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370. Vergleichen wir die Empfindungen, die unsere Sinne uns erregen, mit dem, was wir denkend als die wahren Eigenschaften der Gegenstände betrachten müssen, so erscheint uns die gesamte sinnliche Weltauffassung nur als eine große fortgesetzte Täuschung. Die Farben, die wir an den Dingen zu sehen glauben, die Töne, die wir als ankommend aus einer äußern Natur zu hören meinen, sie sind alle nicht außer uns, sondern in uns, und für die physikalische Reflexion liegt die objektive Welt als ein Aggregat bewegter oder ruhender Elemente um uns, weder hell noch finster, weder laut noch still, weder ähnlich noch entgegengesetzt irgend einer unserer sinnlichen Anschauungen. Dieses Reich nur den Größenverhältnissen zugänglicher Dinge belebt allein die philosophische Weltansicht wieder, indem sie in seinen Atomen eine innerliche Lebendigkeit ahnt, unserem eignen Dasein ähnlich, aber unserer unmittelbaren Beobachtung beständig entzogen. Täuscht uns jedoch unsere Sinnlichkeit hierüber ohne Unterlaß, so würde doch nicht das die wahre und vernünftige Weltauffassung sein, dass wir in jedem Augenblick uns zwängen, diese Täuschung zu berichtigen; sondern wir sind bestimmt, in ihr zu leben, und der zuversichtliche Glaube an die Objektivität des Inhalts der Sinnlichkeit ist uns für unser alltägliches Wirken ebenso unentbehrlich, als für die Wissenschaft die Einsicht, dass sie dennoch eine Illusion ist. Innerhalb dieser großen Täuschung aber sind wir andern kleineren Irrtümern unterworfen, indem wir die Aussagen unserer Sinnlichkeit nicht überall so deuten, wie ein Anderer oder wie wir selbst sie unter günstigeren Nebenumständen der Wahrnehmung auslegen würden. Über die Natur dieser mannigfachen einzelnen Sinnestäuschungen ist mancher bedeutungslose allgemeine Streit geführt worden; man hat vielfach verhandelt, ob die Sinne es sind, die sich irren, oder ob unser Verstand allein die Eindrücke der Sinnlichkeit falsch auslegt. Ursprünglich treten die Sinnesempfindungen allerdings stets nur mit ihrem qualitativen Inhalt im Bewußtsein auf und schließen keine Behauptung über ihren Ursprung oder ihre notwendige Zurückdeutung auf ihre objektiven Veranlassungen ein. So wird man denn freilich immer Recht haben, wenn man unserer Beurteilung, die jene Zurückdeutung zu vollziehen hat, die Schuld des Irrtums gibt. Sehen wir jedoch die Sinnesorgane als Werkzeuge an, deren Bestimmung es ist, über Verhältnisse der Außenwelt eine wenn nicht getreue und aufrichtige, so doch in sich konsequente Kunde zu bieten, so müssen wir zugeben, dass auch das Material, welches unserer Beurteilung durch sie vorgelegt wird, in sich selbst unrichtig und inkonsequent sein kann, und dass sie durch diese Unvollkommenheit ihrer Leistungen unser Urteil oft in hohem Grade selbst verleiten. Es hat einiges Interesse, aus der großen Mannigfaltigkeit des Irrens, dessen Gebiet natürlich unbegrenzt ist, die wesentlich verschiedenen Gruppen der Täuschungen hervorzuheben.
371. Unter ihnen müssen wir zuerst der subjektiven Empfindungen gedenken. Dazu bestimmt, von äußern Einflüssen gereizt zu werden, stehen doch die Sinnesorgane auch allen zufälligen Einwirkungen offen, die aus dem Innern des eignen Körpers herrührend, sie in ähnliche Erregungen versetzen können, wie die sein würden, mit denen sie den äußern Eindruck beantworteten. Krankhafte Veränderungen ferner stimmen häufig die Empfänglichkeit der Organe um, und lassen dem äußern Reiz eine Nachwirkung folgen, oder ihn in einer Gestalt zum Bewußtsein kommen, die ihm in der Auffassung eines Andern nicht zu Teil werden würde. Innerhalb der allgemeinen Subjektivität aller Wahrnehmung verdienen daher diese Zustände allerdings den Namen subjektiver Empfindungen besonders, denn sie sind individuelle, dem Einzelnen angehörige Eindrücke, über die kein Anderer mit ihm übereinzustimmen braucht. Die natürlichste Voraussetzung jedes Empfindenden ist aber gewiß die, dass der Inhalt seiner Empfindung ihm gemeinschaftlich mit jedem Andern sei, der sich unter denselben äußern Bedingungen der Wahrnehmung befindet, und mit ihm in derselben objektiven Welt lebt; eine Sinnestäuschung wird die natürliche Folge dieses Vertrauens sein, indem das, was nur dem individuellen Zustande seine Entstehung verdankt, auf eine allen Subjekten geemeinsame Welt bezogen wird. Der nervös Verstimmte wird den Frostschauder, den er fühlt, für äußere Kälte, wer an Chromalopseudopsie leidet, Rot und Blau oder Rot und Grün für dieselbe Farbe halten müssen, da sein Organ ihm beide als gleich darstellt; subjektive Gesichtsempfindungen werden wir ebenso für Bilder von Objekten ansehen, als wenn sie wirklich durch einen von außen kommenden Reiz der Retina entstanden wären. Auf dieses unabsehbare Gebiet von Irrtümern soll uns jedoch erst später die Betrachtung des Wertes zurückführen, den sie für die Entstehung und Ausbildung allgemeinerer Seelenstörungen besitzen.
