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Eine Versöhnung. Es wird ein Spaziergang vorgeschlagen und ein Mann in die Erde gepflanzt. – Letzterer verliert die Geduld. – Ralph wird endlich als Reffer ausgestattet.
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Zwei Tage standen Mr. Rip und ich nicht auf dem Sprechfuße. Am dritten brachte mir ein Mr. Barnard eine Schiefertafel voll Plus und Minus x, y, z, nebst anderen Buchstaben des Alphabets in der liebenswürdigsten algebraischen Verwirrung.
»Trage es nur zu Mr. Riprapton,« sagte ich.
Der Junge nahm die Tafel, und der mathematische Lehrer betrachtete sie mit wahrhaft erbaulicher Gravität.
»Bringe es Mr. Rattlin – ich habe keine Zeit,« lautete das Resultat seines Nachdenkens.
Mr. Barnard kam wieder zu mir.
»Das ist Sache des Lehrers,« sagte ich.
»Es nützt nichts, wenn ich es ihm bringe; er versteht selbst nichts davon.«
»So trag' es zu Mr. Cherfeuil und sag' ihm dieß.«
Dieser Rath wurde von der am meisten dabei betheiligten Partei vernommen. Mr. Riprapton rief daher den Knaben zu sich und gab ihm ein Billet an mich, das voll Freundschaft, Entschuldigung und Bedauern war: zum Schlusse bat er mich angelegentlich, die Sache mit Mrs. Causand wieder auszugleichen und die Summe auf der Schiefertafel in's Reine zu bringen. Ich war noch immer ärgerlich und erwiederte, daß es sehr undankbar sei; da ich übrigens bald abreisen und ihn vielleicht nie wieder sehen werde, so wolle ich mir die mir angebotene Versöhnung gefallen lassen. So weit war Alles gut. Ich theilte Mrs. Causand das Vorgefallene mit und vermittelte ihre Vergebung, denn ihr Zorn schloß ihn von vielen Bequemlichkeiten aus, da er sich genöthigt sah, seinen Thee und sein Nachtessen einsam in dem Schulzimmer einzunehmen. Sie willigte ein, wie sie überhaupt fast Alles that, um was ich sie bat, und am Nachmittag führte ich ihr den reuigen Händedrücker vor. Ihre natürliche Gutmüthigkeit und Leutseligkeit beruhigte ihn bald wieder und seine Liebesworte strömten so geläufig, wie nur je.
Wir machten den Vorschlag zu einem Spaziergange, und begannen, von einem halb Dutzend der älteren Knaben begleitet, auf der Almande umherzustreifen. In Folge irgend einer Ungeschicklichkeit nahm das Gespräch eine ärgerliche Wendung, unser kürzliches Mißverständniß betreffend, und ich konnte mir's nicht versagen, zu wiederholen, was ich in meinem Billet ausgedrückt hatte, daß nämlich Herr Rip sehr undankbar gewesen sei, während ich ihn doch aus so vielen Schwierigkeiten herausgewunden habe. Auf diese Behauptung, die noch obendrein vor der Dame stattfand, fing er Feuer und zog sie geradezu in Abrede. Ich war zu stolz, um die vielen Beistandsproben, die er von mir erhalten, aufzuzählen, und versank in ein finsteres Schweigen, während mein Gegner in demselben Grade geschwätzig wurde. Meine schöne Begleiterin fand Gefallen an dem Zwiste und begann mich zu necken.
