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480. Obgleich vielfach abweichend in der Zahl ihrer elementaren Bestandteile, in der Größe und den feineren Formverhältnissen ihrer Gesamtbildung, sind doch die tierischen Körper jeder Gattung einem festen Typus unterworfen, der in jedem Einzelnen dieselbe Anzahl der Glieder, dieselbe Art ihrer Lagerung und Artikulation, einen gleichen Mechanismus aufeinander berechneter Funktionen und dieselben periodischen Abschnitte der Entwicklung wiederkehren läßt. So lange nicht störende. Einflüsse den Ablauf dieser zusammengehörigen Tätigkeiten unterbrechen, bietet uns daher das leibliche Leben das Bild einer systematischen Verbindung von Prozessen, durch welche ein in seinen Formen und in seinem Inhalte genau vorherbestimmtes Ergebnis, die normale Gestalt des Organismus und seiner Funktionen, beständig unterhalten und wiedererzeugt wird. Einen sehr abweichenden Eindruck macht uns das psychische Leben. Nur eine Anzahl von Mitteln ist ihm gegeben, allgemeine Fähigkeiten, aus deren Anwendung der bedeutungsvolle Inhalt des inneren Daseins hervorgehen kann; aber diese Funktionen sind nicht so geordnet, dass aus ihrer spontanen Wechselwirkung allein sich eine Normalgestalt des Seelenlebens entwickelte. Weder eine begrenzte Summe qualitativ bestimmter Vorstellungen, Gefühle oder Strebungen bilden, gleich der gemessenen Anzahl der körperlichen Glieder, den Inhalt einer normalen Seele, noch ist ihr, dem ineinandergreifenden Mechanismus leiblicher Funktionen analog, ein in bestimmten Formen gesetzlich wiederkehrendes Spiel der Wechselwirkung zwischen jenen allgemeinen Fälligkeiten vorgeschrieben, welche die gegebnen Hilfsmittel ihrer Entwicklung bilden. Eine unbegrenzte Menge äußerer Eindrücke, zufällig und ungesetzlich in ihrem Auftreten, mancherlei höchst abweichende Verhältnisse der Lebensumgebungen sind die bestimmenden Gründe, die jenen Anlagen bald diese bald eine andere Richtung, und dadurch, indem die Effekte des einen Momentes sich mit denen des folgenden verbinden, dem Ganzen unberechenbar mannigfache Formen der Entwicklung geben. Der Physiologie des körperlichen Lebens, wenn sie seine Gesundheit von Krankheiten unterscheiden will, schwebt wenigstens das Bild jener Normalgestalt des Organismus als das Ziel vor, dem die Wechselwirkung der physischen Kräfte zustrebt; ihr Geschäft wird nur dadurch erschwert, dass vielfache kleine Störungen momentan das leibliche Leben erschüttern, und von einer scharfen Wissenschaft als Störungen begriffen werden müßten, während sie doch von der Elastizität des Organismus zu leicht überwunden werden, um den schwerfälligen Namen der Krankheit zu verdienen. Suchen wir dagegen im geistigen Leben gesunde und kranke Entwicklung zu trennen, so fehlt uns ein auch nur annähernd gegebener Typus der Endgestalt, zu der die einzelnen psychischen Kräfte notwendig normal kommen müßten, und wir sind zu einem doppelten Gesichtspunkte genötigt, indem wir die Gesundheit der Seele teils an dem idealen Bilde eines Gesamtzustandes messen, den sie erreichen soll, teils an der Fähigkeit der einzelnen ihr gegebenen Mittel, nicht durch sich selbst, sondern unter der Mitwirkung der gewöhnlichen günstigen Lebensbedingungen, zur Erreichung jenes Zieles zu dienen.