372. Eine andere Gruppe von Täuschungen ist unter allen Umständen allen Individuen gemein; sie rühren von der Unvollkommenheit her, mit welcher die Sinnesorgane Qualitäten und Verhältnisse der Objekte zur Auffassung bringen. Kein Sinn ist von ihnen frei und sie zerfallen in eine große Mannigfaltigkeit einzelner Arten, von denen wir nur wenige hier auszeichnen wollen. Schon über die einfachsten Eigenschaften der Gegenstände täuschen wir uns häufig, denn nicht alles, was an ihnen verschieden ist, wirkt auf unsere Sinnesorgane verschieden ein; manche für sich sehr abweichende Beschaffenheiten der Objekte üben vielmehr auf sie einen sehr gleichartigen Einfluß aus. Einen glatten und kalten Körper halten wir leicht für naß, obwohl er trocken ist; eine kalte Last scheint auf die Haut mehr zu drücken, als eine erwärmte; ein Stich ist schwer von der Berührung mit einem heißen Körper zu unterscheiden. Ohne gleichzeitige Gesichtswahrnehmung, die durch eine erregte Erwartung den spätern wirklichen Eindruck verstärkt, sind unsere Geschmacksempfindungen undeutlich genug, um uns roten und weißen Wein verwechseln zu lassen; selbst die Empfindlichkeit der Mundhöhle ist nicht hinreichend, um den Raucher über das Brennen oder Nichtbrennen seiner Zigarre zu versichern. Doch sind diese Verwechslungen einfacher Qualitäten der Eindrücke nicht zu häufig, und wir entlehnen sie überdies der Beobachtung ziemlich ungeübter Sinne; ein Indianer Nordamerikas würde über sie vielleicht andere Erfahrungen haben.
373. Desto häufiger sind Irrungen über die räumlichen Verhältnisse der Gegenstände, und an ihnen ist besonders der Gesichtssinn reich. Seine Wirksamkeit besteht darin, eine stereometrisch ausgedehnte Welt auf einer Fläche abzubilden; niemals kann daher das Netzhautbild eine Reihe wahrer Gestalten der Objekte enthalten, vielmehr bietet es uns anstatt ihrer stets nur ihre Projektionen auf die gekrümmte Obertfläche der Retina dar. So ist denn das Bild, das unserer Deutung auf eine äußere Welt entgegensieht, stets eine anamorphotisch verschobene Darstellung derselben, behaftet mit allen den Irrtümern, die aus der Verschiedenheit einer körperlichen Gestalt und ihrer Projektion auf eine Fläche hervorgehn müssen. Wenn irgendwo, so können wir hier sagen, dass der Sinn es ist, der die Täuschung veranlaßt; denn hier haben wir nicht nur eine Summe von Eindrücken vor uns, deren Verhältnisse unser deutender Verstand erst zu bestimmen hätte; vielmehr werden sie uns von dem Organe unmittelbar mit einem Reichtume falscher gegenseitiger Beziehungen dargeboten, und die Deutung hat die Irrtümer dieser Auffassung zu verbessern. Dies gelingt uns nie so, dass der Inhalt der Empfindung selbst sich änderte; wir können nur unser Urteil im Widerspruch mit der beständig falsch bleibenden Aussage des Auges feststellen. Verfolgen wir den Gang der Lichtstrahlen von den Objekten bis zu der Netzhaut, so muß unvermeidlich Jedem der Horizont des Meeres höher zu liegen scheinen, als das Ufer vor seinen Füßen; die entlegneren Räume einer Allee müssen sich zu nähern, die Breite des Weges zwischen ihnen abzunehmen, ein senkrechter Turm, an dessen Seite wir hinaufsehen, über unser Haupt sich herüberzuneigen scheinen; alle Objekte endlich muß die Entfernung verkleinern, alle Wölbungen sich als eben darstellen, alle hintereinandergelegenen Kanten der Körper sich decken. Diesem falschen Anschein entzieht sich Niemand, und selbst der Wanderer, der recht gut weiß, dass er eine lange, sanft ansteigende Chaussee beschreitet, ist, so oft er in der Dämmerung von neuem das Auge erhebt, dem Irrtum doch momentan wieder unterworfen, einen Turm vor sich zu sehn.
