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Neunundfünfzigstes Kapitel

Betrübende Enthüllungen und einige sehr artige Symptome von brüderlicher Liebe – nebst viel edler Entrüstung, die gänzlich weggeworfen ist. – Josua Daunton ist entweder ein sehr großer Mann oder ein sehr großer Schurke – vielleicht beides, da die Ausdrücke oft gleichbedeutend.

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Ich hoffe, der Leser hat Josua Daunton nicht vergessen, denn bei mir war's wenigstens nicht der Fall. Da er ganz besonders auf die Gesundheit seines Leibes Bedacht nahm, so trug er Sorge dafür, krank zu bleiben. Die einundsiebenzig Peitschenhiebe, die er noch gut hatte, würde er gerne großmüthig seinem Schuldner erlassen haben, und seine Sehnsucht auf das Guthaben zu verzichten, glich nur dem Verlangen des Kapitän Reud, es zu bezahlen, und dem der sechs Midshipmen, es tilgen zu sehen. Der alte Pigtop nahm sich die Sache besonders eifrig zu Herzen, denn nach Heilung des Schnittes war eine sehr auffallende Schramme zurückgeblieben, die schräg über seine Lippe lief und einem Gesichte, das schon vorher von der Natur nicht sehr begünstigt war, einen höchst possierlichen Ausdruck verlieh. Auf der einen Seite schien ein beharrliches, unheimliches Schmunzeln zu liegen, wie man sich's etwa auf dem Antlitze eines halbbetrunkenen Succubus denken mag; die andere zeigte ein unaufhörliches Wimmern, welches Einen an einen kürzlich gepeitschten Pavian erinnerte.

Ich war der Meinung, daß Daunton wirklich krank sei, denn er hütete seine Hängematte in dem Krankengemache, und Doktor Thompson war ein viel zu gescheidter und erfahrener alter Kriegsschiffler, um sich durch ein verstelltes Leiden täuschen zu lassen.

Den Tag nach Ankündigung meines Arrestes, den ich in würdevollem Müssiggang auf einem der Verschlüsse schnarchend zubrachte, kam der Apothekerjunge zu mir und sagte, Daunton sei viel schlimmer geworden und bitte mich dringend, ihn zu besuchen. Nur mit Widerwillen leistete ich der Aufforderung Folge. Daunton schien sehr krank zu sein; aber dennoch lauerte ein zweideutiges Lächeln in seinem Gesichte, als er mich verstimmt neben sich stehen sah.

Er saß auf einer Ecke der Bank in dem Krankenverschlage und litt augenscheinlich unter dem Einflusse eines Fiebers, denn er zitterte ungemein und war ganz in Decken eingehüllt. Ueberhaupt bot er, ungeachtet der Regelmäßigkeit seiner Züge, einen empörenden Anblick. Es folgte nun nachstehendes sonderbare Zwiegespräch:

»Daunton, ich bin bereit Euch zu hören.«

»Danke Euch, Ralph.«

»Mensch! Ihr mögt vielleicht gehört haben, daß ich ein Gefangener und in Ungnade bin – aber meiner Ehre kann Niemand zu nahe treten. Wißt daher, Schurke, daß ich keine derartige Vertraulichkeit dulde, und wenn ich in der nächsten Minute an der Nocke baumeln sollte. Sprecht achtungsvoll, oder ich verlasse Euch.«

»Mr. Rattlin, ich bitte, sprecht nicht so laut, damit uns nicht die andern Kranken hören.«

»Uns hören, Mensch? Das dürfen und sollen sie. Schurke, können wir Geheimnisse mit einander haben?«

Der glühende Haß, aus dem Auge giftiger Unmacht zuckend, spielte gegen mich in demselben Augenblicke, als der Ton seiner Stimme milder und seine Haltung unterwürfiger wurde.

»Mr. Rattlin, wollt Ihr so gnädig sein und Euch herablassen, mich anzuhören? Es ist zu Eurem eigenen Besten, Sir. Ich bitte, zürnt nicht länger. Ich glaube, daß ich am Sterben bin – wollt Ihr mir vergeben? – Wollt Ihr mir Eure Hand reichen?«

Und er streckte mir seine dünne, zarte Hand entgegen.

