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355. Mehrfach haben wir schon einige der Gründe erwähnen können, die uns veranlassen, unsere Sinneseindrücke auf äußere Gegenstände zu beziehen. Die Ausbildung der Raumanschauungen führt uns auf diesen Vorgang zurück; denn sie sind nicht allein die beständige Voraussetzung jedes Unterschiedes zwischen uns und einer uns fremden Welt, sondern schon ihre eigene Vollendung zu der Totalauffassung eines nach drei Richtungen ausgedehnten Weltraums ist das Produkt einer eben solchen Deutung der Sinnesempfindungen und ihrer Beziehungen unter einander. Nur die flächenförmige Anordnung der Punkte im Sehfeld ist eine Raumanschauung, die wir ohne Zutun unsers Vorstellungsverlaufs der Einrichtung unserer Organisation und dem physisch-psychischen Mechanismus verdanken; die Tiefe des Raumes erkennt auch der Gesichtssinn nur mittelbar nach Anleitung der Erfahrungen, während dem Tastsinn alle Dimensionen des Weltraums gleichmäßig nur durch eine Verkettung seiner einzelnen Empfindungen entstehen. Lange Übung hat dem Sehenden auch dieses Beurteilen der Tiefe so geläufig gemacht, dass er unmittelbar sie zu sehen glaubt, und hat die Physiologie verleitet, von einem ursprünglichen Hinauswirken des Gesichtsorganes zu sprechen, als läge in ihm irgend eine angeborne Tendenz, seinen Empfindungsinhalt in einige Ferne von der Grenze des Leibes zu verlegen, während mit gleichem Ungrund Andere die Empfindung zuerst auf die Netzhaut lokalisiert und sie erst später nach Maßgabe der Erfahrung auf äußerliche, entfernte Objekte übertragen glauben. Noch einmal auf unsere allgemeinen Grundsätze zurückgehend, müssen wir behaupten, dass ursprünglich alle Empfindungen nur mit ihrem qualitativen Inhalt im Bewußtsein gegenwärtig sind, und weder auf Äußeres, noch im Gegensatze zu ihm auf Inneres deuten. Selbst wo so außerordentliche Anstalten zu einer räumlichen Anordnung der Empfindungselemente getroffen sind, wie im Auge, kann doch das Sehfeld ursprünglich nur nach der inneren Regelmäßigkeit seiner flächenförmigen Zeichnung aufgefaßt werden; in der Tiefe des Raumes hat es dagegen an sich gar keinen Ort; es erscheint weder in der Entfernung vom Körper, noch aufliegend auf dem Auge, noch in der Tiefe des Auges auf der Netzhaut ruhend; sondern gleich dem Tone ist es ortlos, und erwartet seine Ortsbestimmung von anderen Bedingungen. Auch der Sehende kann diesen Zustand des Bildes noch einigermaßen reproduzieren. Blicken wir so in den gleichmäßig blauen Himmel, dass kein anderer Gegenstand das Sehfeld berührt, so erscheint uns nach einiger Zeit, sobald wir nicht absichtlich die Vorstellung von der Entfernung des Himmelsgewölbes festhalten, diese blaue Fläche in ganz unbestimmter Lokalisation, weder nah, noch fern, sondern fast ortlos, als Zustand unsers eignen Selbst beinahe eben so sehr, wie als Bild eines Äußern.
356. Die Erfahrungen, die man an operierten Blindgebornen gemacht zu haben glaubt, widersprechen diesen Annahmen nicht. Ich lege im Ganzen wenig Gewicht auf alle diese Beobachtungen; denn wenn sie auch von Seiten der Ärzte mit aller möglichen Vorsicht und ohne verführende Suggestivfragen angestellt worden sind, so ist es doch ganz natürlich, dass dem Kranken von seiner Umgebung eine Menge Mitteilungen über sein künftiges Sehen gemacht wurden, die auf die Fragen des Arztes nun zum Vorschein kommen und für die echte und unwillkürliche Interpretation gehalten werden, welche der unbefangene Kranke über die Veränderung seiner Zustände aus sich selbst heraus geben könnte. Dennoch mag es sein, dass dem operierten Blinden die Bilder der Gegenstände aufliegend auf dem Auge erscheinen; er kennt das Auge längst, und seine veränderten Zustände sind der Gegenstand gespannter Erwartung für ihn; er ist gewohnt, die Empfindung der Objekte von Berührung abzuleiten, kennt dagegen nicht die Art, wie für den Gesichtssinn Raumdimensionen sich darstellen; der ungewohnte Lichteindruck mag ferner seinem Auge ein Gefühl lebendigen Ergriffenseins erzeugen; Umstände genug, welche ihn dazu veranlassen können, das Sehfeld auf das Organ zu lokalisieren, mit dessen wahrgenommener Veränderung es für ihn entsteht. Auch wir unterscheiden noch unter den subjektiven Gehörempfindungen sehr deutlich solche, die wir auf das Innere unsers Ohres beziehen; es sind die, zu denen sich ein ungewönliches Gefühl von Spannung, Krampf der Muskeln und Schwingung des Trommelfells gesellt; nur wo diese lokalen Affektionen fehlen, erscheint uns auch der subjektive Ton unbestimmt im Raume schwebend.