»Laßt dies gut sein,« sagte ich. »Ich wette eine Krone, daß er mich wieder um Hülfe angehen wird, ehe eine Woche vorüber ist.« Die Wette wurde bereitwillig angenommen und Mrs. Causand wollte gegen mich einen kleinen Einsatz halten, was ich ebenfalls annahm. Ich gab dann absichtlich dem Gespräche eine andere Wendung, und als wir in einem engen Bergeinschnitte anlangten, rief ich:
»Rip, wenn Ihr mir fünfundzwanzig Ellen vorgeht, so wette ich abermals eine Krone, daß ich Euch mit je drei Hüpfern und einem Schritte auf hundert Ellen aussteche.«
»Es gilt! es gilt!« rief der Unterlehrer in freudigem Kichern über den Gedanken, seine Bravour so triumphirend vor der blühenden Wittwe zeigen zu können. Der Boden wurde gebührend abgeschritten und das Ziel festgesetzt, während mein Gegner voll Leben und Heiterkeit seinen geläufigen Unsinn in's Ohr der Dame goß. Ich trug Sorge dafür, daß unsere Rennbahn in der Mitte von einer Stelle durchschnitten wurde, auf der einige Binsen wuchsen. Nun war Riprapton ungemein gewandt, in dieser Weise vorwärts zu kommen. Er pflegte mit seinem fleischernen Beine drei furchtbare Hüpfer zu thun und dann das hölzerne zum Schritte anzusetzen; dann kamen wieder drei lebendige Hüpfer und ein todter Schritt, der gewissermaßen den Mann nach der vorhergehenden Anstrengung ausruhen ließ.
Nach Bereinigung aller Präliminarien brachen wir auf, und ich nahm natürlich meine fünfundzwanzig Ellen zum voraus. Das Schauspiel war so eigenthümlich, daß sich Mrs. Causand vor Lachen kaum zu halten vermochte, während die Knaben jubelnd riefen:
»Hol aus, Ralph!« – »Recht so, Stelze!« – »Der Humpler wird ihn ausstechen!«
In Mitte dieser ermuthigenden Rufe traf ein, worauf ich gerechnet hatte. Ehe wir die halbe Entfernung zurückgelegt hatten, war Rip schon dicht hinter mir; aber siehe! nach drei gigantischen Hüpfern, die er mit einem in einen Pantoffel umgewandelten Siebenmeilenstiefel verrichtet zu haben schien, gerieth er bei dem Schritte mit seinem Stelzbeine unter die Binsen. Da der Boden dort feucht und moorig war, so sank er tief ein in den klebenden Boden und blieb so festgebannt, wie Lots Weib. Was mich betrifft, so nahm ich zuvörderst daraus Bedacht, das Ziel zu erringen und die Wette zu gewinnen; dann aber sammelten wir uns um den Mann, der also fest in seiner Muttererde stack. Während Mrs. Causand die Thränen über die Wangen rannen und damit den Beweis lieferten, daß ihre Farbe ganz natürlich war, bemühte sie sich die Miene des tiefsten Mitleids anzunehmen, worin sie jedoch alle Augenblicke durch ein unwillkürliches Lachen unterbrochen wurde. Mr. Riprapton bot einen so jämmerlichen Anblick, wie nur irgend ein Elender am Schandpfahle, und sein bleiches Gesicht wandte sich mit einem unwiderstehlich lächerlichen Ausdrucke des Flehens bald an den Einen, bald an den Andern.
»Es thut mir leid, sehr leid,« sagte die Dame, »Euch so bleich – ich möchte fast sagen, so lidiv zu sehen; aber 's ist auch kein Wunder, armer Mann, da Ihr einen Fuß bereits im Grabe habt.«
Der Federschneider stöhnte im Geiste.
»Sagt mir auch,« rief ein Schulknabe, der einen alten Eulenspiegelschwank auf die Gelegenheit anpaßte, »warum gleicht Mr. Riprapton einem Bretternagel?«
»Weil er fest steckt,« jubelten fünfzig eifrige Stimmen in einem Athem zur Antwort.
Der Rechenmeister warf dem Delinquenten einen Blick zu, der in seiner Totalsumme ausdrückte: »Du sollst nicht lange auf der Sollseite unseres Buches stehen.«
»Aber was ist anzufangen?« lautete nun die Frage.
»Ich fürchte,« versetzte ich, »wir müssen ihn ausgraben, wie einen abgestorbenen Baum oder einen alten Laternenpfahl.«
»Ich fürchte, 's ist der einzige Weg,« entgegnete der Lehrer zaghaft; »ich mußte schon einmal in dieser Weise aus dem Sumpfe von Ballynawashi gerettet werden.«
»Dann seid Ihr also ein Irländer?« sagte die Dame.
»Ich war nur auf Besuch dort, Madame,« antwortete der Festgebannte mit ziemlicher Herbe.
