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Der Herbstwind braust, die Kiefern rauschen –
Hin ist der gold'ne Sonnenschein,
O, Kind des Leides und der Schmerzen,
Schlaf' ein, schlaf' ein!
Könnt' ich dir Lust und Freude schaffen
Zum stillen, fröhlichen Gedeih'n –
Nun sollst du all mein Herzleid erben,
Du ganz allein!
Das Jahr ging zur Neige. Die letzten Blätter tanzten über die kahlen Felder, und ein kalter Wind hauste in den Wipfeln der Bäume, der der Schönheit des Spätherbsttages ein schnelles Ende machte.
Ja, die goldenen Novemberblättlein wußten es, was zähes Festhalten am alten Stamme heißt, – doch nun war's zu Ende mit ihrer Kraft. Zitternd hatten sie sich an die grauen Äste geklammert, als der wilde Geselle herangebraust kam, die Waldkinder zu küssen, aber wie erstarrt von seinem eisigen Hauch, ließen die kleinen Arme den sicheren Halt los, und sie flatterten willenlos herab auf die stille, kalte Erde. Als habe der Baum sein Kleid abgelegt, lagen sie wie ein lichtgelbes Seidengewand zu seinen Füßen, und der Wind rauschte darüber hinweg und flüsterte von vergangener Herrlichkeit.
Düster und schwer hing der Himmel über der Erde, Schnee oder Unwetter verkündend, und ganz in der Ferne hörte man das Rauschen der Wellen vom Salzhaff. War die Ostsee in Aufregung, so konnte man, wenn der Wind von Norden kam, das Brausen der Brandung weithin in den Küstenwäldern vernehmen.
Durch die Einsamkeit des Herbstabends klang nahender Hufschlag, lebendig ward's auf den stillen Waldwegen, und eine kleine Schar berittener Mannen kam langsam den Pfad entlang, auf den schon die Dämmerung ihre tiefen Schatten geworfen.
Der Führer des kleinen Zuges schien von edler Herkunft zu sein; mächtige blaue Federn umwehten seinen Helm, und der geteilte Schild zeigte das Wappen eines alten Mecklenburger Adelsgeschlechtes: zwei Hasenköpfe im blauen Felde, daneben auf goldenem Grunde den Weinstock. Der Ritter trug die Farben seines Hauses, gelb und blau, und auch die Mannen waren in dieselben gekleidet und führten das Zeichen ihres Herrn in den Schilden.
Schweigend waren sie durch den immer dunkler werdenden Wald geritten, plötzlich wandte sich der Ritter um und rief: »Sag' mal, Balthasar, sind wir recht? Der Weg scheint mir fremd, wie sonst nie! Hier muß der Neu-Buckower Bach kommen, und dann muß das Nest doch zu sehen sein! Der Kuckuck hole diesen verdammten Nebel!«
»Das weiß ich nicht,« erwiderte mit größter Gemütsruhe der Knecht. »Ich bin hier noch nicht gewesen. Wenn der gnädige Herr den Weg nicht wissen, dann kann's sein, daß wir verkehrt geritten sind!«
Der Ritter kratzte sich hinter den Ohren: »Und das alles für 'n Frauenzimmer. Na, was hilft's!« Er gab seinem Pferde heftig die Sporen, und die Knechte folgten ihm in scharfem Trab. Nach kurzer Zeit kamen sie an eine Lichtung; der Ritter hielt sein Roß an und wies auf einen weißen Wasserstreifen, von alten Weiden umgeben, die die dürren Arme in die Abendluft streckten. Am Horizont erhoben sich dunkel Gebäude und Baumgruppen. »Das ist Roggow,« sagte er. »Einen kleinen Umweg haben wir gemacht, Balthasar.«
Der Alte lachte: »Ja, spät wird's, bis wir ankommen. Ich will doch wetten, daß die Herrin zur Ruh' ist!«
»Frau Ilsabe geht nicht mit den Hühnern zu Bett,« erwiderte sein Herr. »Um sechs Uhr sind wir am Ziele. Du irrst dich wohl in der Zeit, Alter, und es wird heut auch früh Nacht. Wir wollen eilen, sonst verlieren wir im Nebel den Weg.«
Wieder spornte er sein Tier, und die kleine Schar eilte ihrem Ziel zu. In einer halben Stunde waren sie da, und ein alter Thorwart fragte nach Namen und Begehr des Ritters.