481. Der wesentlich physiologische Charakter unserer gegenwärtigen Untersuchungen erlaubt uns nur wenige Worte über den ersten dieser Gesichtspunkte. Von ihm aus kann die ganze Außenwelt, deren unzählige Einzelheiten die Ausgangspunkte unserer Eindrücke sind, nur als ein Material der Übung erscheinen; an dem die geistigen Kräfte sich entwickeln, von dem sie aber nie gefesselt und beherrscht werden sollen. Nicht darauf kommt es der Erkenntnis an, eine bestimmte Anzahl äußerer Wahrnehmungen, oder ihrer die möglich größte Menge zu gewinnen, und der Erinnerung aufzubewahren; anstatt ein Spiegel dessen zu sein, was Einzelnes und Vergängliches in der Welt vorkommt und verschwindet, hat sie vielmehr die Bestimmung, aus dem flüchtigen Spiele dieser Anregungen die unvergänglichen Wahrheiten zu entwickeln, die den beständigen Grund des äußern und des eignen Daseins bilden. Jede Beschränkung der Lebensumstände welche uns zu einem kleinen Kreise stets wiederkehrender monotoner Eindrücke fesselt, hindert diese Beweglichkeit des Geistes und läßt seine Bildung in den zahllosen Einseitigkeiten verkümmern, die namentlich in unserm Zeitalter stets fortschreitender Teilung der Arbeit und des Berufs so Viele von einer ganzen menschlichen Entwicklung zurückhalten und ein partielles Seelenleben mit instinktartig begrenztem Horizont an die Stelle einer freien menschlichen Weltauffassung treten lassen. Nicht darauf ist ferner die Bestimmung des Geistes gerichtet, Gefühle und Strebungen in der größten Intensität und Vielseitigkeit zu erzeugen; auch sie sollen vielmehr beide von dem augenblicklichen Reize, der sie erregte, ablösbar werden, und durch die vielfältigen Berichtigungen, die eine mannigfache Erfahrung herbeiführt, das Große groß, Geringes gering schätzen lernen. Ungefesselt durch eine hartnäckige Beziehung auf einzelne Gegenstände, die Gewohnheit oder Leidenschaft zu beständigen Anfüllungen des Bewußtseins machen, sollen Gefühle und Strebungen sich zu jenem ruhigen Gleichgewichte der Stimmung und Gesinnung sammeln, in welchem der Geist ebenso unbefangen, wie am Beginne seiner Erfahrung, den verschiedenartigsten Eindrücken empfänglich offen steht, aber fähiger zu ihrer Beurteilung durch die vielseitigen Gesichtspunkte, die ihm der Lauf seiner Bildung für ihre Betrachtung zugänglich gemacht hat. Und alle diese verschiedenen Regungen des geistigen Lebens selbst haben eine harmonische Entwicklung ihrer Intensität zu suchen; weder dem intellektuellen Scharfsinn, noch dem träumerischen Gefühl, am wenigsten der vielgerühmten fratzenhaften Unruhe beständigen Handelns, darf ein ungemessenes Übergewicht in dem Gesamtbilde des Seelenlebens gewährt werden. Es würde traurig und unwahr zugleich sein, wenn wir dieses Ideal geistiger Entwicklung als ein überall unvollendbares bezeichnen wollten; so annähernd wenigstens, als das körperliche Leben sich der völligen Gesundheit nähert, finden wir auch dieses Ziel des Daseins in der Menschheit häufig genug erreicht; aber ebenso gewiß ist es, dass günstige Bedingungen zu dieser Entfaltung in viel höherem Masse gehören, als zu der normalen Gestaltung des körperlichen Lebens, und dass sie nicht gleich dieser, aus einem bloß ungestörten Fortwirken der allgemeinen geistigen Fähigkeiten hervorgeht. Man mag herzliche Teilnahme für die Harmonie empfinden, die ein einfaches schönes Gemüt, dem Laufe seiner natürlichen Entwicklung überlassen, in sich erzeugt hat; aber das Ideal des geistigen Daseins ist nicht diese gesunde Bildung eines Keimes, der eine schöne Entfaltung verspricht, sondern das wiedererlangte und festgehaltene Gleichgewicht, das aus dem wirklichen Leben gerettet wird.