»Nein, nein!« tief ich mit allem Hohne der Verachtung, dessen mein Gesicht fähig war. »Geschöpfe wie Ihr seid, sterben nicht – Schlangen haben ein zähes Leben. Für die böswilligen, affenhaften Possen, die Ihr mir und meinen Tischgenossen angethan habt – obgleich ich sie für weit schlimmer halte, als Straßenraub – vergebe ich Euch – aber mit einem Menschen wie Ihr das Zeichen der Freundschaft auszutauschen – nimmermehr.«

»Ralph Rattlin, ich kenne Euch!«

»Unverschämter Schurke, lernt zuerst Euch selbst kennen! Untersteht Euch nicht wieder nach mir zu schicken. Ich verlasse Euch.«

Ich wandte mich um und war im Begriffe das Krankengemach zu verlassen, als mich abermals jener vertrauliche Ton der Stimme, der in dem erschreckten Rufe aus der Laufplanke das Innerste meines Herzens getroffen hatte, anhielt, und die überraschenden Worte, die er laut werden ließ, brachten mich rasch auf's Neue an seine Seite. In jenem seltsamen Tone, der mit meinem Dasein geboren zu sein schien, rief er bestimmt, aber nicht laut:

»Bruder Ralph, hört mich!«

»Lügner, Betrüger!« flüsterte ich ihm leidenschaftlich in das mir zugeneigte Ohr, »mein Herz kann Euch nicht anerkennen – meine Seele verabscheut Euch – und Euer Anblick macht meine Galle steigen. Ihr seid mir ein Gräuel – Ihr, der verächtlichste Lügner, den die Erde trägt.«

»Oh Bruder!« entgegnete er und ein hektisches Roth überflog sein weißes Gesicht, während ein sardonisches Lächeln auf seinen Zügen spielte. »Ihr könnt nun leise genug sprechen. Es ist Schade, daß das Recht der Erstgeburt so wenig auf Seiner Majestät Kriegsschiffen geachtet wird. Mich dünkt, daß Ihr nicht sehr pflichtlich seid, sintemal ich doch zehn Jahre älter bin, als Ihr, und es doch nicht verschmähe, Euch anzuerkennen, obgleich Ihr nur der Sohn von meines Vaters par amour seid.«

Die schrecklichen Worte schoßen mit Eiseskälte durch mein Herz. Ich konnte nicht länger meine zu ihm hingeneigte Stellung behaupten, denn ich fühlte mich schwach, halb ohnmächtig und setzte mich deshalb unwillkürlich an seine Seite. Dies währte jedoch nur einen Augenblick. Dann kam eine wilde Heiterkeit meinem gelähmten Busen zu Hülfe, und laut hinauslachend sprang ich mit dem Rufe wieder auf:

»Josh, du kleiner Landstreicher, komm, trage mich Huckepack – Sohn eines achtbaren Pfandleihers von Whitechapel – wie viele par amours pflegte der würdige, alte Gentleman zu unterhalten? Achtbarer Sprößling eines so hochachtbaren Vaters, der seine Studien mit einem Bischen Landstreichen, einem Bischen Dieberei, einem Bischen Betrug und einem Bischen Fälschung beendigte – ich danke Euch herzlich für die Unterhaltung, die Ihr mir verschafft habt.«

»Oh, mein guter Bruder, täuscht Euch nicht selbst! Ich wiederhole, daß ich ein Landstreicher, ein Dieb, ein Betrüger und ein Fälschner war. Aber wem habe ich diese Schmach zu danken? Euch – Euch – Euch. Und dennoch hasse ich Euch um deswillen nicht sehr. Ihr zeigtet einiges brüderliche Gefühl, als man meinem Rücken die unzerstörliche Narbe der Schande aufdrückte. Ich bin zwar ein Lügner gegen Euch gewesen, aber dies gehörte zu meinem Zwecke.«

»Und ich habe Euch das Vertrauen erwiesen, das einem Lügner gebührt.«

»Wie, noch immer ungläubig, Bruder? Kennt Ihr dies – und dies?«

Er zeigte mir Briefe von auffallender und sehr eleganter Handschrift, die ich augenblicklich erkannte. Die Blätter enthielten etwas gezwungene Liebesergüsse jenes schönen Weibes, der Mrs. Causand, welche ich in einem früheren Abschnitte dieser Lebensgeschichte geschildert habe. Sie sprachen von Ralph – von Ralph Rattlin – und schilderten mit leidlicher Genauigkeit mein eigenthümliches Anslichttreten in der Krone zu Reading.

