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Eine Lilientochter hatte die Sehnsucht, sich ganz von der Erde zu lösen.
Sie stammte von einem ausländischen Geschlechte; Goldpunkte begrenzten ihre weißweiß schimmernden Blätter.
»Mutter,« flüsterte die Lilientochter – und es war nicht zum ersten Male, daß sie so flüsterte –, »es ist nicht, weil meine Wurzel einen so häßlichen Namen hat. Zwiebel! Aber es ist wirklich nicht darum! Die Wurzel ist eine Fessel. Ich könnte fliegen, unserer Königin jeden Morgen entgegenfliegen, der Sonne, wenn mein Fuß nicht gefesselt wäre an die Erde.«
»Ja, mein Kind,« sagte dann wohl die Lilienmutter, wie man fiebernde Kinder beruhigt, »mußt nicht glauben, daß ich nicht ähnliche Gedanken hatte. Wie ich noch jung war. Das vergeht wieder. Schlaf nur.«
»Mutter,« flüsterte die Lilientochter wieder, »es ist nicht darum, daß ich nicht fliegen kann. Ich schäme mich nur so. Als ob ich nicht leben könnte ohne die gemeinen, schmutzigen Säfte, die mir aus der Erde durch diese alte Wurzel zufließen. Als ob ich nicht noch weißweißer blühen, mich nicht noch goldreiner schmücken, nicht noch heißheißer duften würde, wenn ich frei umherflöge, allein mit der Königin Sonne, ohne die Wurzelfessel, ohne die ungestalte Erde.«
»Ja ja, mein gutes Kind,« tröstete dann wohl die Lilienmutter. »Ich kenne das. Wenn man jung ist! Sonnenaufgangsgefühle! Es gibt sich schon wieder. Schlaf' nur ein.«
Eines Morgens aber glaubte die Lilientochter, sie müßte; das Herze würde ihr sonst bersten. Sie nahm also ihre ganze Sehnsucht in beide Hände, wandte ihr Antlitz nach Osten der aufgehenden Sonne zu, faßte sich einen jähen Mut, schloß die Augen und riß sich mit einem einzigen starken Ruck von der guten Erde los.
»Das hast du jetzt davon,« sagte die Lilienmutter. »Ich habe es dir doch immer wiederholt. Befrei dich nicht von der Erde, befrei dich nicht von der Zwiebel. Es geht nicht ohne Nahrung. Wir sind nun mal keine Engelsköpfchen ohne Leib.«
Die Lilientochter war wirklich in Ohnmacht gefallen, als sie die Verbindung mit der Erde gelöst hatte. Aber in der Ohnmacht träumte sie. Schön. Himmlisch schön. Die Goldpunkte an den Rändern ihrer Blätter waren durchsichtige Edelsteine geworden. Die Staubfäden ihrer Seele begatteten sich körperlos mit den Sonnenschmetterlingen ihrer Wahl. Und sie stieg empor, immer höher, immer reiner, eine Tochter der Sonne, eine Gespielin der Sonne. Immer höher, immer reiner. Ohne den schmutzigen Erdenrest. Bis ihr schwindelte und sie verwirrt aus ihrer Ohnmacht erwachte.
Da lag die Lilientochter abgerissen neben ihrer Wurzel. Im Sterben. Welk. Und starb. Und ließ sich in unförmliche Erde wandeln von der sengenden Sonne.