482. Überblicken wir von diesem Gesichtspunkte aus die Gestalt, welche das Seelenleben in Wirklichkeit anzunehmen pflegt, und betrachten wir jenes geschilderte Ideal als das Bild geistiger Gesundheit, so würden wir zugestehen müssen, dass wir fast alle krank sind. Aber diesen Maßstab anzulegen sind wir nicht gewohnt. Wir geben gern zu, dass von dem, was aus unsern Anlagen hätte werden können, Weniges doch geworden ist; manche Fähigkeit, die eine unberechenbare Entfaltung versprach, ist zu einseitiger Fertigkeit geworden; manche andere hat Richtungen angenommen, die wir verwerfen müssen; Stunden der Selbstprüfung kommen, die uns unzufrieden mit allen Zügen unserer ausgebildeten Persönlichkeit machen, und trotz dieser bittern Selbstverurteilung nehmen wir doch keinen Anstand, uns für geistig gesund zu halten. Dieser seltsam scheinende Widerspruch klärt sich auf, wenn wir uns des zweiten der Gesichtspunkte erinnern, die wir eben erwähnten. Wir geben zu, dass die Entwicklung unsers Seelenlebens falsche Wege genommen hat; aber psychische Gestaltungen scheinen uns nicht so unwiderruflich, wie die leiblichen. Es sind doch immer noch dieselben allgemeinen Fähigkeiten unseres Geistes da, die auch am Anfang unserer Laufbahn vorhanden waren; streifen wir die mißlungene Entwicklung wie welk gewordene Blätter von diesem Stamme unsers Wesens ab, so wird die unverwüstliche Wurzel immer von Neuem, jetzt aber vielleicht in besseren kräftigeren Nachtrieben tätig sein. So lange die Störung nicht auch sie ergriffen hat, ist neben der Verkehrtheit des wirklichen doch die beständige Möglichkeit eines bessern geistigen Lebens vorhanden; so lange erscheinen wir uns psychisch gesund; Geisteskrankheit erblicken wir erst da, wo durch innere Vorgänge oder durch Hemmungen, die von dem Einflusse des Körpers ausgehn, die allgemeinen Fähigkeiten der Seele momentan oder für immer an der Reproduktion neuer gesunder Zustände gehindert sind. Mit solchen Gedanken sind wir nun nachsichtig und rechnen alle Sonderbarkeiten des Gefühls, jede widerwärtige Einseitigkeit der Verstandesbildung, jedes Äußerste vernunftloser Leidenschaft noch zu den tolerablen Mannigfaltigkeiten psychischer Gesundheit und finden nur da Geistesstörung, wo ein angestellter Versuch das unzweifelhafte Unvermögen zu der Anwendung allgemeiner Fähigkeiten auf die möglich einfachsten Objekte herausstellt.
483. Ich habe diese Betrachtungen angeführt, weil es in der Tat ein großer Vorteil für die Diagnose der psychischen Krankheiten sein würde, wenn man auf diese Weise die fortbestehende Gesundheit der geistigen Fähigkeiten von der Verkehrtheit ihrer Anwendungen trennen könnte. Dem ist jedoch nicht so, und nur die Annahme fertiger und unveränderlicher Seelenvermögen könnte dieser Ansicht einige Wahrscheinlichkeit geben. In der Tat aber treibt, um in jenem Bilde fortzufahren, die Seele nicht aus einer an sich gesunden Wurzel ihre einzelnen Äußerungen neben einander hervor, verkehrt oder richtig, wie es die äußern Impulse mit sich bringen, sondern jede geschehene Anwendung der allgemeinen geistigen Fähigkeiten ist eine Veränderung des Werkzeugs, mit dem wir weiter wirken. Unsere Beurteilung der Dinge, die Verteilung der Werte, die Bestimmungen des Willens geschehen in keinem Augenblicke des Lebens, ohne von den speziellen Vorstellungskreisen, von vergangenen und noch herrschenden Stimmungen und Neigungen, kurz von alle dem mitbestimmt zu werden, was wir als frühere Anwendungen derselben Fähigkeiten, die jetzt tätig sein sollen, betrachten müssen. So ist nur die Kindheit noch unbefangen und für Alles empfänglich; der weitere Verlauf des Lebens, der Inhalt unserer Erfahrung, die Wahl des Berufes, gewohnte Beschäftigungen und Sorgen stumpfen uns für viele Gedankenkreise ab, während sie unsere Fertigkeiten nach anderer Richtung schärfen; unsere Stimmungen ändern sich, und wir sind keineswegs im Stande, uns willkürlich wieder in jene Gemütsverfassung zurückzuversetzen, deren äußere Veranlassungen vielleicht auch jetzt noch auf uns wirken. Unwiederbringlich geht vielmehr das Interesse an Vielem zu Grunde, zu Gefühlskreisen, die uns sonst bewegten, finden wir den Zugang nicht mehr; eine ganze Welt selbsterlebter innerer Zustände wird uns später immer unverständlicher. Man wird nicht leugnen können, dass mit diesen Umwälzungen unsers Innern mannigfach ein Verlust der richtigen Beurteilung der Dinge verbunden ist, aber man wird vielleicht meinen, dass alle diese Mängel innerhalb so enger Grenzen stattfinden, dass sie als kleine Unvollkommenheiten der Bildung noch weit entfernt von geistiger Krankheit seien. Ich kann dem nicht beistimmen; ich finde vielmehr eine Verkehrtheit des Urteils darin, wenn diese Einseitigkeiten der Bildung so leicht genommen werden. Wie oft hören wir Ältere ihrer Jugend gedenken und das Verschwinden der "originalen" Charaktere bedauern, die ihnen etwa noch Lehrer waren, d. h. das Verschwinden jener Mischung einseitiger Gelehrsamkeit und barbarischer Rohheit der ästhetischen Bildung und sittlicher Gesinnung, wie sie früheren Zeiten gewöhnlicher als der unserigen war. Ein Seelenleben, dem die wesentlichsten Seiten menschlicher Interessen fremd sind, ist in keiner Weise gesund zu nennen, und läßt nirgends eine scharfe Begrenzung gegen Zustände zu, die wir allgemein als ausgebildete Geistesstörung betrachten.