»Aber in der That,« versetzte sie, »wenn ich aus dem gegenwärtigen Anlaß einen Schluß ziehen darf, so müßt Ihr dort lange festgehalten worden sein.«
»Ich hoffe, er wird sich doch die Füße nicht erkälten,« meinte ein einfältiger, lippenhängender Knabe.
Der Lehrer warf ihm einen Gluthblick zu.
»Aber wahrhaftig,« meinte die über alle Maaßen belustigte Wittwe, »wenn ich daran denke, so befällt mich eine ernstliche Unruhe. Gesetzt, dieses Stück Holz, das so hübsch in den feuchten Boden gepflanzt ist, faßte Wurzeln und breitete seine Fasern aus. Barmherziger Himmel! Nur der Gedanke, daß Ihr zu vegetiren anfangen könntet. In der That, Ihr seht schon ganz grün um die Augen aus.«
»Herr Je!« flüsterte der Schalk, »wenn er zu wachsen anfinge, würde er zuverlässig eine Platane werden, denn er ist wahrhaftig ein sehr platter Mann.«
Der Linialschwinger rüttelte furchtbar mit dem ganzen Körper, aber völlig ohne Wirkung.
»Aber meint Ihr nicht, Ralph,« sagte die Dame, »es sollte, da es doch bereits dunkelt, etwas für den armen Gentleman gethan werden? Er wird zuverlässig den Schnupfen kriegen, wenn er die ganze Nacht über hier bleibt. Wie wär's, wenn Ihr mit Euern Schulkameraden eine Art von Hütte über ihm erbautet? Ich würde selbst die Zweige zutragen helfen, denn wenn Einer nicht nach Hause gehen kann, muß man ihm ein Haus machen.«
»Welche hübsche Hahnenscheu würde er nicht abgeben!« sagte Master Hängelipp.
»Oh, ich möchte es wohl auch mit ansehen,« versetzte die Dame. »Es wäre das erstemal in seinem Leben, daß er scheu wäre.«
Der arme Rip war in der That wie ein Indianer am Pfahle, an welchem die moralische Tortur geübt wird, aber er ertrug sie nicht mit dem Gleichmuth eines Indianers. Da nun auch andere Leute herbeikamen, und noch weitere zu erwarten standen, so begann ich, – ich, der einzige von allen Zuschauern – einiges Mitleid für ihn zu fühlen, um so mehr, da ich einen stämmigen, grinsenden Schinkenkauer zu dem Bäckerjungen des Dorfes sagen hörte:
»Ei, Jem, es ist nichts weiter, als der Provisor des Franzosen, der die ganze Stickenhamer Almande seinem rechten Fuß als Strumpf angezogen hat.«
»Jetzt,« dachte ich, »ist's hohe Zeit, um der Ehre der Akademie willen zum Rückzug zu schlagen, sonst werden wir durch diesen schwerschuhigen Tölpel zum Gespötte. – Mr. Riprapton,« sagte ich, »tragt mir keinen Groll nach – aber entsinnt Euch meiner Wette. Wenn ich Euch aus dieser Schwierigkeit helfe, werdet Ihr zugestehen, daß ich gewonnen habe, weil Ihr mich um Hülfe angingt.«
»Ach freilich,« versetzte er in kläglichem Tone.
»Wohlan denn, meine Jungen, greift zu euern Messern und schneidet den Rasen aus.«
Wir hatten die Erde bald bis zu dem Knaufe beseitigt, wo sich das hölzerne Bein anschloß.
»Nun, meine Jungen,« sagte ich, »müssen wir Ihn abschrauben.«
Und wir drehten ihn um und um, während sein ausgestrecktes lebendes Bein auf dem grünen Rasen einen Ring beschrieb. Endlich, nachdem der Unterlehrer einen sehr artigen Vorgeschmack von dem Pranger gehabt, hatten wir ihn losgeschraubt, und er sah sich von seinem partiellen Begräbnißplatze befreit.
