Rudolph Hermann Lotze
Medizinische Psychologie
Rudolph Hermann Lotze

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DRITTES BUCH.

VON DER GESUNDEN UND DER KRANKEN ENTWICKLUNG DES SEELENLEBENS.

ERSTES KAPITEL.

Von den Zuständen des Bewußtseins.

§. 35. Vom Bewußtsein und der Bewußtlosigkeit.

385. Als wir die Veranstaltungen betrachteten, durch welche unsere Organisation die Einwirkung äußerer Reize, ihre Wahrnehmung und die Verknüpfung der gewonnenen Eindrücke zu einer sinnlichen Weltauffassung begründet, hat dies nicht geschehen können, ohne über die Natur des Bewußtseins und manche seiner Eigentümlichkeiten, über Gedächtnis, Assoziationen und Wiedererinnerung jene Vorstellungen vorauszusetzen, die uns hierüber im gewöhnlichen Leben geläufig geworden sind. Kommen wir jetzt nun auf diese Verhältnisse des Bewußtseins ausführlicher zurück, so ist es doch nicht unsere Absicht, in Fragen einzugehn, die nur einer philosophischen Psychologie wichtig und lösbar sind; wir wenden uns vielmehr nur der einen Überlegung zu, in wie weit die bekannten Ereignisse, die uns die Geschichte des Bewußtseins darbietet, einer Mitwirkung körperlicher Organe bedürftig, oder umgekehrt auf diese zurückzuwirken fähig sind. Klar in ihrer Unmöglichkeit sind auch hier die Ansichten des Materialismus. Empfindung und Bewußtsein, als die natürlichen Effekte, die ein gewisses Größenmaß oder eine eigentümliche Form der nervösen Erregung herbeiführt, müssen freilich in ihrem Inhalte und in ihrer Intensität ebenso wechseln, wie physische Ursachen irgend welcher Art die Tätigkeit der Nerven bald hemmen, bald begünstigen, oder Gestalt und Richtung ihres Wirkens verändern. Nicht nur würde leicht aus einer gleichmäßigen Erschöpfung der Zentralorgane der Zustand völliger Bewußtlosigkeit hervorgehn, sondern auch das Vergessen einzelner Vorstellungen, das Ausfallen bestimmter Gedankenkreise, das übermäßige Hervordrängen anderer, der Lauf der Erinnerungen überhaupt würde bequem aus den verschiedenen Richtungen zu erklären sein, nach welchen die Erzitterungen der unzähligen nervösen Elemente sich kombinieren oder einander ausschließen. So wenigstens stellen sich die Hoffnungen des Materialismus, so lange er seinen Gesichtspunkt nur im Ganzen andeutet; ein Versuch in das Einzelne einzugehn, würde noch manche Schwierigkeit an den Tag bringen neben der allgemeinen Unmöglichkeit, aus physischen Prozessen der Nerven die Elemente des geistigen Lebens zu entwickeln.

386. Die Vorteile des Materialismus sucht eine andere Ansicht mit der richtigen Voraussetzung einer eigentümlichen Seele durch die Annahme eines besondern Organs des Bewußtseins zu vereinigen. Ein Werkzeug freilich, das der Seele die Fähigkeit des Bewußtseins überhaupt erst zubrächte, würde von allen Organen das widersinnigste sein, denn nie würde eine für sich des Wissens unfähige Seele durch Unterstützung einiges Nervenmarks die fehlende Fähigkeit erwerben. Aber die Ausübung eines vorhandenen Vermögens kann an Bedingungen gebunden sein. Unmittelbare Sympathie findet zwischen der Seele und der Außenwelt nirgends statt; nur das ist für uns vorhanden, was auf unsern Körper wirkt; nur die körperlichen Eindrücke wirken weiter auf unsere Seele, die unsere nervösen Substrate erregen und selbst von diesen Erregungen erzeugen nur die eine Wahrnehmung, die durch den ununterbrochenen Verlauf der Nervenfasern bis zu den Zentralorganen geleitet werden. Warum sollten wir nicht dieselbe Betrachtung fortsetzen und annehmen dürfen, dass selbst Erregungen, welche die Zentralorgane erreicht haben, auch dadurch noch nicht immer den Bedingungen der Wahrnehmbarkeit genug tun? Es könnte sein, dass auch von diesen Organen nur einzelne Teile in einem unmittelbaren Verkehr der Wechselwirkung mit der Seele stehen, während die übrigen nur bestimmt sind, die erworbenen Eindrücke bis zu jener Gestaltung zu verarbeiten, in der allein sie überhaupt der Seele zugeführt werden sollen. So würde das, was die Psychologie mit dem Namen der Schwelle des Bewußtseins bezeichnet, unter der Form eines eignen materiellen Organs vorhanden sein; nicht eines solchen, das selber Bewußtsein erzeugte, oder durch irgend eine geheimnisvolle Tätigkeit physische Oszillationen der Nerven in Empfindungen verwandelte, sondern nur in der Art einer Brücke, die den nervösen Erregungen zur Wirkung auf die vorstellungsfähige Seele überzugehen verstattet. Mit diesem Zentralorgane des Bewußtseins würden die einzelnen Sinneswerkzeuge in einer beständigen anatomischen, aber in einer veränderlichen physiologischen Verbindung stehen. Denn mancherlei Umstände können eintreten, welche diese Brücke von den Sinnen zur Seele überhaupt ungangbar machen und uns in Zustände allgemeiner Bewußtlosigkeit versenken oder doch den Eingang in das Bewußtsein nur wenigen Erregungen erlauben, die der eben vorhandenen Anfüllung desselben näher verwandt sind oder durch größere Stärke sich Zulassung erzwingen. Die andern zurückgewiesenen Eindrücke können unterdessen von den Sinnesorganen aufbewahrt werden und sie erringen sich vielleicht später Einlaß, während sie im Momente ihrer Erregung unbewußt vorübergehen müßten. Der ganze Lauf der Vorstellungen, ihr Verschwinden und Wiederauftauchen im Bewußtsein würde von dem wechselnden Glücke abhängig sein, mit welchem die Erregungen der Nerven, die ihnen zu Grunde liegen, und die wir als dauernde Nachbilder früherer Reize zu betrachten hätten, den Kampf um die Überschreitung dieser Brücke führen.

