Fritz Mauthner
Aus dem Märchenbuch der Wahrheit
Fritz Mauthner

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Die Giftschlange

Eine junge Kreuzotter wollte sich über ihr Schicksal beklagen, wie das junge Leute so an sich haben. Nun ja, sie hatte die Gewohnheit angenommen, mit Gift um sich zu spritzen, so oft sie gereizt wurde; das war ihr eine Erleichterung; und wenn ihr Giftzahn in ehrlichem Kampfe die Beute getroffen hatte, so war das Gift eine angenehme Würze der Speise. Und wegen solcher Gewohnheiten war sie bei allen Tieren verhaßt, auch bei den Menschen. Das war ihr empfindlich, und sie wollte dort ihre Klage vorbringen, wo alle Unzufriedenen und alle Dichter Gehör zu finden hoffen, beim großen Untier.

Das große Untier, ungestaltet und darum den armen Menschen unwahrnehmbar, war nach dem Glauben der Schlangen der Herr des Lebens. Die Kreuzotter wand sich über Erde und durch Wasser, bis sie das große Untier fand.

»Du hast mich mißgeschaffen,« zischte sie vorwurfsvoll gegen ihre Gottheit.

»Das doch wohl nicht,« war die Antwort, »weil ich überall kein Schöpfer bin. Alles Lebendige ist nach seiner eigenen Sehnsucht geworden, ist sein eigener Schöpfer.«

»Unmöglich kann ich mich selbst so gewünscht haben, wie ich bin. Ich muß mich ja vor den schönen Mitlebendigen schämen, die kunstreich geformte Beine und Flügel oder doch wenigstens Flossen haben. Und die Menschen nennen mich häßlich.« »Die Menschen sagen viel. Blick auf mich, wie ich mich jetzt in eine Schlange wandle. Bin ich etwa nicht schön?«

Und das große Untier wandelte sich in eine ungeheure Schlange, die mit den Ringen ihres goldgrün schimmernden Leibes sich um die harten grauen Klippen des Felsens schlang, den Oberkörper wie eine Säule emporreckte und eine blitzende, schimmernde Krone auf dem befehlenden Haupte trug.

»Sie nennen mich nicht nur häßlich, sie nennen mich auch böse. Sie haben Furcht vor mir, und das ist mir unerträglich. Kleine Buben schlagen blindlings mit Gerten nach mir, um mir das Rückgrat zu zerbrechen, bevor ich sie stechen kann. Ich steche gern, das ist wahr; aber mein Gefühl sagt mir, daß ich eigentlich gut bin.«

Das große Untier brummte; es klang wie ein Versuch, das Lachen der Menschen nachzuahmen. »Gut und böse. Menschenworte. Ungültig für uns sprachlos Lebendige. Da sind wir, du und die anderen und ich. Weiß ein jedes nur von sich selber. Gut oder böse ist immer nur das andere, wovon wir nichts wissen. Die redenden Menschen sind dumm; du bist dümmer, wenn du gut heißen möchtest nach Menschensprache; am dümmsten bist du, wenn es dich kränkt, böse zu heißen nach Menschensprache.«

Die junge Kreuzotter legte sich zusammen wie ein flaches Schneckenhaus, züngelte mit Selbstgefühl, barg jedoch dann ihren schwarzen Kopf und die blitzenden Augen unter dem schlanken Leibe und zischte leise: »Aber ich bin doch nun einmal giftig. Es müßte herrlich sein, nicht immer nur Gift zu tragen, sondern Milch oder Datteln.«

»Ganz recht, du hast es gesagt. Du trägst Gift in deinem Zahn, wie die Kuh Milch trägt in ihrem Euter, wie die Palme Datteln trägt auf ihren ziervollen Schultern. So hat jedes Lebewesen seine eigene Auszeichnung ersehnt und erworben. Laß doch die Menschen schwatzen; und wenn auch du reden zu müssen glaubst, so nimm doch nicht immer die ausgelaugten Moderworte des heutigen Tages in den Mund. Urworte schicken sich besser für dich und für mich. Laß dich belehren. Es ist einerlei, ob du es Gift nennst oder Gabe. Jedes Lebewesen hat seine eigene Gabe oder Gift oder Mitgift. Du aber hast die allerreichste Gabe dir erworben, die Gift oder die Gabe des Todes. Mancher an deiner Stelle wäre stolz auf eine solche Begabung oder Kraft.«

Die junge Kreuzotter streckte das schwarze Köpfchen unter ihren Ringen hervor und wedelte mit dem Schwanze wie ein geschmeichelter Hund.

»Das hättest du mir gleich sagen sollen, großes Untier. Das habe ich ja bisher gar nicht gewußt, daß ich begabt bin. Nicht wahr, so begabt wie ein Dichter oder Worteschmied?«

»Du hörst immer nur, was du gern hörst. Wie ihr alle. Die Gift oder die Mitgift des Todes hast du dir selbst angewünscht und angeschaffen. Niemand hat dir eine Gabe oder eine Kraft gegeben, niemand hat dich begabt.«

»Desto besser, wenn ich nicht einmal Danke zu sagen brauche. Ich bin wirklich froh darüber, daß ich so begabt bin. Adieu, großes Untier, ich brauche dich nicht weiter. Ich glaube sogar, daß ich recht hübsch bin. Und recht gutmütig, für eine Kreuzotter.«


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