, ihm den zuckenden Leib durchstochen und das schöne Tierchen in seiner Sammlung aufbewahrt.
Ja, er war ein Prinz und nur in der Wiege mit dem Söhnlein des Schriftsetzers ausgetauscht worden. Drüben, hinter den blauen Gebirgen von Indien, wo sein wahrer Vater über viele hundert Tiger und Elefanten und über noch weit mehr Menschen herrschte, saß vielleicht eben jetzt der unechte Prinz bei einem goldenen Bilderbuch und aß dazu Kirschkuchen mit Himbeersaft, während der echte Erbe den Kopf in seine Kissen versteckte und bitterlich weinte.
Als er nun ein Jüngling geworden war und an einem sonnigen Ostertag vor den Toren seines Städtchens umherzog und eben heftig auf eine Meise schalt, welche ihm eine schöne Geschichte aus Sternenland nicht zum zweitenmal bis zu Ende aufsagen wollte, vernahm er plötzlich aus dem Grase ein wundersames Tönen. Eine köstliche Musik erscholl, und dazu sangen feine Stimmchen ein frisches Lied von Kampf und Sieg. Heinz lauschte andachtsvoll. Als der Gesang vorüber war, warf er sich zur Erde nieder und raufte Gras und Blumen aus, um dem hübschen Geheimnis auf die Spur zu kommen. Da krabbelte plötzlich unter dem breiten Blatte eines Löwenzahnes ein stattlicher Zug hervor: vier Männlein, welche das Streichquartett bildeten, und vier Weiblein, welche an ihren bunten Kleidern und großen Hüten als Sängerinnen zu erkennen waren.
Als die Gesellschaft bis dicht an die Nase des sprachlosen Heinz gekommen war, machte sie Halt, der älteste nahm sein Hütchen ab und sprach, während er die Hand mit dem Hute gefällig auf seine Baßgeige stützte:
»Geehrter Freund und Gönner! Wie Sie soeben vernommen haben, verstehen wir uns ganz vortrefflich auf unsere edle Kunst. Leider aber fehlt uns ein sicheres Obdach; hier im Grase sind unsere Damen keinen Abend vor dem Schnupfen sicher, und erst heute nacht hat ein Marienkäferchen das Violoncello greulich beschmutzt. Wir möchten Ihnen deshalb ein Abkommen vorschlagen, welches uns ein sicheres Haus, Ihnen aber, verehrter Gönner, lebenslängliches Vergnügen schafft. Gestatten Sie uns, daß wir unter Ihrem Schädel ein ganz kleines Kämmerchen austapezieren und uns darin wohnlich einrichten. Es soll Ihnen gar nicht weh tun. Wir wollen hineinschlüpfen, schnell wie ein Seufzer und unsichtbar wie der Tod. Zum Dank für Ihre Gefälligkeit wollen wir Ihnen zeitlebens aufspielen, unaufhörlich, Tag und Nacht, denn wir sind die Geisterzwerge, die nicht schlafen. Sie sollen ein rechtes Prinzenvergnügen an uns genießen. Wenn Sie an unserem Singsang für sich allein noch nicht genug haben sollten, so können Sie auch Ihre Freunde zuhören lassen, und Sie werden dann, trotzdem Sie vertauscht worden sind, wie ein Prinz reich, glücklich und berühmt gepriesen werden und die Gunst der Frauen gewinnen.«
Heinz stand starr vor Freude und Entsetzen und wußte nicht, was zu antworten. Als sie aber ihre Kehlen und Instrumente wieder gestimmt und was Neues zum besten gegeben hatten, sagte er schnell zu allem ja. Da wurde er mit Hilfe einiger kräftiger Wiesenpflanzen eingeschläfert; und als er wieder zu sich selber kam, spielten und sangen die Geisterzwerge schon in seinem Kopfe.
Da lachte Heinz und beschloß, kein Mensch sollte von seiner heimlichen Herrlichkeit etwas erfahren. Denn die Musik blieb für alle Leute unhörbar, solange Heinz den König der Geisterzwerge, den Baßgeigenspieler Not, nicht beim Namen rief.
Von nun ab hatte Heinz ein volles Glück. Er horchte auf die Weisen seiner Gäste und machte sich gar nichts daraus, wenn er deshalb in der Schule als zerstreut verschrien war, wenn ihm bei Tisch die besten Bissen weggeschnappt wurden, wenn ihm sein Hang zur Einsamkeit allmählich alle Genossen entfremdete. Niemals wurde ihm das lustige Treiben in seinem Kopfe zu viel. Mochten die Geisterzwerge dort fiedeln und tanzen, er ließ sich nichts merken, horchte stillvergnügt zu und freute sich der Stunde, da er die brave Kumpanei bei sich aufgenommen hatte.
So verging die Zeit. Er hieß nicht mehr der kleine Heinz, man nannte ihn schon den Herrn Dichter und lachte ihn wohl auch aus, weil er kein Gewerbe verstand und das geringe Erbteil von seiner Mutter schnell für ein klein wenig Essen, einiges Trinken und sehr viele Hilfsbedürftige ausgab.