484. Nichts desto weniger geben wir zu, dass jene Unterscheidung verkehrter Anwendungen von den Fähigkeiten selbst einen gewissen Wert hat, und man wird ihn vielleicht dahin näher zu bestimmen suchen, dass mangelhafte Bildung doch nicht eines gewissen Gleichgewichtes der Seelenkräfte entbehrt, während eigentliche Geistesstörung überall von einer Unruhe begleitet sei, die aus der Unproportion der innern Tätigkeiten hervorgeht. Der armselige Geistesinhalt eines Menschen, der an eine einförmige maschinenmäßige Arbeit gefesselt ist, scheint uns einer chronischen krankhaften Konstitution zu gleichen, in der sich nicht abzuleugnende Fehlerhaftigkeiten der Verrichtungen so leidlich einander accommodirt haben, dass der Kranke sich selbst nicht krank erscheint, der Beschränkte mit seinem beschränkten Seelenleben zufrieden ist und das, was ihm seine Lebensbedingungen gewährt, richtig, d. h. für seine Zwecke richtig, beurteilt. Man versetze ihn in eine ungewohnte Situation und sein Benehmen wird so unangemessen sein als das eines Wahnsinnigen, ebenso wie die Konstitution unter ungünstigen Lebensbedingungen in einen morbus manifestus ausbricht. Auch hierin liegt etwas Wahres, doch nichts Erschöpfendes. Denen, die wir übereinkömmlich geisteskrank zu nennen pflegen, sehen wir allerdings sehr häufig die innere Unruhe an, welche die widerstreitenden Bewegungen ihrer ungeordneten Gedanken und Gefühle verursachen; doch ist dies nicht stets der Fall, und in vielen Fällen hat auch der Wahnsinn sich so zum System abgerundet, dass wir nach der erwähnten Ansicht in der seltsamen Verlegenheit sein würden, ihn um seiner besondern Ausbildung willen der Gesundheit näher stellen zu müssen. Dass umgekehrt die leidenschaftlichsten Kämpfe des Gemüts und die äußerste Unruhe der Gedanken möglich ist auch ohne das, was wir gemeinhin geistige Störung zu nennen pflegen, bedarf keiner besonderen Ausführung.