387. Einer solchen Ansicht beizustimmen, können wir jedoch keine Veranlassung finden. Was sie Unbezweifelbares enthält, ist nur dies, dass die Fähigkeit der Nervenerregungen, auf die Seele und ihr Bewußtsein einzuwirken, überhaupt an Bedingungen geknüpft ist. Aber die weitere Vorstellung, dass diese Bedingungen in der Erreichung eines lokal begrenzten Gehirnteiles bestehen, möglich wie sie ist, entbehrt doch aller innern Notwendigkeit, und sie enthält überdies einen Nebengedanken, der uns ihre Billigung unrätlich macht. Sie beruht nämlich auf der Voraussetzung, dass alle Erinnerung nur durch die Fortdauer der Erregungsreste früherer Wahrnehmungen erklärbar sei, und dass die Seele durch jeden äußern Reiz nur zu augenblicklicher Tätigkeit aufgestachelt werde, ohne die Fähigkeit, nach dem Aufhören desselben den gewonnenen Eindruck weiter zu verarbeiten. Denn nur unter dieser Voraussetzung lassen Schlaf, Ohnmacht und alle andern ähnlichen Zustände der Bewußtlosigkeit sich aus der Ungangbarkeil jenes Weges ableiten, der von den Sinnen zu der Seele führen soll; nur so kann die Unterbrechung beständiger Zuleitung neuer Eindrücke zu einer Inhaltlosigkeit des Bewußtseins, das heißt zum Verluste desselben führen. Sehn wir dagegen in der Seele selbst eine festhallende Kraft der Erinnerung, durch welche sie den Gewinn früherer Erregungen selbsttätig weiter bildet, so kann die Verschließung der Zuleitungswege äußerer Eindrücke sie doch nicht von ihrem eignen innern Reichtum scheiden und neben völliger Unempfindlichkeit nach außen würde doch ein ungehinderter Gedankenlauf der Erinnerung stattfinden. Eine deutliche Erklärung für die Zustände der Bewußtlosigkeit würde daher aus dieser Annahme eines Organs für das Bewußtsein nicht fließen, ohne dass man alle Vorteile wieder aufopfert, die man durch den Glauben an die Existenz einer von dem Körper unterschiedenen Seele zu sichern dachte.

388. Sehen wir, dass die Beschädigung irgend eines körperlichen Werkzeugs das Aufhören einer Funktion herbeiführt, so ist es freilich die gewöhnliche Schlußweise des alltäglichen Raisonnements, in dem verletzten Teile das unmittelbare Organ der wegfallenden Funktion zu sehen; eine vorsichtige Logik kann dagegen aus diesen Ereignissen nur folgern, dass überhaupt der Komplex der Bedingungen, an denen die Funktion hing, verändert und dadurch unvollständig geworden ist. Diese Zerstörung der nötigen Bedingungen aber kann für jeden Vorgang in einer doppelten Weise geschehen, dadurch, dass bewegende Kräfte wegfallen, und dadurch, dass ihrer weiteren Wirkung aufhebende Widerstände entgegentreten. Ruhe in der Körperwelt hängt ebenso leicht von der Abwesenheit der Bewegungsursachen als von der Hemmung bestehender ab. Ganz in gleicher Weise läßt das Schwinden des Bewußtseins die doppelte logische Möglichkeit zu, dass ihm Substrate entzogen sind, an deren Mitwirkung es gebunden war, oder dass seiner Äußerung Hindernisse begegnen. Welche von beiden Hypothesen durch das ganze Aussehn der vorkommenden Erscheinungen hier mehr als die andere empfohlen wird, ist eine noch offene Frage. Wir leugnen indessen nicht, dass der erste Anschein wenigstens der Annahme das Wort zu reden scheint, welche die Bewußtlosigkeit des Schlafs, der Ohnmacht, der Gehirnverletzungen und so vieler andern Krankheiten aus dem Aufhören der Funktionsfähigkeit körperlicher Organe ableitet. Wir müssen uns deshalb besonders bemühen, die Möglichkeit der entgegengesetzten Ansicht hier zu erläutern.

