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Drittes Kapitel

Mein neuer Vater vergißt die rechte Linie, die ihm für sein Leben vorgezeichnet ist. – Ich werde krank – finde mich in eine Kanne und erhalte die Taufe. – Gehe nach Bath und versuche in ersten Proben meine Ueberredungskunst.

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Als ich bei den Brandons mein Unterkommen fand, wurde ausgemacht, daß sie alsbald Reading verlassen und nicht mehr dahin zurückkehren sollten, so lange ich zu ihrer Familie gehöre. Zu diesem Ende wurden ihnen von unbekannter Hand die nöthigen Mittel zugewiesen. Sie begaben sich daher nach Lambeth, weil es dort von Sägegruben wimmelte – ein Vortheil, der jedoch mehr als zerstört wurde durch die übergroße Menge von Kegelgraben. Mr. Joseph Brandon hatte seinem Gewissen Genüge gethan, indem er sich in der Nachbarschaft besagter Sägegruben niederließ – er hatte wenigstens eine Richtung nach den Pfaden des Gewerbfleißes – aber so lange er für mich jährlich einundachtzig Pfund achtzehn Schillinge zog, zog er es immer vor, die neun Kegel fallen zu sehen oder fallen zu machen, statt auf einem schmalen Brette eine mit Kreide vorgezeichnete Linie zu zersägen. Dies war nicht die Lebenslinie, die ihm in Wirklichkeit vorgezeichnet sein konnte, und so traf es sich dann, daß er am dritten Tage seiner Niederlassung zu Lambeth, als er ausging, um Arbeit zu suchen, und durch Stangate-Street hinunterkam, in die Gurgelschneidergasse gerieth, bis er, nachdem er alle Drehkreuze zurückgelegt hatte, in den zwei lustigen Brettschneidern anlangte, um daselbst den Dritten zu spielen. In seinem Spähen nach Beschäftigung fand er es einen ganzen Monat lang unmöglich, über diesen Platz hinauszukommen.

Es war ihm jedoch nicht lange gestattet, der große Mann unter seinen Gewerbsgenossen zu sein. Lag der Grund vielleicht in dem Umstande, daß Mrs. Brandon ihre nährenden Kräfte überschätzt oder daß ich durch die unfreundliche Witterung während der drei Reisen an meinem Geburtstage gelitten hatte – möglich auch, daß ich von Natur aus zart konstituirt war, oder daß alle diese drei Ursachen gemeinschaftlich wirkten – kurz, ich gerieth in einen sehr bedenklichen Zustand, und ehe noch der dritte Monat verflossen war, sah ich mich zu einer abermaligen Wanderung genöthigt.

Obgleich wir nicht wußten, von wem, waren sowohl ich, als Mrs. Brandon, ohne Unterlaß bewacht, und schon am zweiten Tage meiner Ankunft in Lambeth fand ein sehr geschickter, in der Nähe wohnender Arzt unter einem oder dem andern Vorwände Gelegenheit, sich bei meiner Wärterin einzuführen und eine ungemeine Zuneigung zu dem kleinen, possierlichen, winselnden Stück Sterblichkeit zu fassen, das in meiner Wenigkeit personifizirt war. Ich war um jene Zeit so ungemein klein, daß ich, auf die Gefahr hin, kindisch zu erscheinen, nicht umhin kann, zu berichten, wie mich Joseph Brandon einmal bis an den Kopf in eine Quartkanne tauchte. Freilich konnte nur Joseph Brandon oder ein Brettschneider auf einen so schmutzigen Einfall kommen. Ich habe nie erfahren, ob die Kanne mit Getränk gefüllt war, muß aber doch dieser unbesonnenen Handlung die sehr plebejische Vorliebe zuschreiben, die ich für das Doppelbier unterhalte, und die ich sogar in diesen Tagen der französischen Sitten und der französischen Weine nicht zu besiegen vermag.

