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2. Kapitel.
Das Buch des Märtyrers von Konstanz


Was du errungen und erstritten,
Warum du Not und Leid erlitten,
Es erbt's ein kommendes Geschlecht;
Es erntet deines Sieges Früchte,
Es predigt deines Kampf's Geschichte
Und deiner Sache heilig Recht.

Um die Dächer des alten Herrenhauses brauste der Herbststurm; unheimlich klang's in den Kamillen, als käme die wilde Jagd durch die Wälder gezogen und begehrte Einlaß. In den Vertiefungen des alten Gemäuers fingen sich die Winde und rüttelten an den dicken Wänden. Pfeifend sausten sie um die steilen Dächer, dazwischen tönte es wie Singen und Jubeln und das Klirren von Rüstzeug und Schwertschlag. Dann ward es wieder still, und man hörte nur ein leises Rauschen, als glitte ein seidenes Frauengewand über den Estrich.

Mitternacht war's, und die Turmuhr verkündete die Geisterstunde.

Die Bauern vermieden es, spät aus Neu-Buckow heimzukommen, und wenn's nicht anders sein konnte, so zogen sie mit leisem Grauen still und rasch an dem alten Hause vorüber, schlugen ein Kreuz und murmelten: »Alle guten Geister loben Gott den Herrn!«

Frau Ilsabe kannte keine Gespensterfurcht, behauptete steif und fest, die Marder hausten auf dem alten Burgboden, und stand mit den grimmigen Feinden ihres Hühnerhofes auf dauerndem Fehdefuß.

Aber in dieser Nacht konnte auch sie nicht schlafen, der Lärm war zu arg, und die zarte, von der Gemütsbewegung des letzten Tages etwas erregte Frau fand keine Ruhe. Die Gedanken jagten durch ihren Kopf; sorgenvoll blickte sie auf das schlummernde Töchterlein an ihrer Seite und grübelte darüber nach, wie sich das Leben für ihr vaterloses Kind gestalten werde. Hier konnte sie nicht bleiben, ihr Schwager kehrte in einigen Monaten mit einem jungen Weibe heim; das kleine Nebengut war nicht ihr eigen – wohin sie dann sollte, wußte sie nicht –, aber sie vertraute auf Gott, daß er ihr den Weg zeigen werde. Fürs erste entschloß sie sich, die Einladung des alten Berendt anzunehmen, und für einige Monate nach Penzlin zu gehen. Eine Viertelstunde nach der andern verrann, das Wetter tobte weiter, und die junge Frau lag noch immer wachend und den leisen Atemzügen neben sich lauschend. Als es vier Uhr schlug, zündete sie die Kerze an und holte ein Buch unter ihrem Kopfkissen hervor. Ein alter, abgegriffener Pergamentband war's, mit zwei Spangen von Leder und rostigen Metallbeschlägen. Ein weißseidenes Bändchen lag darin – Frau Ilsabe war noch nicht weit gekommen. Sie schlug es auf – es war ein von Johann Huß über die Kirche geschriebenes Buch Tractatur de ecclesia. – und blätterte darin. Da blieb ihr Auge an einem Satz haften: Die Kirche ist die Gemeinde der Heiligen, und diese hat nur Ein notwendiges Haupt: Christus. Der Papst ist nur bedingterweise Stellvertreter des Petrus, und ohne dessen Tugenden der Bote des Antichrist.

Dann folgte eine lange Abhandlung über Ablaß und Heiligenverehrung, und im darauf folgenden Abschnitt geißelte der furchtlose Reformator die Sittenlosigkeit der Päpste, die, geschützt von dem löcherichsten Deckmantel falscher Tugend, das arme Volk immer wieder in seine Unwissenheit hinabdrückten, und von ihren Palästen aus die Kirche regierten – nicht nach dem Exempel dessen, der gesprochen: »Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken,« oder nach dem seines Knechtes, der zu des Meisters Füßen bekannte: »Herr, gehe von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch!« sondern nach ihres natürlichen Herzens Dünken, nach dem Gesetz der Unlauterkeit und der Sünde.

Fast hart erklangen der auf der Schwelle des sechzehnten Jahrhunderts Stehenden die Worte so bitterer Anklage. Wie jedes fromme Glied der Kirche Roms hatte sie emporgeblickt zu den Männern auf Petri Stuhl; der Gedanke, daß sich etwas Unreines an ihre Sohlen heften könne, war ihr bisher nie gekommen und so unmöglich erschienen, daß sie ihn entrüstet von sich gewiesen haben würde. Aber seit sie dies Buch unter Wertsachen ihres Hauses gefunden, war es anders bei ihr geworden. Huß' Worte waren von einer so erhabenen, klaren Einfachheit und Überzeugungskraft, daß sie dieselben unmöglich für Lügen halten konnte. Sein Leben, von einem böhmischen Edelmanne beschrieben, hatte sie noch in ihrer Ansicht über den Reformator bestärkt, und daneben schwere Zweifel an der Gerechtigkeit und Lauterkeit eines heiligen Konziliums in ihrer Seele erweckt. Klarer und klarer trat das Bild dieses unantastbaren heiligen Offiziums vor das Auge ihres Geistes, und glich immer mehr der Versammlung jenes hohen Rats, der durch sein blutgetränktes Urteil in entsetzlichem Andenken fortlebt von Kind zu Kindeskind.