389. Es gibt Fälle genug, in denen die Bewußtlosigkeit von ursprünglich völlig geistigen Zuständen ausgeht, von dem Übermaß z. B. freudiger oder trauriger Affekte, und diese führen am natürlichsten zu der Vorstellung, dass das Leben der Seele in sich selbst Hemmungen erfahre, die von körperlicher Mitwirkung unabhängig sind. Auch diese Ereignisse deutet freilich jene Theorie nach ihrer Weise, indem sie annimmt, das auch sonst ja so sichtbare Mitleiden des ganzen Körpers im Affekte könne sich hinlänglich steigern, um die Zentralorgane zur Fortsetzung ihrer Bewußtsein erzeugenden Funktionen unfähig zu machen. Führt doch auch in andern Fällen jede sehr heftige Tätigkeit eine Erschöpfung herbei, gewaltsame Lichteindrücke die Blendung des Auges, Ermüdung der Muskeln lähmungsartige Unbeweglichkeit. Verfolgen wir jedoch diese Pathogenese der Ohnmacht genauer, so führt sie zu mancherlei Schwierigkeiten. Entstände die Ohnmacht stets von starken Sinneseindrücken, als deren nächste Wirkung sich eine bedeutende physische Erschütterung der Zentralorgane erwarten ließe, so würde sie leicht erklärbar sein; aber sie geht oft von einer Gedankenreihe aus, in deren Inhalt an und für sich gar nichts liegt, was eine besondere Abnutzung der Gehirnfunktionen herbeiführen könnte. Um nun hier deutlich zu sein, müssen wir daran erinnern, dass das Interesse der von uns bestrittenen Ansicht nur dahin geht, die Störungen des Bewußtseins entweder materialistisch als Störungen in der physiologischen Funktion der Zentralorgane zu fassen, oder wenn eine Seele noch als vorhanden angenommen wird, doch den Erregungen des Gehirns und ihren Kombinationen die Leitung des ganzen Gedankenlaufs zu überweisen. Unter diesen Voraussetzungen aber dürfte das Zustandekommen eben jener Affekte selbst unmöglich sein, als deren Folge die Erschöpfung der Zentralorgane eintreten sollte. Denn diese Affekte könnten, da sie nicht mehr Zustände einer Seele, sein sollen, nur in heftigen physischen Erschütterungen der Organe bestehen, für deren Herbeiführung es hier an Grund zu fehlen scheint. Nehmen wir an, es sinke Jemand im Schreck vor dem unvermuteten Anblick eines Ermordeten in Ohnmacht. Weder der optische Eindruck, der ihm hier zu Teil wurde, noch die Plötzlichkeit seiner Wirkung kann diese Folge für sich allein erklären; der Anblick des Blutes, an sich so harmlos, wie der jeder andern Farbe, kann nur durch die Vorstellungen, die er weckt, einen so nachdrücklichen Einfluß ausüben. Wir wollen nun dem Materialismus einen Augenblick zugeben, die Aufbewahrung der physischen Nervenerregungen im Gehirn sei so fein und so artig eingerichtet, dass die Reizung der Retina durch das Bild eines Leichnams in andern Gehirnfasern Oszillationen von solcher Art induziere, dass der Gedanke des Todes und manche andere Vorstellung von widerwärtigem Inhalt entstehe. Ist denn nun aber das, was die Gehirnfaser durch diese dem Begriffe des Todes entsprechende Oszillation leistet, etwas physisch so Großes und Bedeutsames, dass sie an dieser Leistung entweder sich selbst erschöpfen oder durch Übertragung ihrer Erregung andere Teile des Zentralorgans lähmen müßte? Gewiß nicht, denn die Vorstellung des Todes kann tausendmal mit aller Deutlichkeit reproduziert werden, ohne das Bewußtsein aufzuheben. Und dasselbe gilt von allem, was sich sonst noch etwa an Gedanken mit dem Bilde des Leichnams assoziieren möchte. Wie groß auch für unsere Seele, für unsere Selbstliebe, für unsere ästhetischen und moralischen Gefühle der abschreckende und störende Wert eines Inhalts sein mag, so nimmt durch ihn doch nicht die Größe und Schwierigkeit der physischen und funktionellen Leistung zu, welche die Nerven bei der Erweckung seiner Vorstellung auszuüben haben, und die Erinnerung an ein mathematisches Problem dürfte in den meisten Fällen mit einer stärkeren Störung und Abnutzung der Zentralorgane verbunden sein, als die Zuführung jener Eindrücke, deren intellektueller Wert uns bis zum Verluste des Bewußtseins erschüttert.

390. Es bliebe dem Materialismus nun übrig, den Nachweis zu versuchen, dass die Vorstellungen, welche hier die Ohnmacht hervorbringen, oder vielmehr die ihnen zu Grunde liegenden Nervenerregungen durch Erweckung von Gefühlen und Strebungen das leisten, was sie an sich zu leisten unfähig sind. Indem mit dem gesehenen Anblick eine Menge von Erinnerungen, Erwartungen und Befürchtungen, Zustände, deren Möglichkeit in einem materiellen Organ wir einstweilen zugeben wollen, aufgeregt würden, so könnte daraus vielleicht eine so gewaltsame Erschütterung der Zentralorgane hervorgehen, dass ihre Funktionsfähigkeit für die nächste Zeit erlöschen müßte. Allein ich muß es dem Materialismus selbst überlassen, diesen Nachweis zu führen, für wahrscheinlich halte ich sein Gelingen nicht. Denn wie sehr auch zuzugeben ist, dass die Vorstellungen durch Gefühle, die sie erregen, auf unsern Gedankenlauf und seinen Wechsel von Einfluß sind, so würde doch auch hier einzuwerfen sein, dass Erregungen, die nicht der Seele, sondern nur dem physischen Organe angehören, auch nicht nach Maßgabe ihres intellektuellen Wertes, sondern nur nach Proportion der physischen Anstrengung, die sie dem Gehirn verursachen, jene andern Zustände, Gefühle und Bestrebungen, hervorrufen würden. Eine Qual, die uns von außen wirklich zugefügt wird, mag die Zentralorgane schnell zu ihren Wirkungen untauglich machen; schon die Vorstellung dieser Qual hingegen, obgleich mit aller Aufmerksamkeit psychischer Teilnahme festgehalten und ausgemalt, vermag dies nur selten und ausnahmsweis; noch viel weniger wird jene bloß physische Erregung des Gehirns, aus der diese Vorstellung entspringt oder entspringen könnte, so lebhafte und energische Gefühle oder vielmehr zu Gefühlen führende Nebenoszillationen der Zentralorgane erwecken, dass um ihretwillen die Funktion derselben zessieren müßte. Wir glauben daher, dass in allen Fällen, wo die Ohnmacht von einem nicht sinnlich, sondern intellektuell wirksamen äußern Eindruck ausgeht, nicht dieser Eindruck es ist, der durch die Folgen, die er in den Zentralorganen hervorbringt, zuerst diese lähmt und dadurch die Bewußtlosigkeit herbeiführt, sondern dass die Erschütterung der Seele, die der Eindruck in ihr nur nach psychischen, nicht nach physischen Gesetzen veranlassen konnte, das Bewußtsein unterdrückt, und dann vielleicht lähmend auf die körperlichen Organe zurückwirkt.