Freilich kann ich nicht gerade sagen, daß er unsere Glückwünsche mit der Einmuth eines Chesterfield entgegennahm, indeß bat er uns, in unseren Anstrengungen fortzufahren, und ihm sein Untergestell beizuschaffen, da er sonst dem Rathe, welchen Petruchio dem Schneider gegeben, folgen und über jede Gosse nach Hause hüpfen müsse. Um dieser Citation willen ließen wir uns heran, ihm Beistand zu leisten, und was Hand anlegen konnte, zog und zog und zog. Indeß schien der zähe Thon nicht geneigt zu sein, die so ehrlich gewonnene Beute wieder loszulassen. Endlich brachten wir jedoch durch eine gleichzeitige Gewaltanstrengung die Stelze heraus, wobei übrigens diejenigen, welche die Trophäe hielten, rücklings zu Boden stürzten, während das frischeroberte Bein aufwärts zum Zenith zeigte. Nachdem wir zuerst ein wenig von den tiefgelben Anhängseln abgewischt hatten, schraubten wir die verschiedenen Theile des Mannes wieder zusammen. Mr. Rip vermied sorgfältig alle Stellen, wo Binsen wuchsen, und wir erreichten (mit einer einzigen Ausnahme) in höchster Heiterkeit das Schulhaus. Was die zwei Wetten betraf, so benahm sich Rip ganz wie ein Gentleman – er erkannte die Schuld an, was jedenfalls mehr war, als ich je erwartet hatte.
Nachdem ich etliche fünfzig Probleme aus Hamilton Moore gesegneten Andenkens durchgearbeitet, eine Unzahl von Dreiecken mit allen möglichen Winkeln gezogen und sehr nette kleine Schiffchen bald aus die Basis, bald auf die Hypothenuse, bald auf den Senkel gezeichnet hatte, erklärte mein unterrichteter Lehrer, daß ich jetzt alle Zweige der edlen Seemannswissenschaft aus dem Grunde los habe, worauf er sich ungemein viel zu gut that. Da ich viele Freunde hatte, so wurde es nicht schwer, mich auf einem Schiffe unterzubringen, und es ward bestimmt, daß ich auf der Sappho, einer Kriegsbrigg erster Klasse, eintreten sollte, sobald sie anlange, was mit jedem Tage in Aussicht stand. Man wartete jedoch nicht auf mich, denn da England um jene Zeit sich's angelegen sein ließ, den Dänen die lästige Sorge für ihre Flotte abzunehmen, so wurde die Brigg unverweilt wieder abgeschickt, um sich dem freundlichen Unternehmen anzuschließen. Die getäuschte Erwartung war mir sehr verdrießlich, denn die Sappho wurde von dem Sohne jenes würdigen Geistlichen kommandirt, der so viel Interesse an meinem Wohle nahm.
Da sich jedoch Viele, sowohl im Geheim als öffentlich für mich interessirten, so wurde bald ein Schiff für mich ausgefunden, obschon ich nicht sagen kann, durch welche Art von Empfehlung ich auf dasselbe gelangte, was das Fahrzeug betraf, so hatte ich zuverlässig keine Ursache, mich darüber zu beklagen. Es war eine schöne Fregatte und in jeder Hinsicht würdig, über den Ocean hinzusegeln, der zu jener Zeit fast ausschließlich im englischen Besitze war. Man wünschte mir in der gewöhnlichen Weise alles Glück für meine Laufbahn, und ich verabschiedete mich von meinen Dorffreunden. Mr. R... schärfte mir ein, ihm bei jeder Gelegenheit zu schreiben, ertheilte mir seinen Segen, verwarnte mich dringend vor der Dichtkunst und prophezeihte, daß er es noch erleben werde, mich als Fregattenkapitän zu sehen. In Mrs. Cherfeuils Benehmen lag an dem Tage meiner Abreise nichts Außergewöhnliches. Ich ging als Schulknabe zu Bette und sollte am nächsten Morgen als Offizier aufstehen – das heißt, zum erstenmal meine Uniform anziehen. Ich glaube, daß ich bereits in die Schiffsbücher eingetragen war, denn in der Zeit, von welcher ich schreibe, war der Bankbuchhalter nicht so gar häufig in seinen Besuchen und dabei so besonders aufmerksam, wie dies gegenwärtig der Fall ist. Ungeachtet des wichtigen Wechsels, der in allen meinen Verhältnissen stattfinden sollte, schlief ich doch die ganze Nacht, freilich mit einigen Unterbrechungen – und bei solchen Gelegenheiten bemerkte ich stets, daß ein weibliches Wesen in der Nähe meines Lagers weilte.
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