Er selbst aber dachte: »Wer zuletzt lacht, lacht am besten!« Und als das vorletzte Silberstück für den Dank eines verlogenen Strolchs, das letzte für eine Flasche Rheinwein ausgegeben war, da gedachte Herr Dichter des Abkommens mit den Geisterzwergen, und fröhlich rief er laut den Baßgeigenspieler beim Namen: »König Not!«
Da ertönte in seinem Kopfe ein donnerndes Lachen, und in demselben Augenblick erscholl Saitenspiel und Liedersang weithin vernehmbar zu den Menschen.
Heinz Dichter aber fiel vor Schreck zu Boden. Denn jeder Geigenstrich und jeder Liederton tat ihm weh, und wenn die wilde Kumpanei da oben tanzte, so hätte er weinen mögen vor Schmerz und Zorn. Fliehen wollte er vor seinen Peinigern, aber Flucht war umsonst. Unentrinnbar hausten sie unter seinem Schädel; mächtig schön, wie Orgelklang, stark genug, die Toten zu erwecken, geschweige denn, seinen Schlaf zu verscheuchen, erdröhnte ihr Spielen und Singen. Vergebens flehte er um Erbarmen, vergebens bot er sich an, im Tagelohn für die Geisterzwerge zu arbeiten, wenn sie sich anderswo niederlassen wollten. Unbarmherzig jubelten sie weiter, und dann und wann ertönte ein Lachen von König Not dazwischen, so grauenhaft, lustig und höhnisch, daß es dem armen Heinz vor jeder Stunde Leben zu bangen anfing.
Inzwischen aber hatte ein jeder, der in die Nähe kam, seine helle Freude an der prächtigen Musik. Bald hüpften die Kinder munter um Heinz her und sagten die Reime der Lieder jauchzend mit. Bald kamen die Jünglinge und Mädchen, lauschten den Tönen und wiederholten mit Liebesblicken die Zeilen und Strophen. Bald ließen sich gar ernste Männer neben dem Herrn Dichter nieder und merkten seine Sprüche. Alle vergaßen ihre Sorgen in der Stunde, die sie bei ihm zubrachten, und alle dankten ihm mit warmen Worten für seine köstlichen Gaben. Und der Vater, weil er ein kluger Schriftsetzer war, freute sich mehr als alle anderen und rief oft:
»Das hat er von mir!«
Heinz aber fühlte herzbrechenden Zorn gegen die zufriedenen Hörer, welche ihres Weges ziehen konnten, wenn sie die Kunst der Zwerge zur Genüge genossen hatten.
In Verzweiflung sann Dichter über sein Unglück nach. »Reichtum hast du mir versprochen!« schrie er zornig auf, und von seinem Kopfe her tönte die lachende Antwort:
»Frage die Reichsten der Erde, ob sie dich nicht beneiden um deinen Besitz.«
Dichter zerschellte seinen irdenen Krug am Boden und rief: »Und Glück und Ruhm?«
Und wieder ertönte die lachende Antwort im Brummen der Baßgeige:
»In allen Städten und Dörfern preisen sie deinen Namen. Warum suchst du anderswo dein Glück als in der Meinung der anderen?«
Da lachte Dichter endlich mit und sagte bitter:
»So hab' ich auch die Gunst der Frauen, wie du's mir zugesagt. Nur daß das Tosen der Geisterzwerge mich nicht hören läßt, wenn die Geliebte mir ein holdes Wort zuflüstert, und daß die wilde Melodie meine Stimme übertönt, wenn ich ihr herzlich meine Seele offenbaren will. König Not, du bist ein Schelm und Wucherer!«
Heinz wollte dem Vater sein Leid klagen. Der aber mochte sich nicht betrüben lassen in seinem Glücke.
»Du hast mich so glücklich gemacht wie einen König,« sagte er dankbar. »Ich kann jetzt faulenzen und die unverständlichen Bücher selbst lesen, die ich früher mühsam zusammensetzen mußte.«
Da erzählte der Baßgeigenspieler dem Alten:
»Heinz ist nicht dein Kind! Er ist der Sohn eines Königs!«
Und der Schriftsetzer starb vor Gram.
Heinz Dichter faßte einen tiefen Groll gegen die Geisterzwerge. Noch eine Weile ertrug er ihr Wesen in seinem Kopfe; als sie aber immer toller und toller darin rumorten, ging er eines Tages ins Gebirge, wo ein Bergschutt niederfuhr in der Rinne. Wild aufschreiend sprang er vom sicheren Ufer in den Grund hinab, und als der nächste niedersausende Felsblock ihm den Schädel zertrümmerte, fühlte er keinen Schmerz. Er wußte nur, daß König Not mit seiner ganzen Bande in ihm vernichtet war, und in Frieden brachen seine Augen.