391. Doch nicht einmal diese Rückwirkung der psychischen Erschütterung auf die nervösen Substrate möchten wir als einen notwendigen Bestandteil der ganzen Erscheinung der Ohnmacht anführen. Denn leicht könnte auch dies noch zu dem Mißverständnisse führen, als entstände die Bewußtlosigkeit nur daher, dass die Seele im Übermaß ihrer inneren Bewegung den Organen des Gehirns zu viel zumutete und sich durch ihre Beschädigung selber die Mittel zur Fortsetzung des Bewußtseins entzöge. Wir sehen vielmehr das Stocken des Bewußtseins völlig als ein innerliches psychisches Ereignis an, bei dem an und für sich die körperlichen Organe außer Spiel sind. Sie bleiben vielleicht völlig unbeschädigt, bieten fortwährend der Seele ihre Empfindungsreize dar, und erwarten von ihr Bewegungsimpulse, beides jedoch fruchtlos, weil die Seele selbst durch ihre inneren Zustände verhindert ist mit ihnen in Wechselwirkung zu treten. Nur die Beobachtung, dass während der Ohnmacht auch Funktionen verändert werden, die zwar von den Zentralorganen, nicht aber von der Seele abhängen, wie Respiration und Herzschlag, nötigt uns, jene Rückwirkung der psychischen Erschütterung auf das Gehirn als eine bestehende, für die Erklärung des Unbewußtseins aber keineswegs vorauszusetzende Tatsache anzuerkennen. Und ein Gleiches befiehlt uns die Wahrnehmung der ausgebreiteten und vielfachen Symptome gestörter Körperfunktionen, die schon die geringem Grade der Affekte noch ohne Verlust des Bewußtseins begleiten. Gewiß geben wir daher in allen diesen Fällen ein Leiden der Zentralorgane zu, aber wir halten es für einen unnützen Umweg, die Bewußtlosigkeit aus ihm und nicht unmittelbar aus dem Erschütterungszustande der Seele selbst herzuleiten.

392. Wenden wir uns nun von dieser Klasse der Erscheinungen zu jener Unterdrückung des Bewußtseins, die wir heftigen körperlichen Reizen folgen sehen, so können wir hier keinen Augenblick zweifeln, dass eine mächtige Erregung der Zentralorgane der Bewußtlosigkeit vorangeht und ihre Ursache ist. Aber auch hier braucht sie es nicht in dem Sinne zu sein, dass der Seele durch Störung eines ihr zum Bewußtsein behilflichen Organs die Fähigkeit zu diesem überhaupt abhanden käme; wir haben vielmehr auch hier ein Recht, die Erschütterung desselben als einen positiven Reiz zu betrachten, der gewaltsam auf die Seele einwirkt, und sie in innere Zustände versetzt, mit denen die Fortdauer des Bewußtseins nicht vereinbar ist. Man wird dies am leichtesten für schmerzhafte Eindrücke zugestehen, denn nicht allein fühlen wir hier die Beeinträchtigung, die unserm Wesen widerfährt, sondern wir beobachten schon bei geringeren Graden der Schmerzen die Hemmung, die durch sie die Freiheit unsers Gedankenlaufs und die Empfänglichkeit der Sinne für äußere Eindrücke erfährt; beides zu höherer Intensität gesteigert, können wir uns leicht als Grund einer völligen Unterdrückung des Bewußtseins denken. In vielen Krankheiten jedoch geht dem Verluste desselben kein bedeutender Grad von Schmerz voran und die Beobachtung der Kranken läßt uns auch kaum auf einen plötzlichen, schnell anwachsenden Schmerz schließen, der ihnen selbst nicht mehr beobachtbar, ihren Gedankenlauf in aller Geschwindigkeit abbräche. Allein wir zweifeln mit Unrecht in diesen Fällen daran, dass die körperliche Krankheit einen positiven Reiz auf die Seele ausübe; weder eine Vorstellung noch ein schmerzhaftes Gefühl des Eindruckes, der ihr widerfährt, dürfen wir als notwendig voraussetzen, nur seine beginnende Wirkung wird sich dem Bewußtsein vor seiner Hemmung einige Momente hindurch aufdrängen müssen. Vergleichen wir die gesunden Erscheinungen, so wissen wir ja, wie jeder Sinneseindruck zwar die fertige Empfindung in unserem Bewußtsein auftreten läßt, wie wir dagegen nirgends der Art zusehen können, in welcher er Nerven und Seele zur Erzeugung derselben bestimmt; wir sehen Gefühle in uns entstehen, ohne den Zwiespalt oder die Übereinstimmung der Reize mit den lebendigen Funktionen, worauf doch jene Gefühle beruhen, vorher beobachten zu können; wir führen gewohnheitsmäßig tausende von Bewegungen aus, ohne dass die Vorstellungen, von denen sie geboten werden, oder die Impulse, die wir in Folge derselben den motorischen Nerven mitteilen, irgend zu deutlichen Gegenständen unsers Wissens würden. Auch unter jenen Einflüssen, welche die Störungen des Körpers auf die inneren Zustände der Seele ausüben und durch welche sie die Fortdauer des Bewußtseins hindern, können sich daher leicht solche befinden, deren Eingreifen weder von uns bemerkt, noch vorher in der Gestalt eines störenden Gefühls empfunden wird. Nur ihre beginnenden Folgen, die Unruhe und Fassungslosigkeit unsers Gedankenlaufs, die Gefühle körperlicher Schwäche und Abspannung, das Versagen der sinnlichen Empfindungskraft, gemischt mit einzelnen nicht überall sehr bedeutenden Störungen des Gemeingefühls werden von dem schwindenden Bewußtsein vor seinem völligen Erlöschen wahrgenommen werden. Und so würde kein Einwurf von prinzipiellem Werte der Annahme entgegenstehen, dass in allen Fällen der Bewußtlosigkeit, sowohl denen, die von intellektuellen, als denen, die von sinnlichen Erschütterungen ausgehn, eine innere Hemmung des Seelenlebens, nicht aber die Störung eines Bewußtsein erzeugenden Organs als Ursache seines Schwindens zu betrachten sei.