374. Solchen Täuschungen zu entgehen, besitzen wir keine andern Mittel, als die Erinnerung früherer Erfahrungen, die uns gewöhnt haben, gewisse scheinbare Verhältnisse der Dinge auf ihre wahren zurückzudeuten. Ist uns die Natur und damit auch die wahre Größe eines Gegenstandes von früher her bekannt, so leiten wir aus seiner scheinbaren Größe die Weite seiner Entfernung ab. Ist uns die wahre Größe des Objekte unbekannt, aber seine Entfernung aus andern Zeichen beurteilbar, so schätzen wir nach der scheinbaren Größe, die ihm diese Entfernung noch läßt, seine wahren Dimensionen. Sind uns beide, Entfernung sowohl als wahre Größe des Gegenstandes unbekannt, so haben wir ein sicheres Maß der letzten nur an der Vergleichung mit den scheinbaren Größen bekannter Objekte, die wir in seiner Nähe sehen, und bestimmen so etwa die Höhe eines Baumes nach ihrem Verhältnis zu der scheinbaren Größe eines Menschen, der neben ihm steht. Selten wird uns jedoch dieses Hilfsmittel zu Gebot sein; wenden wir unsere Augen auf eine Landschaft, so begegnen wir meist innerlich maßlosen Gegenständen, oder solchen, deren Begriff höchstens ein Übermaß in der Annahme ihrer natürlichen Größe verbietet. Berge, Felsen gehören der ersten, Bäume, Häuser der zweiten Gruppe an, und unsere Hoffnung, die wahren Größen dieser Bestandteile einer Landschaft zu schätzen, beruht hauptsächlich auf der Möglichkeit, vorher ihre Entfernung zu bestimmen. Hierin begünstigen uns mehrere Umstände. Vor allem bildet der Raum um uns her ein zusammenhängendes Ganzes; wir sind im Stande, die wahre Größe der Entfernung ziemlich genau zu schätzen, die sich zwischen zwei nahen Gegenständen befindet; diese Linie nehmen wir zur Basis einer Berechnung, in welcher wir zu den entferntem Gegenständen allmählich und durch Schätzung vieler Mittelglieder ungefähr in derselben Weise vorschreiten, in der mit größerer Schärfe der Mathematiker trigonometrische Messungen ausführt. Die Sicherheit unsers Urteils leidet daher wesentlich in Bezug auf Objekte, von denen unser Standpunkt durch eine größere gleichförmige Ausdehnung getrennt ist, die keine Punkte der Vergleichung darbietet. So geschieht es uns, wenn wir auf einem Berge stehen, und das Tal zu unsern Füßen Nebel füllt, oder wenn eine gleichförmig bewachsene Wiese, eine wüste Heide sich um uns ausbreitet. Andere Erfahrungen kommen uns hier zu Hilfe. Lichtstarke und deutliche Bilder gehören im Allgemeinen größerer Nähe an; was uns trüber erscheint, oder mit ineinander verschwimmenden Grenzen seiner kleinsten Teilchen, das versetzen wir in weitere Ferne. Doch unter allen Beurteilungen ähnlicher Art täuscht diese am häufigsten; nicht nur weil wirklich entferntere Objekte an Helligkeit oft die nahen übertreffen, sondern weil die wechselnden Zustände der Atmosphäre die gewohnten Proportionen zwischen Deutlichkeit und Entfernung nicht selten verändern. Dem Neuling in den Alpen erscheinen bei heiterem Wetter alle Entfernungen wegen der Schärfe der Bilder verkürzt, dem Wanderer im Nebel die nächsten Gegenstände in unbestimmbarer Ferne. Die größere Durchsichtigkeit der Luft, die oft dem Regen vorangeht, läßt uns die Gegenstände, indem sie ihre Bilder klarer macht, ohne sie doch zu vergrößern, als näher und kleiner beurteilen; der Regen selbst, indem er sie verschleiert und ihre Umrisse trübt, ohne doch ihren Gesichtswinkel zu verkleinern, läßt sie uns entfernter und größer erscheinen. Wie sehr ferner die Verteilung von Licht und Schatten, an der allein wir die eckige, gewölbte oder flache Form der Gegenstände unterscheiden, allerlei Täuschungen herbeiführt, davon gibt uns die Malerei, einzig auf die Benutzung dieser Irrtümer gegründet, das ausreichendste Beispiel.
375. Neben diesen Anleitungen der Erfahrung besitzen wir jedoch zur Beurteilung der Entfernung auch in der physiologischen Organisation der Augen einige Hilfsmittel. Für nahe Gegenstände erregt die größere oder geringere Konvergenz unserer Augenachsen, durch welche wir den Blick auf sie fixieren, sehr merkbare Gefühle, obgleich keine solchen, dass aus ihnen genauere Größenbestimmungen über die Differenz zweier Entfernungen nach der Tiefe des Raumes zu sich ableiten ließen. Indem wir ferner ein Objekt abwechselnd mit dem einen oder dem andern Auge betrachten, ändert sich seine Stellung zu dem Hintergrunde sehr bedeutend, wenn es uns nah ist, ganz unmerklich bei größern Entfernungen. Aber indem wir den Kopf nach rechts oder links neigen, oder einige Schritte in beiden Richtungen tun, verlängern wir die Grundlinie des Dreiecks, dessen Spitze der Gegenstand, und dessen Seiten die Richtungen unsers Blickes nach ihm bilden und vergrößern dadurch die Parallaxe desselben gegen den Hintergrund. So fehlt es durch die Konstruktion des Auges und die ihm zu Hilfe kommende Bewegung nicht an Mitteln, die Entfernungen der Objekte in der Tiefe des Raumes mit leidlicher Genauigkeit zu beurteilen. Eine andere Unterstützung liegt in dem Gefühle, welches wir von der Akkommodation unseres Auges für größere oder kleinere Entfernungen empfinden. Worin auch ihr noch unbekannter Mechanismus liegen mag, so ist es doch weder zweifelhaft, dass sie überhaupt besteht, noch dass sie an einem eigentümlichen Gefühle größerer oder geringerer Anstrengung von uns wahrgenommen wird. Doch sind diese Empfindungen graduell nicht so vergleichbar, dass man aus ihnen mehr, als ein unbestimmtes Mehr oder Minder der Entfernung ableiten könnte. Dagegen gibt die Einrichtung des Blickes auf eine bestimmte Distanz häufig zu Täuschungen über die Größe der Objekte Veranlassung, die sich näher oder ferner dem Auge darbieten. Wer in Gedanken versunken, einen Punkt auf dem gegenüberliegenden Dache fixiert, ohne ihm deswegen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, mag leicht das undeutliche Bild, das eine Fliege an seinem eigenen Fenster in sein Auge wirft, für die Erscheinung eines Vogels auf jenem Dache halten, oder für ein Ungeheuer, das unmittelbar an seinem Haupte vorüberfliegt. Vorfälle dieser Art sind nicht ganz unwichtig; denn die Erscheinung eines großen dunkeln und schlechtbegrenzten Bildes in der Nähe der Augen pflegt mit einer heftigen Überraschung verbunden zu sein, die bei aufgeregten Zuständen des Nervensystems leicht den Grund zu einer Störung der Vorstellungen bildet.
