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10. Kapitel.
Zurückgelassen


Leer ward der Platz in der Kemnate,
Wo sie an meiner Wiege saß-
Ob sie, was sie mit Leid getragen,
So bald vergaß?

Die Sonne spielt wie sonst am Linnen
Und schimmert auf dem Wiegenrand –
Mich aber hüten fremde Augen
Und fremde Hand.

In Frau Ilsabes verödetem Gemach saß die Burgherrin an der Wiege der kleinen Waise. Das Herz war ihr zum Zerspringen schwer, die Zukunft lag wie eine steile Felswand vor ihr, und jeder Tag erschien ihr wie ein düsterer Verkünder des Leides und neuen Blutvergießens.

Eben war der alte Andreas heraufgekommen und hatte ihr die Todeskunde der Märtyrerin gebracht – in stummem Schmerz saß sie nun an der Wiege des schlafenden Kindes – sie hatte zu beten versucht, aber ihr Gebet war immer wieder erstickt worden durch die bange Frage: »Warum lassen Gott und die Heiligen so etwas zu? Es steht doch in ihrer Macht, solch ein Leid zu hindern! Konnte nicht auch ein Inquisitor irren? er war doch auch nur ein Mensch!« Den Grundgesetzen des heiligen Offiziums selbst wagte sie ja gar nicht zu nahe zu treten, sie wußte ja, daß die Ketzerei etwas Entsetzliches ist, und konnte es nicht verstehen, daß ein junges, holdes Geschöpf, wie Ilsabe, damit in Berührung kommen, und noch mehr, daß sie in Not und Tod darum gehen und, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, alles, selbst ihr Kind verlassen konnte, um dieses unseligen Buches willen. Was es barg, sie wußte es nicht, wollte es auch nicht wissen. Warum mußte sie für den ketzerischen Böhmen eintreten, der nun schon vor fast hundert Jahren in Konstanz verbrannt war – sie konnte es nicht fassen. Warum war ihr das Bekenntnis ihrer Kirche nicht mehr gut genug, warum lieh sie den nur blutiges Unheil anrichtenden Reformatoren das Ohr – o – sie hatte es ja gewußt, daß die Inquisition nie ein Opfer, das sie ergriffen, aus den eisernen Armen läßt! Nun war es zu spät! Die Edelfrau war nahe daran, an Gottes Allmacht und Fürsorge, an seinem Lenken der Menschenherzen irre zu werden, so dunkel und grauenvoll erschien ihr das Ende der jungen Frau. Sie war ein frommes Glied ihrer Kirche, eine vorzügliche Hausfrau und Mutter, aber ihr geistiges Verständnis war nicht in dem Maße gewachsen, wie es bei Frau Ilsabe der Fall gewesen, sie glaubte unbedingt, ohne den Grund, auf den sie gestellt war, zu untersuchen, ob Gold und Silber oder Holz und Stoppeln darauf gebaut waren, und so hatte sie es auch nicht bemerkt, daß sie nur die äußere Hülle eines Kleinods, die Schale, die einen edlen Kern bergen sollte, in Händen hielt – mit einem Wort, daß ihre Zeit nur noch ein Bekenntnis der Lippen besaß, welches weit entfernt war vom praktischen, ins Leben, in That und Wahrheit umgesetzten Christentum. Sie selbst lebte ja im lebendigen Glauben – wie durfte sie das Bekenntnis anderer anzweifeln?

Frau Ilsabe war in manchem den Töchtern ihrer Zeit vorausgeeilt, Erziehung und Lebenserfahrung hatten diesen hohen Flug begünstigt, und das Leid hatte sie früh gereift, Scholastika aber war bis ins kleinste die Frau des sechzehnten Jahrhunderts, äußerlich und innerlich, – die Seele ihres Hauses, dessen Grenzen sie nicht überschritt, der Schatz ihres Gemahls, sein Sonnenschein in guten und bösen Tagen, die liebende Mutter ihrer Kinder, die Beschützerin und Wohlthäterin der Armen und Kranken, die treue, gläubige Anhängerin der Kirche, in deren Schatten sie geboren und auferzogen war – das Ideal einer Frau.