393. Eine gewisse Unanschaulichkeit wird dennoch der Vorstellung, die wir hier verteidigen, vorgeworfen werden. Wir sind in unsern Konstruktionen der Ereignisse gewöhnt, aus dem Zusammenwirken vieler Elemente und ihrer Zustände Ruhe und Bewegung herzuleiten. Ein solches Objekt bieten uns die Zentralorgane mit ihrer unzählbaren Summe einzelner Teilchen, und obgleich wir physiologisch nicht anzugeben wüßten, was dem nervösen Substrat wirklich widerfährt, wenn es funktionsunfähig wird, so würden sich doch leicht eine Menge von Veränderungen namhaft und anschaulich machen lassen, von denen möglicherweise eine Unterbrechung seiner Verrichtungen abhängen könnte. Die Seele, die wir der Materie gegenüber als ein unteilbares Wesen betrachten, gewährt diese Bequemlichkeit der Konstruktion weniger, und es mag auf den ersten Blick uns schwer fallen, an einen solchen Widersreit ihrer inneren Zustände zu denken, der geeignet wäre, alle ihre Äußerungen momentan zu unterdrücken. Allerdings müssen wir es nun einer philosophischen Psychologie überlassen, durch den Versuch einer Konstruktion ein bestimmteres Bild der Vorgange zu entwerfen, die zur Unterbrechung des Bewußtseins führen können; dass dagegen dieser Versuch überhaupt möglich sei, dürfte auch hier sich klar machen lassen. Indem wir die Seele als eine immaterielle Substanz faßten, sind wir weit davon entfernt gewesen, sie mit dem Bewußtsein selbst zu identifizieren, so dass sie ohne eigenes auf sich selbst beruhendes Wesen gänzlich darin aufginge, Wissen zu sein. Nicht einmal ein Wissendes konnten wir sie nennen, denn auch das Bewußtsein dürfte uns nur für eine Äußerung ihrer Natur gelten, ihr anfänglich durch äußere Reize abgewonnen, und unterhalten durch die Fortdauer der empfangenen Eindrücke und deren beständige Bewegungen, die von Neuem auf sie zurückwirkend, ihr in jedem Augenblicke eine neue Gestalt des Wissens und seiner Objekte verursachen. Dass irgendwie von den gegenseitigen Verhältnissen dieser aufbewahrten Eindrücke die Form des Gedankenlaufs, seine Ausbreitung bald über eine Menge von Vorstellungen, seine Verengung bald zur Festhaltung nur weniger abhänge, wird man gern zugestehn. Dass andere Verhältnisse zwischen ihnen, dass endlich in der Natur der Seele selbst Zustände eintreten können, die der Fortdauer dieser ihrer Äußerungsweise, dem Bewußtsein, hinderlich sind, ist nur eine weitere Konsequenz dieser Ansicht, welche ohne Teile der Seele anzunehmen, dennoch eine der Verschiedenheit einwirkender Bedingungen angemessene Mannigfaltigkeit ihrer Erregbarkeit, und demzufolge auch die Möglichkeit annimmt, dass einzelne Formen ihres Seins und Tuns momentan gehemmt und unterdrückt werden. Die bewußtlose Seele haben wir deshalb nicht für eine leere anzusehn, in der alles Geschehen und jede Bedingung für den Wiedereintritt ihrer früheren Zustände aufgehoben wäre. Manche zusammengesetzte physische Prozesse, nachdem sie eine Zeit lang ein sichtbares Resultat hervorbrachten, gehen in Größenwerte und in Formen der gegenseitigen Kombination über, die ihnen jetzt einige Zeit hindurch die Forterzeugung desselben Effektes unmöglich machen; aber während sie Nichts nach außen leisten, geht doch der Umschwung ihrer Veränderung beständig fort, und dieselbe Bewegung, welche sie in den temporären Zustand der Wirkungslosigkeit hineinführte, bringt durch ihre Fortdauer sie wieder in neue gegenseitige Lagen, in denen ihnen die Wiederaufnahme ihrer Arbeit möglich wird. Ein solcher Zustand latenten Lebens ist es, den wir auch in der bewußtlosen Seele voraussetzen. Eine Mannigfaltigkeit innerer Veränderungen geht in ihr beständig fort, und mit derselben mechanischen Notwendigkeit, mit der der Anfang dieses Änderungslaufs ihr die Fortsetzung des Bewußtseins abschnitt, kann der Fortschritt desselben die Bedingungen seines Wiederauflebens herbeiführen. Sehen wir in den meisten Fällen, dass es körperliche Reize sind, durch welche das geschwundene Bewußtsein wieder erweckt wird, so bedeutet dies doch nichts Anderes, als dass der Umschwung der psychischen Zustände sie wieder dahin gebracht hat, dass eine Wechselwirkung der Seele mit den nervösen Organen von Neuem beginnen kann und dass die dadurch ermöglichte Zuleitung neuer Eindrücke die vollkommne Herstellung der psychischen Lebensbedingungen begünstigt. Wir dürften kaum hinzuzufügen haben, wie das, was wir hier von den Zuständen der Bewußtlosigkeit während des Lebens sagten, seine Anwendung auf die Erscheinungen des Todes findet. Ohne zu glauben, durch diese Ansichten die Unsterblichkeit der Seele sicher gestellt zu haben, entnehmen wir ihnen doch die Überzeugung, dass die Zufälle der Bewußtlosigkeit keinen Beweis von der Unentbehrlichkeit körperlicher Organe für ihre Fortdauer enthalten.