485. Müde des vergeblichen Suchens wird man vielleicht allen Unterschied zwischen Verkehrtheit der Bildung und geistiger Krankheit illusorisch nennen wollen. Allein obgleich wir in der Tat prinzipiell die Kluft zwischen beiden nicht entscheidend finden können, so hat doch auch eine annähernde Bestimmung an sich ungenauer Begriffe Wert, und wenn ein Gebiet zweifelhafter Zustände zurückbleibt, so ist es doch immer nützlich, wenigstens zu wissen, was außerhalb desselben nach der einen Seite hin oder nach der andern liegt. Nehmen wir daher diese Betrachtung wieder auf. Der geistig in seiner Bildung Verkümmerte wird unzählige Irrtümer hegen über Gegenstände, die außerhalb seines Horizonts fallen. Man nennt ihn deshalb nicht geisteskrank; man gibt zu, dass Irrtümer in Betreff von Verhältnissen, die nur durch Autopsie erkannt werden können, nicht der Schwäche des geistigen Vermögens, Irrtümer in solchen, die nur durch Schlüsse begriffen werden, wenigstens nur einer solchen Schwäche zuzurechnen sind, die innerhalb geistiger Gesundheit fallen kann, so lange die Energie psychischer Tätigkeiten überhaupt Einzelnen in verschiedenen Graden zugeschrieben wird. Selbst wo wir groben Täuschungen in Bezug auf Gegenstände begegnen, die innerhalb des gewöhnlichsten Beschäftigungskreises liegen, sprechen wir zwar von Unwissenheit und Ungeschick, doch nicht von Geistesstörung. Wir lassen diese erst da beginnen, wo Tatsachen verkannt werden, die dem Augenschein offen stehen, und zu ihrer Erkenntnis keine Verwicklung des Raisonnements bedürfen. Nicht als wenn jede subjektive Empfindung, die sich dem Bewußtsein aufgedrängt hat und für Wahrheit genommen wurde, schon für Wahnsinn gehalten würde; vielmehr ist sie an sich selbst eben eine Tatsache des evidentesten Augenscheins; sie führt erst dann zur Seelenstörung, wenn ihr zu Liebe die Gesamtheit der übrigen unzweifelhaften Wahrnehmungen umgedeutet werden muß, und so der größeren Menge des Augenscheinlichen, Gewalt angetan wird, um einen geringeren Teil als Wahrheit gelten zu lassen, während umgekehrt die beständig erneuerte Auffassung der Wirklichkeit jene einzelne Illusion vernichten sollte. Auch nicht so, als wenn eine Verkennung des äußerlichen Tatbestandes überall der Ausgangspunkt der Störung wäre. Viele geistige Krankheiten entspringen ohne Zweifel aus dem Drucke an sich gestaltloser innerer Stimmungen. Aber wir hegen die zum Teil richtige, zum Teil verkehrte Gewohnheit, die Gefühle, mit denen wir die Welt und den Wert der Dinge ansehn, für subjektivem Belieben mehr und rechtmäßiger unterworfen zu halten, als die theoretische Auffassung eines Sachverhaltes. Stimmungen der Bitterkeit und des Hohnes, die auf unsere ganze Weltansicht ein ebenso ungerechtes als trübes Licht werfen, halten wir noch für verzeihliche Capricen; wird doch durch sie höchstens der sittliche Wert des Lebens, nicht die historische Genauigkeit seiner Wahrnehmung zerstört! So kommt es, dass in unserer Vorstellung von psychischen Krankheiten, auch dann, wenn wir systematisch die Verstörungen des Gemüts unter sie mit aufnehmen, doch das Bild des Verstandeswahnsinns stillschweigend vorherrscht, und dass wir erst da das Gebiet jener Krankheiten beginnen lassen, wo eine geistige Zerrüttung, mag sie nun im Gemüt oder auf andern Wegen begonnen haben, sich bis zum Widerspruch gegen den Augenschein der Erfahrung steigert. Den Verzweifelten, den Traurigen, den Hypochondrischen, sie alle glauben wir um ihrer Stimmung willen diesem Gebiete noch nicht verfallen; sie berühren es auch dann noch nicht, wenn sie über den Zusammenhang der Welt, dessen Vorstellung dem Zusammenhang unsers alltäglichen Lebens so fern liegt, die abscheulichsten Ansichten ausbilden, aber sie betreten es sogleich, sobald der Fortgang ihres Leidens sie zu Irrungen über das fortreißt, was in ihrer nächsten Umgebung dem Augenschein offen liegt.
486. Vereinigen wir alle diese innerlich sehr verwandten Gesichtspunkte, so gewinnen wir eine Begrenzung der psychischen Krankheiten, die dem gewöhnlichen Gebrauche des Wortes nahe entspricht, ohne natürlich einen exakten Unterschied da herstellen zu können, wo keiner vorhanden ist. Wir rechnen zu den Geistesstörungen jene Zustände, die aus irgend welchen Ursachen entstanden nicht nur zu einseitigen Auffassungen und irrigen Ansichten über den Tatbestand gleichgiltiger fernliegender Verhältnisse, nicht nur zu falschen Wertverteilungen und Gefühlen, sondern durch beide diese Verkehrtheiten hindurch, oder auch unabhängig von ihnen, zu einer unwahren Auffassung und Deutung solcher Tatsachen führen, die den gewöhnlichen Umgebungen des Lebens angehören, und dem unbefangnen Augenschein offen stehen. Welche näheren Beschränkungen wir auch dieser Fassung noch geben müssen, um mit dem eigensinnigen Sprachgebrauche in Übereinstimmung zu bleiben, wird sich sogleich in dem Folgenden ergeben.