Sie kommen leichter durchs Leben, diese Menschen, die es so nehmen, wie es sich gerade gestaltet, ohne voraus zu blicken, ob ihnen ein Unheil oder ihrer Seele eine Klippe daraus erwachsen kann, und es mag sein, daß ihnen die Kämpfe denkender Menschen und Christen erspart bleiben durch ihr ruhiges, abwartendes Wesen, denn, menschlich geredet, hatte Frau Scholastika einen leichteren Weg zum Himmel wie Frau Ilsabe, die das Kommen der Reformation nicht erwarten konnte, sondern in einer Zeit heißer Vorkämpfe, ohne jeden stützenden Hinterhalt, auf das Buch des Böhmen schwor, während erstere sich erst entschloß, zu Luthers Lehre überzutreten, als überall in Mecklenburg die evangelische Predigt erklang.

Sie haben's leichter, die von keiner bangen Gewissensfrage etwas wissen, – ob sie es besser haben, bleibt dahingestellt. Ob sie die Tiefe der Liebe, die am Kreuz ihr Leben für uns ausgehaucht, so voll empfinden, wie eine Menschenseele, die nach heißem Kampf und Jammer mit der eigenen Sünde und dem Ringen nach Wahrheit Ruhe und Frieden in des Heilands Blut fand – wer darf darüber urteilen! Gott der Herr führt seine Kinder verschieden, das eine auf hellen, sonnigen Wegen, das andere durch tausend Kämpfe und Anfechtungen, und er wird am jüngsten Tage nicht danach fragen, wie wir empfunden haben, sondern wie wir den Weg, den er uns geführt, und gerade nur den, gewandelt sind; ob es der Weg des Martyriums oder der Weg eines stillen Lebens im Kreise der Unseren war, ist einerlei – sein Flammenauge sieht das Pfund an, das wir empfangen, und fordert Rechenschaft über die Verwaltung desselben, weiter nichts, aber darauf die ganze, volle Antwort, nach dem Becher kalten Wassers, nach dem einen: »Warst du ein Christ?« – –

Stumm und gramvoll saß Scholastika an der Wiege des Kindes, das ihr nun wie ihr eigenes erschien, die Hände über den Knieen gefaltet. Ab und zu blickte sie aus dem weit geöffneten Bogenfenster die Landstraße entlang; ihr Gemahl mußte heute morgen zurückkommen, wenn anders ihr letzter Bote ihn getroffen hatte. Ihr Herz schlug laut, wenn sie an die Nachricht dachte, die sie ihm mitzuteilen hatte – wie sollte sie ihm das Entsetzliche beibringen, ihm, der die junge Witwe seines Freundes wie ein Kleinod bewahrt und geschützt hatte. Sie barg das verweinte Gesicht in den Händen – in ihrer Hut hatte er sie zurückgelassen! –

Da öffnete sich die Thür, – der Erwartete trat ein. Sie sah ihn sprachlos an. Kein Wort wollte von ihren Lippen, es war ihr, als käme er, die ihr Anvertraute zu fordern. Sie lehnte sich leichenblaß an die Wand und flüsterte endlich bebend: »Berendt, ich konnt's nicht hindern.«

Berendt Maltzan tobte und fluchte nicht, wie er es früher, trotz seines edlen, ritterlichen Sinnes, gethan haben würde, und wie seine Gattin es in diesem Augenblick der entsetzlichsten Überraschung erwartet hatte, sondern er nahm die zitternde Frau in die Arme und sagte: »Sei ruhige Scholastika, ich weiß alles, auch daß du keine Schuld hast, ich bin schon mehrere Stunden hier, und es war mir, als sollte mein Herz bersten vor Zorn und Grimm, aber seit ich im Kerker war, bin ich ruhiger geworden. Nicht fort finden könnt' ich von dem Angesicht voll Frieden, und es war mir immer, als läse ich die Worte darin, die unser Herr am Kreuz gesprochen: »Vater, vergieb ihnen, sie wissen nicht, was sie thun!«

Frau Scholastika hatte ihr Haupt an seine Brust gelegt und weinte bitterlich. »So hat sie auch gewiß gedacht,« schluchzte sie, »aber mein Herz möchte verzweifeln an Gottes Gerechtigkeit!«

»Das darf es nicht, liebes Weib,« sagte er ernst, ihr Haupt emporrichtend und ihr in die thränenschweren Augen blickend, »Gottes Wege sind anders als Menschenwege und seine Gedanken höher als die unseres schwachen Herzens. Daß du ihn nicht verstehen kannst, glaube ich wohl, ich kann's auch nicht, aber wir müssen uns beugen unter seine gewaltige Hand, und eins bleibt ja unser Trost, nämlich die Gewißheit, daß er uns nichts schickt, was uns nicht zum Heile dient. Ganz verstehen können wir ihn ja erst droben im Licht, und wir dürfen es nicht so oft vergessen, Geliebte, daß wir arme, sündige Menschen aus Staub und Asche sind, die ihn noch gar nicht ganz verstehen sollen.«

Sie schlang die Arme um den Hals des Gemahls und sah mit strahlenden Augen zu ihm auf. »Du weißt es immer besser als ich,« sagte sie demütig, »hab Dank, Berendt,, deine Liebe und Gottergebenheit beruhigen mein Herz.«

Er drückte sie an sich und küßte sie.