394. Ziehen wir nun den Inhalt des Geäußerten kurz zusammen, so fanden wir die Ansichten des Materialismus überhaupt unzulänglich, um die Möglichkeit der Gemütserschütterungen aus intellektuellen Ursachen zu begründen; die Annahme eines Organs für das Bewußtsein einer selbständigen Seele dagegen war nur geeignet, die Empfindungslosigkeit gegen äußere Eindrücke, nicht aber das Schwinden der Erinnerung und des Gedankenlaufs zu erklären; die Behauptung endlich, dass die Gemütserschütterungen nur durch Rückwirkung auf die Zentralorgane das Bewußtsein hemmten, schien uns ein unnötiger Umweg der Erklärung. In allen Fällen, setzten wir voraus, entstehe die Bewußtlosigkeit aus einer inneren Hemmung, welche die Natur der Seele nötige, von dieser Form ihres Daseins und Wirkens abzulassen. Zu dieser Hemmung aber konnten sowohl die positiven Eindrücke physischer Leiden, auch wo sie selbst nicht wahrgenommen werden, als auch anderseits unmittelbar die Erschütterungen führen, die der Seele aus Erregungen von nur intellektuellem Werte zugefügt werden. Wir geben endlich für die letztern eine lebhafte Rückwirkung auf die Zentralorgane zu, ohne diese jedoch als notwendige Bedingung für den Verlust des Bewußtseins anzusehn.

395. Unter allen Zuständen der Bewußtlosigkeit müssen wir des Schlafes, als einer natürlichen Erscheinung des gesunden Lebens, besonders gedenken. Ohne Zweifel hat dies periodische Abnehmen der geistigen Verrichtungen seine bestimmten Ursachen und Zwecke in der allgemeinen Ökonomie des Lebens, doch sind wir noch weit davon entfernt, beide mit einiger Genauigkeit angeben zu können. Der leicht sich darbietende Gedanke, dass der Wiederersatz verbrauchter Massen und Kräfte die periodische Unterbrechung des weiteren Verbrauchs gebiete, reicht weder an sich zur Motivierung des Schlafes hin, noch ist er völlig in Übereinstimmung mit den beobachteten Tatsachen. Ohne zu leugnen, dass auch die abstraktesten geistigen Verrichtungen eine Konsumtion organischer Elemente herbeiführen, deren Wiederherstellung für die Fortdauer des Lebens unentbehrlich ist, verstehen wir doch nicht von selbst, warum dieser Ersatz in periodischen Absätzen erfolgen müsse, und warum nicht hier, wie sonst in dem lebendigen Körper das Prinzip einer augenblicklichen Korrektion der kleinsten Störungen vorgezogen werden konnte. Atmung und Zirkulation dauern beständig fort, der Austausch zügeführten Bildungsmaterials mit den Resten abgenutzter Bestandteile kann ohne Unterlaß fortgehen, und es schiene daher, als wenn eine Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit nicht für sich selbst das periodische unterbrechen aller wirklichen Ausübung der Tätigkeiten erforderte. Noch weniger können wir behaupten, dass wirklich der Schlaf überall nur aus dem Ersatzbedürfnis entstehe, welches die Anstrengungen des Körpers und der Seele hervorgebracht haben. Denn weder seine Dauer noch seine Tiefe ist diesem Bedürfnisse proportional; wenigstens nicht in der Art, dass eine geringere Größe der Abnutzung beide verminderte. Mag daher immer der Zweck seines Eintretens in einer Vorbereitung und Begünstigung jenes normalen Wiederersatzes bestehen, so sind doch die Ursachen, die ihn herbeiführen, nicht allein durch diesen Zweck gegeben, sondern zum Teil von ihm unabhängig erregen sie den Schlaf auch da, wo seine teleologische Notwendigkeit ihn keineswegs motivieren würde. Dies zeigt sich am meisten in den angewöhnten Schlafzeiten; die Gewöhnung vermag hier wohl das Eintreten gewisser Stimmungen zu begünstigen, welche durch positive Wirkungen den Schlaf herbeiführen, aber sie kann nicht unmittelbar die Größe der geschehenen Abnutzung vergrößern und dadurch seine Notwendigkeit steigern. Aber auch allgemeiner sind wir weder berechtigt, noch genötigt, die Bewußtlosigkeit des Schlafes von einer lähmungsartigen Unfähigkeit von Organen abzuleiten, die da bestimmt wären, durch ihre Tätigkeit Bewußtsein zu erzeugen. Je gesünder der Mensch ist, desto leichter und schneller versinkt er in tiefen Schlaf, sobald er sich ihm hingeben will, und weder seine körperlichen noch seine geistigen Kräfte zeigten wenige Minuten vor dem Einschlafen eine Beeinträchtigung, groß genug, um eine so rasch erfolgende Lähmung derselben wahrscheinlich zu machen. Vergleichen wir daher den gesunden Schlaf der Gewohnheit, den nach heftiger Ermüdung und endlich jene Schlafzustände, die in Folge von Krankheiten eintreten, so müssen wir annehmen, dass sie alle ihre nächste Ursache in positiven Eindrücken haben, welche auf die Zentralorgane und durch sie das Bewußtsein hemmend auf die Seele einwirken; dass dagegen diese Eindrücke selbst ihre entfernteren Ursachen nicht allein in der Größe des Bedürfnisses, sondern in manchen andern teils gesunden teils pathologischen Umstimmungen der Nerventätigkeit finden.