376. Einigermaßen analog den Schlüssen, die wir aus der Konvergenz der Augenachsen ziehen, verhält sich im Tastsinne die Gewohnheit, zwei Eindrücke, die von demselben Gegenstand herrühren, auch nur auf einen Gegenstand zu beziehen. Sie findet sich für alle die Hautstellen, die durch die üblichen Bewegungen der Glieder leicht zu einer gemeinschaftlichen Berührung desselben Objekts gebracht werden; sie fehlt andern, auf welche im Laufe der natürlichen Bewegungen nur verschiedene Objekte einzuwirken pflegen. Legen wir zwei Finger derselben Hand kreuzweis so übereinander, dass sie eine Erbse mit denjenigen ihrer Ränder berühren, die einander abgewendet zu sein pflegen, so glauben wir zwei Erbsen zu fühlen; lassen wir die Finger in dieser Stellung an einer Tischkante fortgleiten, so scheinen wir zwei Kanten zu berühren. Doch sind dies künstliche Experimente und schwerlich entspringt im natürlichen Verlaufe der Erfahrungen jemals eine Täuschung aus dieser Ursache; der Hautsinn ist bei der Mannigfaltigkeit der wirklich eintretenden Gliederstellungen so reich an Erfahrungen, dass wir stets die momentane Lage etwa einer Hand zu dem übrigen Körper richtig beurteilen und deshalb auch die Berührungsgefühle, die ein von ihr gehaltener Gegenstand gleichzeitig in ihr selbst, so wie in einem andern Hautteile erweckt, richtig auf ein und dasselbe Objekt beziehen, die Größe desselben aber nach der Entfernung schätzen, die sich nach unserm Muskelgefühl zwischen der Hand und dem andern berührten Hautteile befindet.
377. Eine dritte sehr umfangreiche Gruppe der Sinnestäuschungen beruht auf der Wirkungsweise unserer Nerven überhaupt. In den meisten Sinnesorganen kommen Nachbilder der Erregung vor, die für einen spätern Eindruck keine unbefangene Empfänglichkeit übrig lassen. Der Geschmack eines Weines ändert sich erheblich je nach dem der vorher genossenen Speise; Wärme und Kälte werden ganz verschieden beurteilt je nach dem Grade der Temperatur, in welcher die Haut sich eben befand; die Farben der Objekte treten nicht rein hervor, sobald die Komplementärfarbe oder das Nachbild eines früheren Eindrucks im Auge haftet; selbst die gleichzeitig wahrgenommenen Punkte ändern ihre Farben gegenseitig. Zwischen dem Grün einer Wiese erhält der schmale Fußpfad ein rötliches Kolorit; dem Auge, das längere Zeit den blauen Himmel betrachtet hat, erscheint eine Gegend im ersten Moment kälter, später durch das auftretende komplementäre Orange wärmer als vorher beleuchtet zu sein. Auch auf die Größenschätzung haben die Farben, die Richtungen des bewegten Blickes Einfluß. Wir sind geneigt, Dimensionen größer zu sehen, wenn sie uns durch viele Beispiele nebeneinander vorgeführt werden, und so erscheinen uns die horizontalen Glieder eines gotischen Bauwerks weit kleiner, als sie wirklich im Verhältnis zu den vielen unzerstückten vertikalen Elementen sind. Am allerhäufigsten und merkwürdigsten jedoch treten diese organischen Einflüsse in den Schwindelerscheinungen auf, deren genauere Kenntnis uns durch Purkinje's zahlreiche und sinnvolle Versuche verschafft worden ist. (Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne. Berl. 1825. Medizinische Jahrbücher des österreichischen Staates. Bd. VI.)
378. Die Schwindelerscheinungen und die damit verbundenen Scheinbewegungen der Gegenstände kommen zuerst im Auge auf dreifache Weise zu Stande, teils durch die Nachwirkung des Anblicks bewegter Gegenstände, teils als Nebenwirkung einer Körperdrehung, teils endlich als Folge von Störungen der Zentralorgane, deren Natur sich nicht genau ermitteln läßt. Die Erscheinungen, welche aus der ersten dieser Ursachen entspringen, lassen zum Teil vielleicht eine andere Auslegung zu, als die übrigen. Betrachten wir von einem Vorsprunge des Ufers aus den Lauf der Wellen eines Flusses, so strebt beständig die Aufeinanderfolge dieser bewegten Teilchen den Blick in derselben Richtung mit sich fort zu ziehen. Folgen wir dieser Verlockung, so bildet sich für das Auge die Erwartung aus, einen Gegenstand nur durch Bewegung nach bestimmter Richtung festhalten zu können, und zugleich die Gewohnheit, diese Bewegung ohne ausdrücklichen Entschluß auszuführen, indem das Auge langsam bis zu gewisser Weite jene Richtung verfolgt, dann schnell und momentan zurückgewendet wird, um denselben Lauf von neuem zu beginnen. Wenden wir hierauf den Blick auf eine ruhende Landschaft, doch ohne einen ihrer Punkte bestimmt zu fixieren, so folgt das Auge noch weiter dem angewöhnten Bewegungstriebe und diese Drehung, obgleich sie ein Muskelgefühl erregt, wird doch, da sie ganz ungewöhnlicher Weise unwillkürlich erfolgt, nicht als eine Bewegung unsers Sinnesorganes, sondern als ein Vorüberziehen der Gegenstände in entgegengesetzter Richtung gedeutet. In geringerem