»Wir wollen immer an das Vermächtnis unsres Ahnherrn denken, an das heilige Zeichen in unserem Wappenschilde,« sagte er, »und wollen den Hochgelobten bitten, daß wir lebendige Reben an dem ewigen Weinstock werden. Das Maltzahn und Maltzansche Wappen zeigt in der einen Hälfte des geteilten Schildes eine Weinrebe. Zu zweien wandert es sich so viel leichter zum Himmel« – er blickte nieder auf die beiden goldenen Eheringe und drückte die Hand der Frau, die ihn so unaussprechlich beglückte. Dann näherte er sich der Wiege und sah bewegten Herzens auf das zurückgelassene Töchterlein der Märtyrerin.

»Ilsabe,« sagte er, wie in Gedanken an vergangene Zeiten.

Die Kleine war erwacht und streckte die Händchen nach ihm aus. Er nahm sie auf den Arm, und die Thränen traten ihm in die Augen beim Anblick des verwaisten Kindes.

Sein Weib hatte die Hand auf seinen Arm gelegt, die klaren, blauen Augen sahen ihn mit einem Blick tiefer Liebe bittend an, und er verstand ihr Frauenherz. Die Hand seines Gemahls fest in der seinen haltend, küßte er Frau Ilsabes Töchterlein und sagte feierlich: »Wir wollen dir Vater und Mutter sein! Das walte. Gott!«

»Amen,« sagte Frau Scholastika und beugte sich über das Kind in reiner, barmherziger Liebe. »Hab' Dank, Berendt, du hast meines Herzens Wunsch erfüllt. Der Herr vergelt es dir!«

»Ich hoffe, die Roggower lassen uns Ilsabes Kind wenigstens eine Weile,« sagte Maltzan. »Hinterlassen hat sie, soviel ich weiß, nichts, auch weiß ich nicht, ob nicht das Erbe einer Ketzerin der Kirche zufällt, doch mein' ich, daß es so ist. Ich habe es immer gewünscht, daß Sophie Dorothea nicht so einsam aufwächst – wenn wir sie nur behalten dürfen, bis sie herangewachsen ist. Ich muß morgen nach Roggow reiten, – sie werden noch nichts erfahren haben,« schloß er seufzend, »dann will ich die Sache ordnen.«


Als die Inquisitoren kamen und die Märtyrerin als Leiche wiedersahen, sagten sie, der Teufel habe sie geholt, und gingen mit triumphierenden Gesichtern einher, als könne ihnen der Sieg nimmer fehlen. Ignatius Kruses Wut aber kannte keine Grenzen. Er schrie, den alten Kerkermeister an, warum er nicht für ein stärkendes Mittel gesorgt hätte, die Ketzerin sei denn doch vielleicht bis zur Rückkehr des Ritters und der Vollstreckung des Urteils am Leben geblieben, und hielt nicht eher ein mit Fluchen und Wettern, bis der ältere Dominikaner ihm sagte, er sollte nur stille schweigen, im Grunde sei er an allem schuld, die Tortur sei eine viel zu scharfe für die zarte Frau gewesen, und ihre tiefe Ohnmacht habe schon den Zustand größter Schwäche verraten.

»Daß Ihr mir nun den Mönch in die Hände liefert,« schloß er, »wenn er uns durchgegangen ist, so ist es allein Eurer Fahrlässigkeit und Ungewandtheit zuzuschreiben.«

Der Prior biß sich auf die Lippen, es kochte in seinem Inneren, aber er wagte nicht, Seiner Herrlichkeit dem Inquisitor eine Antwort zu geben und schwieg.

Alle Heiligen! wenn der Mönch wirklich entkommen wäre, was sollte er dann anfangen!?

»Dann verschaffe ich ihnen ein anderes Opfer,« rief es in seiner Seele, und wie ein flackerndes Irrlicht huschte ein unheimliches Leuchten über die dämonisch schönen Züge des versunkenen Mannes.

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