396. Um den Grund dieser Umstimmungen hat man sich längst vergeblich bemüht. Eine Sympathie des organischen Lebens mit dem Wechsel von Tag und Nacht widerlegte sich einfach teils durch die verschiedenen Schlafzeiten verschiedener Tiergattungen, teils durch die geringe Schwierigkeit, welche uns die willkürliche Verlegung der unserigen verursacht. Eine periodische Abwechslung von Verhältnissen, die zwischen dem cerebrospinalen und dem sympathischen Nervensystem obwalten sollten, hat weder bewiesen noch auf einen klaren Ausdruck gebracht werden können. Ist es auch wahrscheinlich, dass im Schlafe manche vegetative Tätigkeit kräftiger ihre Produkte bildet, als im Wachen, so liegt es doch zu nahe, diese Steigerung von der begünstigenden Ruhe des Körpers und dem Mangel fernerer Abnutzung herzuleiten, als dass man sie für das Zeichen eines ursprünglichen Überwiegens ansehn müßte, durch welches die Kraft des Gangliensystems die des Gehirns in Schranken hielte. Anderseits können wir nicht sagen, dass das Wachen die Ernährungsfunktionen in irgend merkbarem Grade benachteilige. Die Verdauung unseres Mittagsmahles fällt bei gewöhnlicher Lebensweise in die Zeit des Wachens; höchstens die Benutzung des Assimilierten zum wirklichen Ansatz in dem Parenchym des Körpers könnte man, obwohl durchaus nicht mit Notwendigkeit, zum größeren Teile der Schlafzeit vorbehalten. Und endlich, welchen vernünftigen Zweck und Grund würde jenes Wechselverhältnis zwischen beiden Nervengebieten haben? Es kann der Natur nicht darauf angekommen sein, das Spielwerk einer polaren Schaukelung hervorzubringen; fände jener Antagonismus statt, so müßte er durch andere unvermeidliche Gründe in der Ökonomie des Lebens bedingt sein. Wir müssen zugeben, dass wir solche zwar voraussetzen, aber nicht genau angeben können. An Erscheinungen, die für unser Bewußtsein merkbar, dem Schlafe vorangehen und ihn uns ankündigen, fehlt es zwar nicht, aber sie sind nicht von der Art, dass sie die Natur der schlaferzeugenden Vorgänge deutlich machten; sie lehren uns nur, dass positive Verstimmungen der Zentralorgane eintreten, unter deren Einfluß allmählich die Seele der bewußten Lenkung ihres Gedankenlaufes entsagt. Müdigkeitsgefühle, Empfindungen der Abspannung, den vorausgegangenen Anstrengungen nicht immer entsprechend, finden sich ein; ein eigenes Wohlgefühl von sanftem Druck lagert sich leise um die Schläfe zwischen Aug und Ohr und hüllt sich steigernd und ausbreitend diese Sinne in seine Nebel; ein ähnliches Gefühl legt sich mit sanften Banden um die Handgelenke und um alle Gelenke des Körpers. Auch am Halse, der Herz- und Magengegend, und längs des ganzen Rückgrats melden sich nicht selten ähnliche Empfindungen, eine Art von Kitzel, auch wohl von einem gelinden Frösteln begleitet; dieselbe Empfindung in der Umgegend der Rückgratsäule ist es, die das Gähnen oder wenigstens einen Gähnungsversuch hervorbringt; ein anderes Mal trägt sie sich auf die Muskelnerven über und äußert sich in einem allgemeinen Dehnen. (Purkinje in Wagners HWBch. III. 2. S. 420.) Die Muskeln selbst, ohne ihre Fähigkeit zu kraftvollen Kontraktionen zu verlieren, büßen dazu doch die Geneigtheit ein, die ihnen im Wachen ein stets unterhaltener Nerveneinfluß verschafft; der Kopf neigt sich zurück und vor Allem verursacht die Konvergenz der Augenachsen und die Fixierung des Blickes ein Gefühl zunehmender Anstrengung; die Augenlieder werden schwer und sinken nieder und so sammelt sich namentlich in der Umgebung des Gesichtssinnes eine Menge leiser und doch so mächtiger Empfindungen des Gemeingefühls, unter deren immer steigender Einwirkung und niederziehendem Gewicht die Seele es allmählich aufgibt, äußere Gegenstände mit Interesse zu verfolgen. Bald hebt dann der fortschreitende Einfluß jener unbekannten Prozesse, deren beobachtbare Symptome diese Gefühle sind, die Empfänglichkeit der Nerven noch weiter auf und führt die Seele in eine Bewußtlosigkeit über, die doch im gesunden Zustand selten so tief ist, dass sie nicht einzelnen Sinnesreizen, den Tönen und Hautgefühlen erlaubte, wenigstens dunkel wahrgenommen zu werden. Die Fortdauer des Schlafes stören nicht diese kleinen Eindrücke, sondern nur ihr schneller Wechsel; ein rasch eintretendes Geräusch erweckt uns, während wir unter dem Lärm eines allmählich angewachsenen Sturmes noch lange fortschlafen können; vom plötzlichen Stillstand der Mühle erwacht der Müller, Kinder oft wieder in dem Augenblick, wo der Schwung der Wiege und das Lied der Wärterin zu Ende geht.

