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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Rückerinnerungen. – Ein Freund gefunden und eine Leine verloren. – Ralph macht eine neue Bekanntschaft und hält ein kräftiges Abendmahl, was ihm Beides sehr zu Statten kömmt.

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Auswärts öffentlich bewundert und zu Hause im Geheim von einer Liebe gepflegt, die nur um so inniger war, da sie verborgen werden mußte, entschwanden mir die Tage eben so glücklich, als ich in den verschiedenen Erziehungszweigen rasche Fortschritte machte. Auch blieb ich nicht ganz unbeachtet von Männern, die seitdem sich einen hohen Ruf in der Vorhut derer erworben, welche die Ehre Englands so edel aufrecht gehalten haben. Der Barde, der seine Laufbahn in den glänzendsten Hoffnungsgefilden begann, und dessen späterer Ruhm so sehr seinem glücklichen Anfange entsprach, las viele von meinen knabenhaften Versuchen, und glaubte, daß man von mir viel erwarten dürfe. Ueberhaupt war jener Mann, den man mit Recht groß nennt, gewissermaßen mein Schulkamerad, denn er kam Abends zu uns, um von Mr. Cherfeuil Französisch zu lernen. Er war damals beschäftigt, ein Epos, das von einem der Bonapartes verfaßt war, in englische Verse zu übertragen, obschon ich nicht glaube, daß jene Arbeit zur völligen Ausführung kam, wie viele Mühe er sich auch in jener Zeit damit gegeben hatte. Niemand hätte sich mit mehr Eifer auf die Spitzfindigkeiten des gallischen Idioms und aus den richtigen Gebrauch seines sehr zweideutigen Subjonctivs verlegen können. Der begeisterte Autor, von dem ich spreche, trug damals eine Perücke – nicht daß sein Alter derselben bedurft hätte; vielleicht aber versengte der glühende Zustand seines Gehirnes gleich einem verborgenen Vulkan den darüber befindlichen Wuchs, wenn ihm sein Haar nicht etwa in Folge der Reibung an seinen Lorbeern ausfiel oder unter dem Schaffen seines Geistes frühzeitig ergrauete. Ohne mich übrigens auf weitere Muthmaßungen einlassen zu wollen, glaube ich jedenfalls mit Zuversicht annehmen zu können, daß ihm das Haar, welches ihm Gott gegeben, nicht so wohl gefiel, als das, welches er von dem Perückenmacher kaufte; und da wir in Betreff der Ursachen keine genügende Ueberzeugung einholen können, so müssen wir uns eben mit der Thatsache zufrieden geben, daß er wirklich eine Perücke trug. Wenn dann Mr. Cherfeuil versuchte, den Poeten aus seiner Zerstreutheit in das Conditionel hinüberzuleiten, so pflegte der Mann der Verse oft verwirrt den Mann des Tempus anzusehen, die Hand unter seine Perücke zu stecken, und seinen glatten Schädel zu reiben, während die göttliche Jauche – denn Poeten schwitzen nie – über seine Stirne floß. Wenn man ihn bei solchen Gelegenheiten höflich erinnerte, daß seine Kopfbedeckung schief gegen die linke Seite sehe, so riß er sie im Aerger ebenso weit rechts, worauf er die ungeschickte Hand dadurch zu strafen begann, daß er an den Nägeln seiner Finger, feucht durch die Flüssigkeit von oben, zu nagen begann. Wir haben diesen kleinen persönlichen Zug berichtet, weil er vielleicht sehr schätzbar für die künftigen Biographen des Gentlemans wird, und zugleich unwissenschaftliche Kopfe auf's Ueberzeugendste belehrt, daß die Kopfarbeit keine so leichte Sophamühe ist, als man gewöhnlich glaubt; schließlich entnehmen wir daraus, daß des großen Schriftstellers Gewohnheit, vivos ungues rodere ihn bis auf Zahn und Nagel zu einem » Homo ad unguem factus« stempelt.

Ich wurde auch mit der Freundschaft und der berathenden Vertraulichkeit des Doktor B–, eines früheren Hauptlehrers an einer unserer ersten öffentlichen Schulen, beehrt. Er hatte die höchsten Cirkel gesehen, war ein Höfling gewesen und hatte vor Zeiten auf einem sehr vertraulichen Fuße mit Georg III. gestanden. Dieser Gentleman unterrichtete mich besser, als irgend einer, den ich seitdem je gehört oder gelesen habe, über die Ausführbarkeit des wahren Christenthums in jeder Lebensstufe. Er prägte meinem Geiste ein, daß das Christenthum nicht blos ein Glaubensbekenntniß, sondern auch eine ebenso wesentliche Tugend sei, wie der Muth, und daß man desselben zu Erfüllung seiner Pflichten nicht entbehren könne. Dabei zeigte er mir, wie es den Arbeiter zum Pfluge, den Rechtsgelehrten vor die Gerichtsschranken und den Soldaten in's Schlachtfeld führen müsse. Ferner bewies er mir, er könne höflich sein mit dem Gebildeten, gewinnbringend bei dem Kaufmann und sogar rauh bei dem Matrosen, ohne sich in seinen Grundwahrheiten zu verändern, obgleich es ohne Unterlaß einen Wechsel hervorbringe – nämlich die Umwandelung in bessere und höhere Wesen.