Meine Gesundheit war nun so bedenklich geworden, daß eines Tages ein bloß mit E. R. unterzeichneter Brief mit dem Auftrage einlief, ich solle ohne Zögerung getauft werden; für die Kosten waren fünf Pfund beigeschlossen. Das Schreiben bemerkte ferner, Mrs. Brandon solle zwei achtbare Personen als Taufzeugen beiziehen; auch werde sich an diesem und diesem Tage, zu dieser und dieser Stunde ein Frauenzimmer in der Lambethkirche einfinden, welche die Stelle meiner Pathe vertreten wolle. Ich solle Ralph Rattlin heißen und, wenn ich am Leben bleibe, bis aus weitere Weisung als ihr eigenes Kind gelten, auch zu diesem Ende den Ramen Ralph Rattlin Brandon führen. Da man zwei anständige Personen brauchte, so hielt sich Joe Brandon, der seit ein paar Monaten nicht gearbeitet hatte, kraft seines Müssigganges, für berechtigt, sich selbst dazu zu zählen, da er ja ohnehin auch Stulpenstiefel trug. Der andere Taufzeuge war ein herabgekommener Fischhändler, Namens Ford, ein Pensionär der Fischhändler-Kompagnie, in deren Armenhaus zu Newington er nachher starb. Der alte Ford war ein jämmerlicher Tropf – boshaft von Natur, trunkliebend aus Gewohnheit, und voll Reue aus Methodismus. So war denn seine Zeit gleich getheilt zwischen Sünde, Trunkenheit und Zerknirschung. Sogar sein Schlaf war voll Sünde, denn in seinem unruhigen Schlummer pflegte er jede Nacht durch gotteslästerliche Reden das ganze Haus wach zu halten. Als ich in einer Miethkutsche nach der Kirche gebracht wurde, bemerkte mein geehrter Pathe Ford, »es wäre doch recht angenehm, wenn ich vor ihm in die Hölle käme, denn er sei überzeugt, daß ich zur Sünde geboren sei – ein Kind des Zornes und ein Erbe von Satans Königreich.« Diese bittere Aeußerung weckte sogar den Zorn meiner sanften Pflegerin, und sie zerfleischte ihm beide Seiten seines Gesichts dermaßen mit ihren Nägeln, daß die Spuren noch sichtbar waren, als man ihn neun Jahre nachher zu Grabe trug. Aber dies ereignete sich in der Kutsche, als wir nach der Kirche fuhren. Ford hatte sich bereits für seine kirchliche Pflicht vorbereitet, indem er sich durch sein Lieblingsgetränk, Wachholder, halb betrunken gemacht, und es wurde nun nöthig, die andere Hälfte nachzuholen, um ihn in den Stand zu setzen, die Feierlichkeit zu erstehen. Meine Wärterin hatte das Gesicht meiner Mutter nie recht sehen können; denn als sie bei meiner Geburt mit ihr zusammen getroffen, hatte die beiderseitige Aufregung, und das verdunkelte Zimmer Mrs. Brandon verhindert, sie so in's Auge zu fassen, um sie nachher wieder zu erkennen. Als daher unsere Gesellschaft an dem Thore des Kirchhofs ausstieg und in einiger Entfernung sich eine tief verschleierte Dame gleichfalls aus einem Wagen heben ließ, wußte meine Pflegemutter nicht, ob sie dieselbe je zuvor gesehen hatte. Bei religiösen Feierlichkeiten bin ich überhaupt sehr unglücklich gewesen. Der alte Ford bot bei dieser Gelegenheit einen schrecklichen Anblick; sein Gesicht strömte von Blut, und in seiner Trunkenheit mußte er von Brandon geführt werden, der sich diesmal wenigstens sowohl im Aeußern, als in seinem Benehmen, anständig aufführte. Als der Geistliche sah, in welchem Zustande sich Ford befand, so weigerte er sich, in der Ceremonie fortzufahren. Der Küster trat deßhalb für ihn ein und der Trunkenbold wurde zur Kirchthüre hinausgeführt. Die Feierlichkeit nahm ihren Fortgang und die Dame schien eifrig zu vermeiden, ihr Pathchen anzusehen. Ich wurde einfach Ralph Rattlin getauft. Die Dame schrieb ihren Namen zuletzt in das Buch, das dann augenblicklich von dem Küster entfernt wurde. Sie drückte eine Guinee in seine Hand, und nun beugte sich zum erstenmal ihr verschleiertes Gesicht über mich. Ich muß damals erbärmlich ausgesehen haben, denn kaum hatte sie mich betrachtet, als sie einen bitterlichen Schrei ausstieß, sich an den Wänden der Kirchstühle hielt, und so langsam das Gotteshaus verließ. Zwei oder drei Personen, welche zufälligerweise zugegen waren, wie auch Mr. und Mrs. Brandon, traten vor, um ihr Beistand anzubieten, aber der Geistliche, der zuvor ein Gespräch mit ihr gehabt zu haben schien, bedeutete ihnen, davon abzustehen. Das Ganze war überhaupt eine höchst traurige Geschichte. Man hatte dem alten Ford, nachdem er die Kirche verlassen, wieder in den Wagen geholfen, und Joe Brandon, der entweder billigermaßen über sein Benehmen aufgebracht, oder vielleicht ärgerlich über den Umstand war, daß er das Gesicht meiner unbekannten Pathin nicht gesehen hatte, zerdrosch auf dem Heimwege den alten Trunkenbold dermaßen, daß Mrs. Brandon fast in Krämpfe verfiel und Ford eine ganze Woche das Bett hüten mußte. Wenn ich an die Art denke, in welcher ich die heilige Taufe erhielt, so hätte ich gute Lust, die Handlung, obgleich ich die erstmalige nicht gerade eine verstümmelte nennen kann, aufs Neue an mir vollziehen zu lassen; aber dann schrecken mich wieder die Kosten.