Ilsabe war eine Frau von scharfem Verstand und großer Wahrheitsliebe; Ungewißheit über Fragen, die ihr wichtig waren, konnte sie nicht ertragen; sie forschte und grub, bis sie die Wahrheit gefunden hatte. Gegen die Sitte der Zeit hatte ihr Vater, ein gelehrter und belesener Mann, der begabten Tochter neben einer praktischen, häuslichen Erziehung Unterricht in verschiedenen Zweigen der Wissenschaft erteilen lassen, und führte dem jungen mecklenburgischen Edlen ein für seine Zeit hochgebildetes Gemahl zu. Frau Ilsabe war zu klug, um ihren Gatten, der mehr von Landbau und Felddienst, als von Wissenschaft und Künsten verstand, mit ihrer Gelehrsamkeit zu plagen – er aber war stolz auf die Frau, die alles konnte und wußte, und so blieb ihr Glück, trotz der großen Verschiedenheit der jungen Gatten, ein ungetrübtes. Das Leben und Martyrium des böhmischen Reformators hatte schon der Jungfrau einen tiefen, bleibenden Eindruck gemacht, der in dem Herzen der denkenden, durch das Leben geförderten und gereiften Frau nicht ausgelöscht werden konnte.

Ilsabe von Oertzen war vor Gott und ihrem Gewissen eine treue Katholikin, aber ohne, daß sie selbst es ahnte, pflanzten sich in ihrer Seele Wahrheiten fest, um derentwillen schon mancher auf dem Scheiterhaufen geendet, Wahrheiten, die man wenige Jahre später als die Ketzereien eines wahnwitzigen Mönchs verfluchte. –

Der Sturm war vorüber und die Morgenröte brach an; aber Frau Ilsabe hatte Gottes Antwort auf ihre Frage noch nicht vernommen. Müde stand sie auf, schloß das Buch des Ketzers in eine Truhe, und kleidete sich an. Wann würde sie einmal frisch, ganz frisch an Leib und Seele erwachen?! »Wenn du glauben könntest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen!« klang es wie eine Antwort durch ihre Seele; sie hatte das Wort am Sarge ihres Gemahls vernommen. Still und dankbar blickte sie hinauf, dann kniete sie an der Wiege nieder und betete. Die Sonne schien hell ins Fenster, als sie sich erhob und hinabging, Ritter Berendt, der schon neben Marie Cäcilie von Bülow in der Halle saß, begrüßte und ihm erklärte, sie werde, sobald ein wärmerer Tag sei, mit ihrem Kinde nach Penzlin kommen.

»Das ist brav von Euch, edle Frau,« rief der alte Kriegsmann, und schlug mit der Faust auf den eichenen Tisch, daß die Morgensuppe und das feine Linnen der Hausfrau in große Gefahr gerieten. »Ihr seid doch ein vernünftiges, brauchbares Frauenzimmer! Immer zu allem bereit, das ist recht! Ja, ja – wenn meine Alte doch auch so wäre – doch das ist eben das Schlimme, sie sind alle verschieden! Meine Alte ist deshalb doch die Beste von allen. Aber – – na, Ihr versteht mich wohl!«

Ilsabe lächelte und sagte schelmisch: »Ja, das weiß ich! Ich kenne die gestrenge Frau Scholastika – sonst käm' ich auch nicht! Aber ich weiß, wie gut man's in Penzlin hat!«

Er lachte und bat sich noch einen zweiten Teller Mehlsuppe von Marie Cäcilie aus.

»Damit Ihr seht, daß ich die Kost auf Haus Roggow nicht verachte!« sagte er zu der Edelfrau.


Am andern Morgen stand sein Roß gesattelt am Thor, und die Knechte harrten reisefertig ihres Herrn. Frau Ilsabes zarte Gestalt lehnte im Eingang, die letzten, herbstlichen Sonnenstrahlen schimmerten auf dem dunklen Haar und küßten mitleidig das süße Frauenantlitz im Witwenschleier. Ritter Berendt aber hielt ihre Hand fest in der seinen und sagte: »Also ich darf Scholastika Euer Wort bringen, edle Frau! Auf Wiedersehen in Penzlin!«

»Auf Wiedersehen!« antwortete sie, »so Gott will! Das Menschenleben ist wie ein Wolkenschatten auf der Heide!« Ihre Lippen zitterten, und unter den schwarzen Wimpern schimmerte es feucht, aber sie bezwang sich und sagte, ihn durch Thränen dankbar ansehend: »Gott geleite Euch glücklich heim zu Weib und Kind! Grüßt nur Frau Scholastika!«

Er drückte die zarten Finger, daß sie schmerzten.

»Gott sei mit Euch, Frau Ilsabe, und erhalte Euch Euren Mut,« sagte er herzlich, dann schwang er sich auf den Rappen, grüßte noch einmal ritterlich hinauf, und die kleine Schar trabte von dannen.

Noch lange stand sie unter dem Thor mit der Hand über den Augen und schaute dem alten, treuen Freunde nach, bis der letzte Helm in den dunklen Tannen verschwunden war; in dem Herzen des alten Kriegsmannes aber war ein besonderes Plätzchen entstanden, das gehörte dem jungen, tapferen Weibe seines verstorbenen Freundes.

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