Ich verdanke ihm viel, was ich besser hätte in meinem Gedächtniß aufbewahren und mit einem besseren Leben vergelten sollen.

Ich weiß, daß es noch viele andere Personen gibt, deren ich einen flüchtigen Zoll der Dankbarkeit für das mir erwiesene Wohlwollen abtragen sollte; da jedoch meine erste Pflicht meinem Lehrer gehört, so darf ich es nicht wagen, sie länger zu ermüden, wäre es auch durch die Uebung einer Tugend. Dennoch ist noch Jemand vorhanden, den zu übergehen der schnödeste Undank und ein Betrug am Publikum wäre, da ich gegen das letztere gewissermaßen vertragsmäßig verpflichtet bin, in dieser meiner Selbstbiographie das allerbeste Material in möglichst bester Weise zu liefern. Der Gentleman, den ich meinen Lesern vorzuführen gedenke, war die reinste Personifikation des Wohlwollens, welche je existirte. Sein Gesicht bot einen leuchtenden Index von dem Frieden, der in seinem Innern herrschte, von seiner Liebe gegen den Nebenmenschen und von seinem Vertrauen in die Fürsorge Gottes. Er besaß jene göttliche Sympathie für seine ganze Umgebung, welche die Menschen in dem, worin man allein mit den Engeln wetteifern kann, seinem Schöpfer so nahe bringt. Diese Herzensgüte hatte jedoch nichts gemein mit Schwäche oder mißverstandener Weichheit, denn er hatte die Welt gesehen, kennen gelernt und mit ihr schwer gerungen. Aus dem herben Kampf war er triumphirend hervorgegangen und hatte, wenn auch kein großes Vermögen, so doch ein sicheres Auskommen nebst dem davon getragen, was noch unendlich werthvoller ist – jenen »Seelenfrieden, der über alle Begriffe geht.«

Mr. R... war groß, kräftig gebaut, von blühendem Gesichte und für einen Fünfziger der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Ich will damit nicht gerade sagen, daß seine Züge eine klassische Regelmäßigkeit besaßen, sondern vielmehr, daß die Seele des Wohlwollens daraus leuchtete – ein Ausdruck, der, wäre er von der Meisterhand eines alten Künstlers in Marmor gemeißelt und so auf die späte Nachwelt übertragen worden, als etwas Uebermenschliches hätte verehrt und doch zu gleicher Zeit mit süßer, inniger Menschenliebe umfaßt werden müssen. Es sind dies nicht bloße Worte der Begeisterung, denn ich berichte eine einfache Thatsache. Er trug sein eigenes, weißes Haar, welches so dünne stand, daß es auf dem Schädel eine eigentliche Glatze bildete. Ein schnupftabackfarbener Rock von altem Schnitte, Kniehosen, Strümpfe von weißer Lämmerwolle und Schuhe mit ziemlich hohen Quartieren, verliehen seinem höchst achtbaren Aeußern den Charakter eines Ueberrestes aus frühern Zeiten.

Als ich ihn das erstemal sah, angelte er in dem Flusse, der durch das Dorf läuft.

Sobald ich seiner wohlwollenden Züge ansichtig wurde, ging ich auf ihn zu und setzte mich an seiner Seite nieder. Ich konnte nicht anders, und mit einemmale verstand ich nun die Leutseligkeit und Würde, die in den Zeiten der Patriarchen geherrscht haben mußte. Wir bedurften keiner Formalitäten. Er gab mir Raum, als wäre ich sein Sohn, und ich blickte wie zu einem Vater an ihm hinauf. Er lächelte mir so zuversichtlich und ermuthigend zu, daß ich bald meinen Arm mit der ganzen Vertraulichkeit einer lange erprobten Liebe auf sein Knie legte. Von jenem ersten Augenblicke unsres Zusammentreffens an, bis zu der Zeit, als sein Herz kalt im Grabe lag – denn nur das Grab konnte es erkalten – herrschte zwischen uns eine wandellose, und von meiner Seite ausschließende Innigkeit. Wir blieben eine Weile stumm in dieser Lage, und meine Augen schwelgten bald in den reichen Farben des Abends, bald in dem sinnigen Gesichtsausdrucke des »wackeren Greises«.

»Oh! es ist sehr schön,« sagte ich, dabei eben so sehr an sein mildes Antlitz, als an den prachtvollen Himmel über mir denkend.