Alles war nun in emsiger Bewegung, um von Felix-Street in Lambeth nach Bath zu übersiedeln, wo ich jeden Morgen in eine Quelle getaucht werden sollte, die in dermaliger Zeit sehr berühmt war. Der alte Ford wurde zurückgelassen. Zu Bath verblieb ich drei Jahre, während welcher Joe Brandon nichts arbeitete und sich selbst beredete, daß er nun wirklich Gentleman sei. In meinem dritten Lebensjahre starb meine Milchschwester, die kleine, kräftige, rothbäckige Marie, und der schwächliche, verkümmerte und welke Zweig lebte fort. Dieser Todesfall machte mich meiner Pflegemutter nur um so theurer, und sogar Joseph faßte, obschon nur aus Eigennutz, einige Liebe zu mir. Er wußte, wenn ich zu Grabe getragen wurde, müßte er wieder arbeiten; deshalb versah er persönlich an mir die Funktion einer Wärterin, indem er mich nach dem Brunnen nahm und Niemand anders gestattete, mich einzutauchen. Als ich älter wurde, erzählte er mir oft, wie ich gebeten, gefleht, all' mein Spielzeug und zahllose Küsse angeboten habe, wenn er mich nur an diesem einzigen Morgen nicht in das kalte Wasser tauchen wollte. Auch sprach er von einem gewissen Doktor Buck, der nach der Weise des Lambether Arztes gleichfalls eine wunderbare Zuneigung zu mir gefaßt, Recepte für mich geschrieben, ferner mir Arznei und Portwein geschickt habe – Alles aus reiner Menschenliebe; ich hätte übrigens diesen Doktor Buck mit seinem schrecklichen »Noch einmal eingetaucht, Brandon,« durchaus nicht leiden können. Doch dies sind Dinge, die längst aus meiner Erinnerung entschwunden sind.

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