Maße kommt übrigens diese Scheinbewegung der Gegenstände doch auch bei willkürlichen Bewegungen der Augen vor; man bemerkt sie besonders, wenn die Augen rasch nach entgegengesetzten Richtungen oder im Kreise gedreht werden, und selbst der schnell Laufende kann sich nicht völlig des Scheines erwehren, als wenn die seinen Weg begrenzenden Objekte an ihm vorbeieilten. Wenn man nun ferner nach der längeren Betrachtung der Wellen den Blick scharf auf einen Punkt der ruhenden Landschaft richtet, so bleibt doch noch ein psychisches Motiv zu einer eigentümlichen Sinnestäuschung übrig. Hatten wir nämlich in dem vorüberfließenden Strome irgend einen festen Gegenstand fixiert, so bildete sich die Gewohnheit, bei ruhendem Auge eine Mannigfaltigkeit von Objekten in bestimmter Richtung vorüberfließen zu sehen. Mit dieser Erwartung wendet sich der Blick auch auf die ruhende Landschaft, und da ihm hier die Gegenstände bei unverwendeter Stellung der Augenachse nicht verschwinden, so scheinen sie dies nur durch eine der früheren Richtung entgegengesetzte Bewegung zu können. Es entsteht daher der Schein, als wären die sämtlichen Punkte der Landschaft jeden Augenblick im Begriffe, eine Bewegung zu beginnen, obgleich es nie dazu kommt, so lange nicht das Auge dieser Erwartung nachgebend, selbst der vorausgesetzten Flucht der Gegenstände zu folgen anfängt, und dadurch den Schein einer wirklichen entgegenkommenden Bewegung derselben sich erzeugt. Teils aus dieser Täuschung, die man auch nach einer kurzen Drehung des Körpers bemerkt, teils aus unwillkürlichen Bewegungen, denen das Auge sich doch überläßt, dürfte die Unruhe herrühren, die wir nach dem Anblicke der Wellen in später betrachteten Ziegeln der Dächer oder Pflastersteinen der Straße bemerken, und deren gewöhnliche Erklärung aus Nachbildern der Wellen ich nicht recht durchzuführen wüßte.
379. Die Versuchung, die das Auge erfährt, entfliehenden Gegenständen oder auch nur sehr ausgedehnten monotonen Dimensionen eines Objektes nachzufolgen, überträgt sich bei reizbaren Personen leicht auf das übrige Nervensystem und führt durch beginnende Bewegungen des Körpers jene Unsicherheit des Gleichgewichts herbei, die wir auf Höhen vor Abgründen, auf Türmen zu empfinden pflegen. Es ist noch nicht ganz aufgeklärt, auf welche Weise in allen diesen Fällen der optische Eindruck diese Folgen hervorbringt. Blicken wir einer vorüberziehenden seitlichen Bewegung nach, so mag teils die öfter wiederholte Wendung des Kopfes eine Neigung auch des übrigen Körpers erzeugen, nach derselben Seite hin sich zu drehen, teils bildet sich das Gefühl aus, durch den Strom der Gegenstände fortgerissen zu werden. Blicken wir in eine große Tiefe oder an der vertikalen Höhe eines Mastbaumes hinauf, so mag das ungewohnte Fehlen eines festen und nahen Grundes vor unsern Füßen eine Unsicherheit in der Beurteilung unserer Körperstellung hervorbringen, zu der sich subjektive Gefühle des Hinauf- oder Hinabgezogenwerdens gesellen. In beiden Fällen tritt der Schwindel um so eher ein, wenn zugleich eine gährende Bewegung der Objekte oder ihrer kleinsten Teilchen stattfindet, ein Eindruck, der in ganz spezifischer Weise auch ohne sonstige Vorstellungsassoziationen die optischen Zentralorgane zu beleidigen und die bekannten Rückwirkungen des Schwindels, Ekel und Zittern der Glieder hervorzubringen scheint. Befindet sich in der Tiefe eines Abgrundes ein schäumender Wasserstrudel, oder werden die Blätter eines schlanken Baumes, einer Pappel, vom Winde durch einander gerührt, so tritt dem Hinab- oder Hinaufschauenden das Gefühl der Unsicherheit weit leichter ein, als bei der Betrachtung ruhiger Objekte; aber auch ohne jede ungewöhnliche Stellung des Körpers ist der Anblick eines beständig in Bewegung erhaltenen Haufens buntgefärbter Körner ein widerlicher Eindruck, der bei längerer Fortdauer schwindelerregend wirkt, und hierauf beruht zum Teil der ästhetische Widerwille gegen die schlängelnden und windenden Bewegungen, die wir an Würmern beobachten, besonders wo sie, wie in faulenden Gegenständen, sich in Menge durcheinander drängen. Bei Zuständen großer Nervenreizbarkeit kann man bemerken, dass nicht nur optische, sondern auch akustische Reize sympathisch Schwindel der Zentralorgane und der Augen erregen; wenigstens verursachen schnelle und namentlich akzentlos und monoton gehaltene Geschwätze die peinlichsten Gefühle der Fassungslosigkeit und des Fortgerissenwerdens nach gleicher Richtung. Auch Musik mit stark hervorgehobenem Takte bedingt bei längerer Fortdauer eine schwindelartige Erwartung, Bewegungen und Ereignisse taktförmig eintreten zu sehen und es kostet einige Mühe, nach dem Aufhören der Musik dem Gedankengange die unbefangene Gleichmäßigkeit seines Verlaufs wiederzugeben.
