Fritz Mauthner
Aus dem Märchenbuch der Wahrheit
Fritz Mauthner

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Dankbarkeit

Da war ein kleines, hübsches, dummes Mädel, dessen Amt es von jeher gewesen war, der Wohltätigkeit die Schleppe nachzutragen.

In einer dunkeln Nacht ging die Dankbarkeit, so hieß das dumme Mädel, durch die Hauptstraße der Stadt, obdachlos, hungrig nach Brot und Liebe, eine hungernde kleine Dankbarkeit. Alle Fenster waren erloschen, nur aus einigen Kellerlöchern dämmerte es trüb und rötlich herauf.

Eine Weibsgestalt, groß und vermummt, schritt dem Mädel entgegen und ließ wie von ungefähr ein Geldstück herabgleiten. Die kleine Dankbarkeit hob es lächelnd auf und blieb ein Weilchen sinnend stehen. Bänder und Äpfel wollte sie kaufen. Dann lief sie schnell hinter der alten Wohltätigkeit her und wollte ihr die Schleppe streicheln: Doch die hohe Gestalt war nicht mehr zu erreichen. So rasch die Dankbarkeit auch sprang, die Wohltätigkeit war immer voraus; und als der Morgen graute, war die verschleierte Frau auf der endlos langen Straße wie verschwunden.

Da ging schreiend hell die Sonne auf. Dort... in Goldbrokat, die Schleppe von schwarzem Samt, einen silbergestickten Beutel in der Rechten, ein Gesangbuch in der Linken, eiserne Handschuhe bis zu den Ellbogen hinauf, so stolzierte die Erscheinung hin, feierlich und würdig. War es die alte Wohltätigkeit?

Bald hatte die kleine Dankbarkeit sie erreicht. Eben wollte sie nach der schwarzen Schleppe fassen, da drehte sich das Weibsbild um, unverschleiert. Schön war es, aber geschminkt, das Haar gefärbt. Aus dem Munde blinkten zwei weiße Wolfszähne. Es hob die Eisenfaust und warf der Dankbarkeit ein paar kalte, harte Goldstücke ins Gesicht, daß die arme Kleine aufschrie vor Leid und daß sie entsetzt davonrannte vor der Wölfin mit den eisernen Händen.

Jetzt fing die Wohltätigkeit an, der Dankbarkeit nachzulaufen.

»Es war Gold!« schrie sie zornig. »Ich bin sogar eine Prinzessin! Du mußt mir die Hand küssen!«

Die Kleine lief, was sie konnte.

Seitdem ist die Wohltätigkeit ganz ohne Scheu, bald singend, bald tanzend, oft wie im Rausch, immer hinter der Dankbarkeit her – und kann sie nicht einholen.


 << zurück weiter >>