»Fragt Eure Frau, ob der Ritter Berendt Maltzan ihr seinen ritterlichen Gruß entbieten dürfte,« lautete die Antwort.
Der alte Mann wich einen Schritt zurück, starrte den Sprecher an, als sähe er ein Gespenst, und flüsterte: »Der böse Berendt! Gott steh' uns bei!«
»Zum Teufel, Alter, willst du mich einlassen!« rief der Ritter und stieß sein Schwert klirrend auf die steinernen Stufen. »Was geht dich mein Name an! Augenblicklich melde mich deiner Herrin, und schließ' das Thor auf!«
»Verzeihung, gnädiger Herr,« murmelte der Alte, »es war nur der erste Schrecken! Und dann wollt' ich der Herrin gern Unruhe ersparen. Wir taufen heute das Kind,« fügte er vertraulicher hinzu, »wißt Ihr, das Nachgeborene nach des Herrn Tod. Die Herrin ist immer so bleich und still – da wollt' ich sie nicht erschrecken. Verzeiht mir's, ich kenn' Euch nicht – nur Euren Namen!«
»Schon gut, Alter,« beruhigte ihn Maltzan, »ist ganz recht, daß du den »bösen Berendt« nicht ohne weiteres in Haus Roggow einläßt. Ich bin ein Freund des seligen Herrn Dietrich, und mit der Bosheit ist's nicht so schlimm. Bin manchmal ein wenig rauflustig gewesen, heut' aber wollt' ich mich nach der Witwe meines verstorbenen Freundes umsehen. Den »bösen Berendt« heißen mich nun einmal meine Feinde, aber den »treulosen« dürfen sie mich nicht schimpfen. Doch nun melde meine Ankunft, und weise meinen Knechten und Rossen Unterkunft an.«
Der Alte ging und kehrte nach einer Weile zurück. »Sie wollen gerad' das Kindlein taufen, aber die Herrin heißt Euch willkommen. Euer Gemach ist bereit, falls Ihr ruhen und die Kleider wechseln wollt!« Der Schlüssel drehte sich knarrend im Schloß und Berendt Maltzan trat ein.
»Na, Alter, 'n Wunder ist's und bleibt's, daß der böse Berendt seinen Fuß über Haus Roggows Schwelle gesetzt – aber so macht's ein rechter Thorwart« – und er klopfte dem alten Mann freundlich auf die Schulter.
Ein Diener kam und leuchtete dem Ritter hinauf in sein Gemach. Es war früher, als er gedacht – die Hofuhr schlug sechs. Er vertauschte die schwere Rüstung mit dem blausammetenen Hausgewand, und der Diener, der ihm beim Umkleiden behilflich gewesen, führte ihn durch eine Reihe von Gemächern in eine matt erleuchtete Halle.
Ritter Berendt blieb in der Thür stehen; die heilige Handlung hatte schon begonnen. In der Mitte des Gemachs standen auf dem mit einer kostbaren, weißseidenen Decke geschmückten Tisch die Goldgefäße des heiligen Taufsakramentes, und ein kleiner Kreis lauschte den Worten des Priesters. Ernst und Trauer lag auf den Gesichtern der Anwesenden, die alle in tiefes Schwarz gekleidet um den Tauftisch standen; nur das Kindlein lag im weißen Seidenkleid wie ein Rosenknöspchen unter dem Taufschleier, nichts ahnend von Leid und Rot der Erde.
Bleich und niedergedrückt von der Last ihres Schmerzes saß die junge Mutter im Witwenschleier in einem Lehnstuhl, dem Tauftisch gegenüber. Starr und thränenlos sah sie zu Boden, als sei alles nur ein langer, schwerer Traum, der vorüber gehen müsse; sie sah nicht auf, als die Paten heran traten, und ihr Kind getauft ward, als fürchtete sie, bei dem Anblick des kleinen, vaterlosen Geschöpfes die ganze Tragweite ihres bitteren Verlustes in diesem Augenblick doppelt an sich erfahren zu sollen.
»Ilsabe, Richardis, Maria, Crescentia – ich taufe dich im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!« klang es feierlich über dem Kinde, und das Taufwasser benetzte das kleine, schwarzhaarige Köpfchen.
Das jüngste Glied unter den Paten, ein liebliches, blondes Fräulein von Bülow, welches es über die Taufe gehalten, trat, als der Segen gesprochen, zu der jungen Mutter und legte ihr den Täufling in die Arme.