380. In viel ausgedehnterer Weise sind nun die Bewegungen des Körpers die erregenden Ursachen von Schwindelerscheinungen. Wendet man den Kopf plötzlich zur Seite, ohne irgend einen früher fixierten Gegenstand mit dem Blicke festzuhalten, so wird gewöhnlich nicht nur das Auge, im Kopfe ruhend, durch die Bewegung des letztern mittelbar in eine neue Stellung gegen die Objekte gebracht, sondern es wendet sich noch außerdem durch eine eigne Drehung dem Augenwinkel zu, nach dessen Seite bin die Kopfbewegung geschah. Dreht man den Kopf nach rechts, so hat es allerdings wenig Schwierigkeit, das Auge durch eine Linksdrehung desselben in seiner vorigen Lage zu erhalten, sobald ein fixiertes Objekt da ist, das ihm seine Richtung bestimmt; wo dies jedoch fehlt, z. B. im Finstern, ist es sehr schwer, den Kopf nach rechts und zugleich in ihm das Auge nach links zu wenden; man findet vielmehr, dass es während der Bewegung des Kopfs sich in ihm nach dem rechten Winkel der Orbita kehrt. Es scheint daher eine natürliche Assoziation vorhanden zu sein, durch welche das Auge die Drehung des Körpers um seine Achse teilt und für sich selbst in gleicher Richtung wiederholt. Im Anfange der Drehung wird es allerdings noch versuchen, Bilder der Objekte zu fixieren, mit der zunehmenden Geschwindigkeit derselben und der wachsenden Vergeblichkeit des Versuches läßt es davon ab. Wird zuletzt die Achsendrehung des Körpers angehalten, so wirkt im Auge dieser Bewegungstrieb noch nach, der ihm übrigens auch mitgeteilt wird, wenn die Körperdrehung bei geschlossenen Lidern ausgeführt wurde; es wendet sich schnell dem Winkel der Orbita zu, und wird, wenn es diesen erreicht hat, plötzlich durch eine momentane antagonistische Kontraktion wieder nach dem andern zurückgeführt, um sofort seine unwillkürliche Bewegung nach der Seite der geschehenen Drehung wieder von neuem zu beginnen. Diese oft lang fortdauernden und sehr schnellen Bewegungen des Auges werden als unwillkürliche, wie wir oben schon erwähnten, nicht richtig gedeutet, sondern auf die Objekte übergetragen, die in entgegengesetzter Richtung dem Blicke vorüberzugehen scheinen. Ist der Körper nicht durch Anhalten an einen festen Gegenstand sicher gestellt, so folgt er leicht der Bewegung der Augen, die ihm jedoch meist voraneilt; durch seine Drehung geschieht es daher, dass immer neue Bilder in eiliger Bewegung das Sehfeld füllen, bis der Fall des Körpers erfolgt. Ist der Kopf dagegen fixiert, so ist es immer derselbe Abschnitt des Raumes, der vor dem Blicke vorüberfliegt, indem das Auge, wenn es den Winkel der einen Seite durch seine unwillkürlichen Bewegungen erreicht hat, unaufhörlich durch einen schnellen Ruck in seine vorige Lage zurückgebracht wird. Ist endlich das Auge selbst durch angestrengte Richtung des Blickes auf einen nahen, unmittelbar vorgehaltenen Gegenstand fixiert, so setzt die Scheinbewegung der Objekte ganz aus, und es dauert nur ein wüstes Gefühl der Unsicherheit der Körperstellung fort; entfernt man das fixierte Objekt, so beginnen die Scheinbewegungen von Neuem.
381. Über die Richtung, in der bei verschiedenen Kopfstellungen während und nach der Drehung die Bewegung der Gegenstände zu erfolgen scheint, hat Purkinje bestimmtere Versuche gemacht. Im gewöhnlichen Falle, wo wir uns in aufrechter Stellung des Körpers und des Kopfes um unsere Achse schwingen, geschieht sie bekanntlich horizontal dem Auge vorbei. Hält man während der Drehung das Gesicht nach oben, und steht dann still, ohne diese Haltung des Kopfes zu ändern, so bleibt die Scheinbewegung horizontal; bringt man aber das Gesicht wieder in die senkrechte Lage, so scheinen die Gegenstände des Gesichts- und Tastsinnes nach dem Umkreise eines stehenden Rades zu laufen, dessen Achse durch die Mitte des Gesichtsfeldes geht. Stützt man sich dabei auf eine Unterlage, so scheint es, als wenn diese nach der Seite, nach welcher hin die Drehung geschah, umstürzen müßte. Hält man bei der Umdrehung den Kopf stark gegen die rechte Schulter geneigt, und behält ihn im Stillstehen in derselben Lage, so drehen sich die Gegenstände horizontal. Richtet man aber den Kopf auf, so dass das Gesicht wieder nach vorn gewendet ist, so scheinen die Gesichtsobjekte, so wie die Gegenstände des Tastsinnes, je nachdem die Drehung rechts, oder links geschah, von unten herauf- oder von oben herabzusteigen, wobei man sich festzuhalten hat, um nicht nach vorn oder nach hinten zu stürzen. Dreht man sich im Kreise mit schief nach oben gewandtem Gesicht, so macht beim Stillstehen und Geraderichten des Kopfes die Schwindelbewegung eine schiefe Bahn und im Tastsinne scheint es, wie wenn man durch eine Gewalt, ähnlich der beim Ringen, umgedreht und auf den Boden gestreckt werden müßte. Die Regel in allen diesen Phänomenen drückt Purkinje dahin aus: dass die Scheinbewegung der Objekte bei jeder nachmaligen Lage des Kopfes unveränderlich um die Achse des Kopfdurchschnittes geschieht, um welche die Drehbewegung geschah, und zwar in entgegengesetzter Richtung zu dieser; eine Regel, deren mechanische Erklärung noch manche Dunkelheiten zu überwinden haben wird.