»Und fühlst du es auch?« entgegnete er. »Ja, ich sehe es deinen glänzenden Augen und dem glühenderen Roth deiner Wangen an, daß du es fühlst.«

»Es ist mir so wohl,« versetzte ich. »Aber ich habe jetzt zwei sehr, sehr sonderbare Wünsche, ohne daß ich wüßte, welcher mir in der Erfüllung der liebste wäre.«

»Und worin bestünden diese, mein kleiner Freund?«

»Oh! Ihr werdet über mich lachen, wenn ich sie Euch nenne.«

»Nein, das wird gewiß nicht geschehen. Ich lache nie über irgend einen Menschen.«

»Ach, ich dachte mir das fast zum Voraus. Wohlan, als ich in den Himmel hinaufblickte, wünschte ich, ich möchte durch jene goldenen Wolken fliegen können, wie ein Adler; und als ich Euch ansah, tauchte der Gedanke in mir auf, ich möchte ein so freundlicher, alter Herr sein, wie Ihr.«

»Nun, es ist mehr Schmeichelei, als gesunder Verstand in deinen Wünschen. Der erstere ist unvernünftig und die Erfüllung des zweiten wird dich nur zu bald beschleichen.«

»Ich wollte Euch nicht schmeicheln,« versetzte ich, stolz aufblickend; »denn ich möchte weder ein Adler noch ein alter Mann sein, wenn jene schönen Wolken entschwunden sind und der warme Sonnenuntergang aufgehört hat, Euer Gesicht so – so – –«

»Schon gut – du kannst deine schönen Reden für die jungen Damen sparen.«

»Ich habe aber auch einige für die Gentlemen, und da läuft mir eben eine durch den Kopf.«

»Die möchte ich doch hören.«

»Wirklich? Nun, dieser schöne Abend bringt mir den in Mrs. Barbould's Ode in's Gedächtniß.«

Ich pflanzte mich dann in einer Attitüde auf und deklamirte das Gedicht sehr zu meiner eigenen und noch mehr zu Mr. R...s Befriedigung. Es war eine wundersam einfache, aber doch erhebende Scene. Mein Zuhörer schlug den Takt zu den Kadenzen der Poesie, ich aber radotirte vor ihm in leidenschaftlichem Feuer, und in der Zwischenzeit schwamm seine Angelruthe, ohne daß wir es bemerkten, friedlich, aber rasch den Fluß hinunter. Als ich schloß, wurden wir ihrer eben noch weit unten in einem Wirbel ansichtig und im nächsten Momente war sie unsern Augen entschwunden.

Ohne uns viel um den Verlust zu kümmern, kehrten wir bald darauf, in angelegentlicher Unterhaltung begriffen, Hand in Hand nach dem Dorfe zurück. Ich begleitete ihn nach seiner Wohnung, wo ich mit ihm und seinen liebenswürdigen Töchtern ein frugales Abendessen, aus Früchten und Backwerk bestehend, theilte; auch entwickelte sich zwischen uns so rasch eine vertrauliche und von allen weltlichen Rücksichten absehende Innigkeit, daß ich bereits auf der Schwelle stand und mich verabschieden wollte, ehe es ihm einfiel, mich zu fragen, wer ich sei und wo ich wohne. Von jenem Abend an waren wir, meine Studienstunden ausgenommen, fast unzertrennlich. Ich erzählte ihm meine seltsame Geschichte, und er schien mich um derselben willen hundertmal mehr zu lieben. Er versetzte den ganzen Adel und sogar die Prinzen von Geblüt in Kontribution, um mir einen Vater zu verschaffen, und kam mit einemmale zu dem entschiedenen Schlusse, daß Mrs. Cherfeuil meine Mutter sei. Oh! dieses Geheimniß machte ihn überglücklich, und als er erst mein poetisches Talent kennen lernte, gerieth er in eine eigentliche Entzückung. Er reimte selbst, weshalb er mir Stoff an die Hand gab, Rath ertheilte und Ergänzungen oder Verbesserungen anbrachte. Er wurde selbst wieder zum Jünglinge, und oft saßen wir in irgend einem abgeschiedenen Winkel der schönen Dorfumgebung – Jeder seinen Bleistift und Papier in der Hand – bald deklamirend, bald uns in Gesprächen unterhaltend, in welchen er mir eine unschätzbare Belehrung zu Theil werden ließ. Er befestigte in mir die Lehre von der angebornen Güte der Menschennatur. Seit jener Periode habe ich viel Schurkerei gesehen und bin selber auch oft das Opfer der Tücke geworden. Ich sah mich nicht selten genöthigt, mich mit dem Laster in jeder Gestalt zu vergesellschaften; und doch, wenn ich mich im Elende befand – wenn ich unter dem Drucke der Tyrannei ächzte und mein Geschlecht zu verfluchen geneigt war, so kam der Gedanke an den freundlichen Greis wie eine Heimsuchung vom Himmel über mich, und meine Verwünschung wandelte sich in Gebet, wo nicht in Segen um.

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