Ein Zittern ging durch den Körper der zarten Frau, dann beugte sie sich schluchzend über das letzte teure Vermächtnis ihres Gemahls und küßte das kleine schlafende Gesichtchen.
»Ilsabe, mein Schmerzenskind, Gott segne und behüte dich!« flüsterte sie.
Kein Auge blieb trocken bei diesem Anblick, kein Laut ertönte im Gemach. Als würde eine stille Totenfeier gehalten, falteten sie die Hände und beteten für die einsame Frau und das Nachgeborene.
An der Wand hing das Bildnis eines jungen Ritters im Reitermantel; die klaren, dunklen Augen sahen auf das Kind, als lebten sie, und wollten es an seinem Ehrentage grüßen. Die kleine Ilsabe war erwacht und sah empor – ja, das waren seine Augen, das schien auch die junge Mutter, die in langen Fiebertagen ihr Töchterlein kaum angeblickt, mit einemmale zu entdecken; ein helles Leuchten ging über ihr bleiches Gesicht und sie drückte das Kind fester an sich. Dann übergab sie es Marie Cäcilie von Bülow, die es in das angrenzende Gemach trug und in seine Wiege legte. Ehe sie die seidenen Vorhänge zuzog, kniete sie nieder und küßte ihr kleines Patenkind.
»Armes Ding,« flüsterte sie, »sollst deinen Vater nie kennen lernen – Gott erhalte dir dein zartes, holdes Mütterlein! Du bist nun getauft und ein Gotteskind, das ist unser Trost, und ich will die lieben Heiligen bitten, daß sie dich behüten, süße, kleine Ilsabe!«
Die Thränen standen der Jungfrau in den blauen Augen, sie blieb in dem dunklen Gemach und wiegte das Kind in den Schlaf. – –
Frau Ilsabe von Oertzen war eine tapfere Frau, aber das allein hätte ihr in ihrem Jammer nicht geholfen – sie besaß lebendiges Christentum, den Glauben, welcher beharret bis an das Ende. Als achtzehnjähriges, einziges Töchterlein eines pommerschen Edelmannes hatte sie ihren Gemahl, einen jüngeren Sohn der Oertzen aus dem Hause Roggow, kennen gelernt, und war ihm nach einem Jahr glückseliger Brautliebe in die mecklenburgische Heimat gefolgt. Zwei Jahre lebten sie in der Nähe von Roggow, welches Hans Dietrichs ältester Bruder besaß, in ungetrübtem Glück. Da verlor der Roggower sein junges Weib, und der unglückliche Mann verfiel in Schwermut. Das Geschwisterpaar aber gab dem Bruder zu Liebe sein Heim auf und zog zu dem Vereinsamten. Seitdem waltete Frau Ilsabe als Hausfrau auf Roggow. Das Leben mit den Geschwistern war dem unglücklichen Witwer eine Wohlthat, und besonders das frische, fröhliche Wesen seiner jungen Schwägerin heiterte ihn auf. Aber sein Schmerz war doch noch zu gewaltig, um es lange auf der Scholle aushalten zu können; er bat seinen Bruder, sein Gut zu verwalten, und zog in die Welt hinaus, an Kampf und Streit teilzunehmen.
Dietrich und Ilsabe verwalteten indessen getreulich des Bruders Besitz und lebten ihrem Glück, dem nur der Kindersegen fehlte. Doch es sollte ein schnelles Ende nehmen. Eines Abends kam der junge Ritter erhitzt und todmüde von einer langen Jagd heim. Hastig stillte er den brennenden Durst mit kaltem Wein; in derselben Nacht aber ward er sterbenskrank und war nach wenigen Tagen eine Leiche.
Sein junges Weib war wie betäubt von dem jähen, harten Schlag. Tagelang lag sie wie abwesend auf ihrem Lager, ließ Speise und Trank unberührt, und die großen, thränenlosen Augen wanderten teilnahmslos durch den verödeten Raunt. Es folgten lange, trübe Monde; die junge Witwe ging still ihren häuslichen Pflichten nach, aber die dumpfe Betäubung wollte nicht weichen. Sie weinte nicht, kein Wort der Klage kam voll ihren Lippen, schweigend ging sie den schweren, einsamen Weg, aber es lag eine fast krankhafte Ergebung in ihrem Wesen, die jedem, der sie kannte, auffiel.