382. Diese Sinnestäuschungen der Augen sind übrigens nur Teile einer viel ausgedehnteren Gruppe von Illusionen, die durch alle diese Bewegungen in dem Muskelgefühle des ganzen Körpers hervorgebracht werden. Jede lange fortgesetzte passive oder aktive Bewegung, möge sie geradlinig oder in irgend einer Form der Drehung ausgeführt werden, hinterläßt nach Purkinje's schönen Versuchen ein starkes und langdauerndes Nachbild, nämlich eine Geneigtheit der Zentralorgane und der Glieder, in dieser angeübten Bewegung fortzufahren. Eine fremde Kraft scheint im Körper zu walten, die ihn noch immer mit Gewalt in derselben Bewegungsform fortzutreiben scheint, und der nur durch ausdrückliche Muskelanstrengung widerstanden werden kann. Jede der früheren Richtung entgegengesetzt unternommene Bewegung findet größere Schwierigkeit, wogegen die Bewegung nach der eingeübten Richtung auffallend leicht ist und wie halb von selbst fortgesetzt wird. Gehen wir lange mit Anstrengung einem heftigen Sturm entgegen, und kommen dann in eine windstille Gegend, so sind wir auf die Überwindung eines bedeutenden Widerstandes so eingeübt, dass wir mit ungewöhnlicher Leichtigkeit der Glieder uns vorwärts getrieben fühlen; nach langem Bergansteigen scheint uns die Ebene abwärts geneigt; nach langem Fahren fühlen wir beim Anhalten des Wagens den Drang nach vorwärts fortdauern, und die Objekte zur Seite des Weges scheinen im Begriff uns entgegenzukommen. Hat man längere Zeit an jeder Hand ein schweres Gewicht gehalten und dadurch die Muskeln auf ein Emporheben vom Erdboden eingeübt, so scheint es nach dem Wegsetzen der Gewichte, als müßte man in gerader Linie aufwärts schweben, und als würden zugleich die Arme so verkürzt, dass sie in den Thorax einkriechen müßten. Ist man mit den Gewichten herumgegangen, so scheint der Gang um Vieles erleichtert, und man fühlt kaum die Last des Körpers. Wenn man mit einer Hand ein Gewicht eine Weile getragen hatte und es nun niederstellt, hat man die Empfindung, wie wenn der Körper nun nach jener Seite, die kein Gewicht trug, gekrümmt würde, auch geschieht die absichtliche Beugung nach dieser Seite einige Zeit viel leichter als nach der entgegengesetzten. Wenn man an jeden Fuß ein Gewicht von mehreren Pfunden gebunden hat und nachdem man eine Weile damit herumgegangen, es wieder abnimmt, so scheinen die Füße überaus leicht, die Schenkel werden unwillkürlich über das gewöhnliche Maß gehoben und das Gehen geschieht mit ungemeiner Leichtigkeit, eine Beobachtung, die jeder Fußreisende auch dann macht, wenn er von einem Stück frisch mit Steinen beschütteter Chaussee wieder auf glatten Weg kommt. Nach einstündigem Drehen auf dem Karussel in aufrechter Stellung bemerkte Purkinje eine bleibende Neigung der Füße, nach vorwärts zu gehen, jedoch hatte derjenige Fuß, der an der äußern Peripherie der gedrehten Scheibe stand, ein Streben seitwärts abzuweichen, durch welche Kombination der Bewegungen der Gang einen dem vorigen ähnlichen Kreis beschreiben würde. Wie endlich auch dem Tastsinn nach Drehbewegungen die Gegenstände nicht festzustehen, sondern auf der einen Seite ihm entgegenzukommen, auf der andern ihn zu fliehen scheinen, haben wir früher bereits erwähnt. Man sieht aus allen diesen Beispielen, wie stark und deutlich der Bewegungseindruck sich in den Zentralorganen und den Gliedern überhaupt erhält; zu wie heftigen Empfindungen aber namentlich das schnelle Abbrechen einer einmal angeübten Bewegung führt, sehen wir bei vielen Gelegenheiten. Nach längerem Fahren auf etwas ungleichem Wege ist für reizbare Personen das Stillstehen des Wagens ein Moment peinlicher Unruhe; ebenso hat nach beträchtlicher Andauer eines monotonen Geräusches, eines Wasserfalls, eines Mühlwerks, die plötzlich eintretende Stille eine unangenehm aufreizende Wirkung. Die nervöse Unruhe wird in beiden Fällen am besten durch allmähliches Ausklingen der Reize gedämpft, und selbst die unangenehmen Folgen der Schwindelbewegung tragen sich leichter, wenn die Drehung nach und nach durch sanftes Wiegen zur Ruhe kommt.