Es waren drei Briefe. Die beiden ersten enthielten blos leidenschaftliche Versicherungen der Liebe; der dritte sprach dunkel und bezog sich auf mich. Nach Manchem, was in dem glühenden Style unheiliger Liebe gewöhnlich ist, fuhr er, soweit ich mich noch erinnern kann, in folgender Weise fort – »ich habe viel gelitten – viel mit Euch und für Euch. Das Kind ist übrigens jetzt wohl und gut untergebracht. Er befindet sich bei einer achtbaren Frau, Namens Brandon, Rosa Brandon. Eine Entdeckung ist unmöglich. Wir haben die Sache bewunderungswürdig eingeleitet. Das Kind ist blond,« u. s. w. u. s. w.

Trotz meiner Aufregung bemerkte ich doch, daß die Schreiberin von dem Kinde nicht als von dem »ihrigen« sprach, desgleichen auch nicht die Liebe einer Mutter blicken ließ. Dennoch konnte man leicht auf den Glauben kommen, daß sie wirklich die Mutter desselben war, obschon keine zärtliche.

»Geheimnißvoller Mensch! Wer seid Ihr – und wer bin ich?«

»Euer der Schande preisgegebener, verstoßener, aber doch legitimer Bruder. Mehr braucht Ihr jetzt nicht zu wissen. Ich bin zwar schwach von Körper, aber eisenfest in Verfolgung meiner Zwecke. Ihr habt mein Leben vergiftet. Seit Eurer heimlichen Geburt liebte mich unser Vater nicht mehr. Ich will meine Güter zurückhaben – ja, das will ich – sie gehören mir – und nur Ihr steht mir dabei hindernd im Wege.«

»Tiefgesunkener, verzweifelter Mensch! – sogar nach diesem angeblichen Bekenntnisse glaube ich, daß Ihr mich wie die übrige Welt zu betrügen sucht. Ich verstehe nun Manches, was mir früher dunkel war. Mein Leben scheint Euch im Wege zu stehen, und nur Eure Feigheit hindert Euch, es mir zu nehmen. Ihr sagtet mir, Ihr wäret ein Fälscher – diese Briefe sind gefälscht. Mrs. Causand ist nicht meine Mutter und Ihr nicht mein Bruder. Woher habt Ihr sie?«

»Ich stahl sie aus dem Schreibtische unseres Vaters.«

»Ein liebenswürdiger Sohn! Doch ich will mich mit Eurem Lügengewebe nicht länger abmühen. Morgen werfen wir Anker. Ich trete aus dem Dienst und weihe den Rest meines Lebens der Entdeckung meines Ursprungs. Ich will Euren wahren Namen erfahren, will Euren Verbrechen auf die Spur kommen – und die Hand der Gerechtigkeit soll mit einemmale meinen Zweifeln und Eurem Leben der Schmach ein Ende machen. Wir sind Feinde bis in den Tod!«

»Ehrliche Herausforderung und ehrliche Rede. Ich nehme sie von ganzer Seele an. Ihr habt die Hand der brüderlichen Liebe zurückgewiesen, denn bei den grauen Haaren unseres gemeinschaftlichen Erzeugers, sie wurde Euch in brüderlicher Liebe geboten. Wollt Ihr sie nun zum Pfande glühender, unaustilglicher Feindschaft zwischen uns nehmen, wie abgezehrt und welk sie auch gegenwärtig sein mag? Ich habe sie auf jener verhaßten Planke zu Euch erhoben – ich erhob sie vor den Schranken der Gerechtigkeit; aber dennoch wird sie wieder Kraft gewinnen, mein Bruder – da nehmt sie, Sir – und verachtet sie nicht.«

Ich schauderte, als ich dieses Pfand des Hasses entgegennahm. Sein Druck war kräftiger als der meinige, obgleich ich in der vollen Blüthe meiner Jugend stand.