»Wenn die Herrin nur erst einmal zum Weinen gekommen wäre,« meinte eine alte Dienerin, die ihr in die neue Heimat gefolgt war. Aber Frau Ilsabes Leid schien zu schwer für Thränen, der Schreck war zu jäh und gewaltsam über die zarte Frau gekommen, und es schien, als seien ihre Thränen erstarrt seit jenem schlimmen Tage.
Ein halbes Jahr nach dem Tode ihres Gemahls ward ihr ein Töchterlein geboren. Frau Ilsabe schwebte mehrere Tage in Todesgefahr, und als sie genas, war sie so teilnahmslos, wie vorher. Kaum sah sie nach dem Kinde; oder, wenn es geschah, scheu und verstohlen, als beginge sie ein Unrecht. Da endlich, als sie ein getauftes Gotteskind im Arm halten durfte, als sie aus den kleinen Zügen die Augen ansahen, die sie so unaussprechlich geliebt, da kamen die Thränen und brachen den Bann, der auf ihrer Seele lastete. Die Mutterliebe klopfte an ihrem Herzen an, laut und übermächtig, und sie sah das Licht, das Gott ihr auf den Weg gestellt – den Zweck ihres Erdenlebens: Ein zartes Knösplein zu warten und zu pflegen, eine lebendige, erlöste Menschenseele zu hüten und zu erziehen, zum seligen Gotteskinde! Und sie wußte, der Herr würde ihr helfen. Als habe sie es erst heute angefangen, nahm sie ihr Leid auf sich, aber nicht als den lähmenden, unabänderlichen Jammer, sondern als das Kreuz, das der Heiland seinen geliebten Kindern auflegt, als die Zucht, die da dienen soll zur friedsamen Frucht der Gerechtigkeit, denen die dadurch geübet sind. Still und stark blickte sie in die Zukunft – sie hatte ihre Augen aufgehoben zu den Bergen, von denen die Hilfe kommt.
Der Priester und die Paten hatten bis auf Marie Cäcilie von Bülow, die noch geblieben war, das Haus verlassen, nur Berendt Maltzan saß noch neben der Edelfrau und redete mit ihr von vergangenen und kommenden Tagen. Frau Ilsabe hatte den Freund ihres Gemahls warm willkommen geheißen, seine Treue that ihr wohl, und bald waren die Zwei in ein reges Gespräch vertieft.
»Ihr solltet zu uns nach Penzlin kommen, edle Frau,« sagte der Ritter. »Hier werdet Ihr auf Schritt und Tritt an Euer verlorenes Glück erinnert, das thut nicht gut. Frau Scholastika nimmt Euch mit Freuden auf, Ihr wißt doch, daß sie seit einem Mond einen kleinen Nachkömmling, ein Töchterlein herzt. Ein Spätling ist's, aber eilt herziges Mägdlein, und schön ist das Kind – wenn's so weiter geht, wünsch' ich dem Ritter Glück, dessen Hausehre es wird! Richtig goldene Härlein hat's.« Der alte Recke war ganz in Begeisterung geraten über die Schönheit seiner Jüngsten und fuhr fort: »Ihr bringt dann die kleine Ilsabe mit, das giebt ein holdes Gespons für Sophie Dorothea! Thut's, edle Frau, es ist besser für Euch. Ihr wißt, es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.« –
Sie legte seufzend die feine Hand über die Augen. »Verzeiht,« antwortete sie, »ich muß Euch undankbar erscheinen, aber ich bin nach allem, was ich erlebt, noch gar langsam im Entschließen und Handeln. Das Leid macht Leib und Seele untüchtig zum Leben, und man muß sich erst hindurchgerungen haben, bis man wieder tauglich ist für das Alltägliche. Es ist gut, daß wir's haben, daß wir wieder in Arbeit und Beruf hinein müssen, denn sonst würden wir noch leichter unterliegen im Kampfe. Laßt mir Zeit bis morgen, dann sollt Ihr die Antwort haben,« schloß sie. »Es ist spät, und wir beide bedürfen der Ruhe.« Sie reichte ihm die Hand. »Gute Nacht, Ritter Berendt, schlaft wohl in Haus Roggow!«
»Gute Nacht, edle Frau!« sagte er, und eine Thräne fiel aus den Augen des alten Kriegsmannes, als er die zarten Finger an seine Lippen führte.