383. Alle diese Phänomene würden psychologisch weniger wichtig sein, wenn sie nur aus den angeführten Ursachen, und nicht auch häufig aus Leiden der Zentralorgane ohne vorangegangene Bewegung entständen. Wir haben früher erwähnt, wie wahrscheinlich es ist, dass die Koordination der Muskelfunktionen zu größeren Ortsbewegungen einzelnen Teilen des Gehirns übertragen sei; Störungen dieser Teile durch fremde Stoffe, die wie im Rausche, oder bei dem Gebrauche der Narkotica in das Blut dringen, oder durch örtliche Degenerationen oder endlich durch irgend eine Umstimmung ihrer Verrichtungen können sehr leicht ebenso wohl subjektive Gefühle einer Bewegung, die nicht vorhanden ist, als auch unwillkürliche Impulse zur wirklichen Ausführung derselben erwecken. Die Scheinbewegungen des eigenen Körpers und der äußern Gegenstände, die hieraus entstehen können, sind zum Teil so sonderbarer Art, dass es nicht unmöglich scheint, einen Teil der Wahnvorstellungen Geisteskranker, die nicht selten oft wiederholte Bewegungen ausführen, von ihnen abzuleiten. In dieser Absicht führe ich die folgenden Worte Purkinje's an. "Aus den bisherigen Daten ließe sich eine Antizipation der Erfahrung wagen, die in sich keinen realen Widerspruch enthielte, wenn sie auch vermöge der Beschränktheit unserer Lebensbedingungen durch Experimente nicht bekräftigt werden könnte und dürfte. Man könnte nämlich versuchen, sich vorzustellen, wie noch andere zusammengesetzte Schwindelbewegungen durch mannigfach kombinierten Umschwung des Körpers, oder vielmehr des Gehirnes entstehen müßten. Die Drehung bei senkrecht gehaltenem Gesichte gab einen Schwindel in senkrecht stehender Zylinderfläche, die Drehung bei nach oben oder unten gewandtem Gesicht einen Schwindel in senkrecht stehender Kreisfläche, die dritte bei Neigung des Kopfs gegen die Achsel einen Schwindel in liegender Zylinderfläche, eine vierte bei abwärts gesenktem Kopfe eine Scheinbewegung in einer Kegelfläche. Bei allen diesen Arten hing der Schwindel vorzüglich von den Bewegungen ab, die dem Kopfe mitgeteilt wurden. Ein Expansionsschwindel, wo es schiene, wie wenn man nach allen Seiten in der Richtung der Radien einer Kugel sich ausbreiten müßte, würde demnach entstehen, wenn der Kopf nach allen seinen Durchmessern in geraden Linien zugleich bewegt würde. Diese Bewegung könnte als solche vermöge des Widerspruchs, den sie enthält, nicht rein, sondern nur näherungsweise hervorgebracht werden; sie müßte in der Circumferenz einer großen Sphäre nach den Peripherien aller durch den Mittelpunkt gebenden größten Kreise, mit steter Beibehaltung einer und derselben Lage des Kopfs gegen eine gegebne Ebene außer der Sphäre mit der größten Geschwindigkeit geschehn. Würde der Kopf in allen Richtungen einer Sphären-Circumferenz schnell bewegt, jedoch so, dass er gegen den Mittelpunkt der Sphäre immer dasselbe Verhältnis behielte, so müßte die Empfindung der nachbleibenden Schwindelbewegung wieder als eine Kugeloberfläche wahrgenommen werden. Wenn bei einem weiten, an die gerade Linie grenzenden allseitigen Umschwunge (im Sphärenumfange wie zuvor) zugleich der Kopf um seinen eignen Mittelpunkt nach allen Richtungen bewegt würde, so würde die daraus hervorgehende Schwindelbewegung eine chaotische sein, oder vielmehr ein Solidum darstellen. Überhaupt glaube ich, müßten sich alle Modifikationen des Raumes als gerade und krumme Linien, als Flächen und selbst als Solidum in der Schwindelbewegung nach vorhergegangener zweckmäßiger wirklicher Bewegung nachbilden lassen, wenn sie nur mit einer Geschwindigkeit, die an Gleichzeitigkeit grenzte, hervorgebracht würden. Auch ist mir wahrscheinlich, dass sehr viele Modifikationen der zusammengesetzten Schwindelbewegung bei verschiedenen Hirn-Affektionen, ja bei manchen Arten der Epilepsie, Apoplexie und Narrheit vorkommen mögen. Purkinje selbst weiß sich von seinem neunten Lebensjahre her zu erinnern, dass er bei Anfällen von Fraisen, denen er öfter unterworfen war, die Anschauung hatte, als wenn er in einem ungemein großen Strudel eines Feuermeers mit der größten Geschwindigkeit herumgedreht würde und dagegen mit allen seinen Kräften ankämpfen müßte, welcher Kampf den Umstehenden als Konvulsion sich darstellte. Selbst die Bewegungen mancher Irren, die sich entweder um die Achse ihres Körpers drehen, oder im Kreise herumlaufen, oder mit dem Kopfe hin- und herwanken, oder ihn herumschwingen, scheinen ihm in einer eigenen Beziehung zum Schwindel zu stehen, sei es, dass die Kranken das Bedürfnis fühlen, einen zu erregen, oder dass sie einem schon vorhandenen entgegenarbeiten.
384. Auf welche Weise nun die Zentralorgane zu diesen Schwindelbewegungen disponiert werden, ist bisher sehr unbekannt, und gewiß wird nur sehr wenig auf Rechnung einer physischen Schwungkraft gestellt werden dürfen, die den Teilen des Gehirns durch Drehungen mitgeteilt worden sei. Dieselben Erscheinungen treten auch ein, wo keine Drehung voranging und bedürfen ohne Zweifel einer Erklärung aus den physiologischen Gesetzen der Nerventätigkeit, die wir bis jetzt noch nicht kennen. Unter den entfernteren Ursachen des Schwindels ist Verstärkung des Blutdrucks auf das Gehirn bekanntlich eine ebenso häufige Veranlassung als seine Verminderung bei Ohnmacht. Schon Purkinje zeigte in Bezug auf letztere, dass man sie künstlich herbeiführt, wenn man durch größtmögliche Expansion der Lungen, durch tiefe Inspiration, Anhalten des Atems und starker Pressung der Thoraxwände ein Aussetzen und zuletzt ein völliges Stillstehen des Herzschlags willkürlich hervorbringt. Aber weder den Effekt des verstärkten noch den des verminderten Blutdrucks sind wir im Stande, weiter zu verfolgen.