Dieses furchtbare Gespräch war meistens nur flüsternd fortgeführt worden. Dennoch war ich in meiner Erregung oft laut genug geworden, um die Anwesenden daraus entnehmen zu lassen, daß man mich hatte als einen Bruder anerkennen wollen, was ich jedoch hartherzig zurückwies. Die Kranken murmelten unter sich und betrachteten mich mit mißfälligen Blicken.

Nach unserer wechselseitigen Herausforderung trat für mehrere Minuten eine Pause ein. Er kauerte sich wie eine Natter in seine Ecke, und ich schritt auf dem Decke hin und her, während mein Busen von den widerstreitendsten Erregungen schwoll.

»Wenn er wirklich mein Bruder wäre!« dachte ich. Die Idee war mir schrecklich. Ich blieb stehen und sah ihm fest in's Auge, ohne jedoch eine Spur von Theilnahme an ihm zu entdecken. Seine hagere, blasse Schönheit war mir verhaßt, und sein Gesicht bot auch nicht einen Zug, an dem ich nur mit einem Hauche von Liebe hätte hängen können. In seiner Schwäche ließ er sich meine musternden Blicke mit ruhigem Stolze gefallen.

»Daunton,« sagte ich endlich, »Ihr habt fehlgegriffen und Euch, statt ein Werkzeug zu gewinnen, einen Feind und einen Rächer der verletzten Gesetze geschaffen. Im Laufe von achtundvierzig Stunden werde ich in London sein. Ihr könnt mir nicht entrinnen, denn wenn es mich auch hundert Pfund kostete, so sollen die Schweißhunde der Gerechtigkeit hinter Euch dreinjagen, und Ihr werdet in Ketten gezwungen sein, Euer verhaßtes Geheimniß an's Licht zu fördern. Ich bin kein Knabe mehr, und weder Ihr noch der Advokat, der meine Angelegenheiten besorgt, soll länger ein Spielzeug aus mir machen, Ich will wissen, wer ich bin. Gott sei Dank, ich kann noch immer Mrs. Cherfeuil fragen.«

Bei diesem Namen überflog ein Lächeln – nicht länger bitter, sondern tief melancholisch und fast süß – seine weichen Züge, entschwand aber bald wieder. Dieses Lächeln, wie einige Töne seiner Stimme schienen mir so bekannt zu sein. War es eine von zwei Existenzen, deren Bewußtsein die andere nicht ganz auszutilgen vermochte? Ich faßte ihn wieder in's Auge, und das Lächeln war dahin, um einem Blicke herzzerreißenden Schmerzes Raum zu geben. Dann trat eine große, unfreiwillige Thräne in sein Auge. Ich weiß nicht, ob sie niederfiel, denn er hielt seinen Arm so, daß sein Gesicht damit verborgen wurde, und sprach nicht.

Hatte der Elende am Ende doch ein Herz?

Als ich mich abwandte, um mich zu entfernen, erhob er sein Gesicht wieder, aus dem nun jeder liebenswürdige Ausdruck entwichen war. Mit kaltem Hohne sagte er zu mir:

»Darf ich Euch um die Briefe bemühen, Mr. Rattlin, die ich Euch nur zum Lesen einhändigte?«

»Ich werde sie behalten.«

»Steht Euer Codex der Gleichheit so tief, als der meinige? Sie sind mein Eigenthum, und ich habe theuer genug dafür bezahlen müssen. Was sagt denn Euer Gesetzbuch der Ehre zu einem solchen Benehmen?«

»Da, nehmt Eure gefälschten Wische! Wir werden uns in London wiedersehen.«

»Mr. Rattlin vergißt, daß er ein Gefangener ist.«

»Abgeschmacktheit! Die Anklage kann keinen Augenblick aufrecht erhalten werden.«

»Sei's drum. Vielleicht werde ich vor Euch in London sein.«

*

 


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