397. Die Vergleichung des künstlich erzeugten und des krankhaften Schlafes führt uns in der Kenntnis seiner Ursachen nicht weiter. Eine Menge Eindrücke, welche dieselben Empfindungen erregen, die dem Schlafe voraufzugehen pflegen, führen auch ihn selbst oder doch eine bemerkbare Schläfrigkeit herbei. Große mattweiße Flächen, der bedeckte Himmel, gekreuzte Stellung der Augenachsen, das Betrachten eines nahen, der Stirn benachbarten Gegenstandes mit schief aufwärts gewendetem Blick, ermüdet unsere Augen in derselben Weise, in der sie dem Schlafe vorangehend abgespannt werden, selbst der längere Anblick langsamer monoton wiederkehrender Bewegungen, noch mehr ihre Empfindung durch das Muskelgefühl beim Wiegen, Fahren, Schaukeln, das Kämmen, Streicheln, das Anhören einer oft wiederkehrenden einfachen Melodie und viele andere ähnliche Eindrücke stimmen uns ohne alles ernstere Bedürfnis schläfrig, indem sie teils jene sinnlichen Empfindungen, teils die eintönigen Formen des Gedankenlaufs reproduzieren, die den beginnenden Schlaf einleiteten. Unter den Ursachen des krankhaften Schlafes nennen wir die Veränderungen in der Mischung des Blutes, das bald zu arm an aufregenden Bestandteilen die Schlafsucht der Inanition herbeiführt, bald durch abnorme Elemente, zurückgehaltene Gallenstoffe, eingeführte Spirituosa und Narkotika heftige, aber durchaus unbekannte Zerrüttungen der Nervensubstrate verursacht. Jeder ausgebreitete Druck des Gehirns ferner, durch Geschwülste, durch Exsudate, durch Hemmung des Blutrückflusses entstanden, bringt Zustände bald beständiger Schläfrigkeit, bald der tiefsten Bewußtlosigkeit hervor; die Unterbrechung endlich der Zirkulation in der Ohnmacht führt durch ähnliche, aber rascher sich folgende Symptome, wie der gesunde Schlaf, zum Schwinden des Bewußtseins. Nicht einmal die dürftigen Anschauungen, die wir über die Entstehungsgeschichte dieser Zufälle noch haben, stehen uns in Bezug auf andere Formen der Bewußtlosigkeit zu Gebot, wie sie bei Katalepsie, Ekstase, und andern nervösen Krankheiten beobachtet werden. Dass endlich auch eine willkürliche Neigung den Schlaf erzeugen könne, haben wir nur mit einem Worte zu erwähnen; schwerlich gelingt uns jedoch seine Herbeiführung nur durch den absichtlichen Nachlaß der Aufmerksamkeit, viel mehr durch Hingabe an jene Empfindungen, die ihn einzuleiten pflegen. Die Schließung der Augen, die Aufsuchung einer passenden Stellung reichen nicht überall aus, man ist genötigt, sich künstlich einen monotonen Gedankenlauf zu verschaffen, der das Bewußtsein beschäftigt und es von aufregenderen Objekten abwendet; man hört z. B. der Abwechslung des Atmens zu, oder lauscht auf seine Pulsschläge, oder reproduziert die Erinnerung an einförmige Melodien. Alle diese Kunstgriffe verfehlen am häufigsten ihr Ziel, wo ungestillte Gemütsbewegungen, körperliche Schmerzen, Hautreize oder eine jener unbekannten Verstimmungen der Zentralorgane ihnen entgegenwirken, die als Vorläufer des ausbrechenden Wahnsinns langdauernde Schlaflosigkeit und beständige Unruhe der Nerven verursachen.

398. Am Schlusse dieser kurzen Betrachtung, die wir im Folgenden bei mehreren Gelegenheiten zu vervollständigen haben werden, kehren wir noch einmal zu jener Hypothese über ein Organ des Bewußtseins zurück. Man ist nicht gezwungen, ein solches Organ lediglich als eine indifferente Brücke zu fassen, über welche hinweg nur die ankommenden Reize eine aufregende Wirkung auf die Seele ausübten. Wie es überhaupt die Wechselwirkung zwischen Seele und Körper vermittelt, so könnten auch seine eigenen Veränderungen durch den Gesamteffekt aller zugeleiteten Erregungen unter Umständen einen hemmenden Einfluß auf die Seele üben, wie sie unter andern Umständen eine beständige rastlose Aufreizung in ihr unterhalten. Es würde in dieser Weise möglich sein, sowohl Bewußtsein als Bewußtlosigkeit von der Wirkungsart eines materiellen Zentralorgans abzuleiten. Doch bekenne ich, den Vorteil nicht zu sehen, den diese Annahme für die Erklärung der Erscheinungen etwa darbieten könnte. Denn da wir unmöglich ein Organ für das Bewußtsein, ein anderes für den Schlaf voraussetzen können, so wird es doch zuletzt immer von der qualitativen Form und Eigentümlichkeit der Erregungen abhängen, ob sie das erste oder den zweiten bewirken. Dann aber können sie, was sie tun, ohne besonderes Organ ebenso leicht, als mit ihm tun. Ich begnüge mich daher, die, denen diese Hypothesen der Aufmerksamkeit wert scheinen, auf Purkinje's Erörterungen hierüber zu verweisen. (Wagners HWBch. III. 2. S. 472 ff.)


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