357. Auf welche Weise nun der Sehende dazu gelangt, durch seine Bewegungen im Raume, durch die Verschiebung und die veränderliche Parallaxe der Bilder, die während seines Fortschreitens entsteht, durch ihre gegenseitigen momentanen Deckungen, durch das Ausfallen einiger aus dem Sehfeld und den Eintritt neuer, sich eine Vorstellung von der Tiefe des Raums und der Lagerung der Objekte zu verschaffen, ist zu einfach, um eine ausführliche Darstellung zu erfordern. Wichtiger dagegen ist es für uns, wie auch der Blinde sich eine Anschauung des Raumes und seiner verschiedenen Richtungen verschaffen könne. Wir haben früher erwähnt, wie die Möglichkeit aller räumlichen Auffassungen durch den Tastsinn die Fähigkeit voraussetze, die Lage gereizter Hautpunkte am Körper und die momentane Stellung eines belegten Gliedes zu ihm zu beurteilen. Durch alle die anatomisch-physiologischen Mittel der Lokalisation, die wir im vorigen Abschnitt in dem Tastsinn kennen lernten, ist aber zunächst nichts Anderes zu leisten, als dass der Sehende jede Hautstelle um der besondern Schattierung ihrer Empfindung willen in das ihm schon bekannte Raumbild seines Körpers einordnet; der Blinde empfindet sie vorläufig nur als verschieden von andern. Damit auch er das qualitativ Verschiedene auf Differenzen räumlicher Lage beziehe, hat er weit mehr Schwierigkeiten zu überwinden, als etwa dem Sehenden bei seinen Tastversuchen im Finstern entgegenstehen. Denn diesem schwebt wenigstens die ausgebildete Anschauung eines Raumes schon vor, an welche die Gesichtsempfindungen ihn gewöhnt haben; er weiß, was Lage der Objekte im Raume bedeutet, und weiß, dass die Muskelgefühle, die ihm jede Bewegung bringt, auf Änderungen in der Stellung seiner Glieder beruhen. Für den Blinden sind am Anfange seiner Erfahrung Raum, Lage, Muskelgefühl unverstandene Worte; nicht allein die Anordnung der Dinge im Raum, sondern ihn selbst, die Vorstellung der Lage, selbst die Bedeutung seiner Muskelgefühle muß er von Grund aus erst entdecken.
358. Zu dem Allen ist nun die Fähigkeit auch des Tastsinnes, gleich dem Auge eine Mehrzahl von Punkten zugleich zur Empfindung zu bringen, unentbehrlich. Nehmen wir an, ein Tier besitze nur einen einzigen zugleich sensiblen und beweglichen Hautpunkt, etwa an der Spitze eines Fühlhorns, und dieses Organ nehme zuerst das Objekt a durch die Empfindung a wahr und erwecke zugleich das Muskelgefühl x. Sobald es sich bewegt, geht α verloren; eine neue Empfindung β dem Objekt b entsprechend, tritt an seine Stelle, während zugleich x in y übergeht. Wer nun bereits weiß, dass diese Veränderung des Muskelgefühls einer Bewegung des Auffassungsorgans ihr Dasein verdankt, der wird freilich leicht schließen können, dass der Übergang von der Empfindung α zu der neuen β darauf beruht, dass nicht mehr das Objekt a, sondern das neue b jetzt auf ihn einwirkt. Das Tier, dem diese Erfahrung noch fehlt, wird nicht wissen können, dass die durch den Übergang von x zu y ihm bemerkbar gewordene Veränderung seines Zustandes, durch die seinem Bewußtsein der Übergang von α zu β verschafft wurde, von einem Wechsel der Objekte und seiner eignen Stellung zu ihnen herrührt. Ihm würde es scheinen können, als läge es in der Natur des Muskelgefühls, nach gewisser Dauer oder im Laufe seiner Veränderung in mancherlei Druckgefühle überzugehen. Der Stoß, den es im Laufe der Bewegung von einem Objekte erfährt, könnte ihm eine ebenso natürliche Folge des bloßen Muskelgefühls selbst zu sein scheinen, wie etwa dem Husten Brustschmerz, der Anstrengung Erhitzung, der Ruhe Abkühlung, oder einem bestimmten Spannungsgrade der Stimmbänder ein bestimmter Ton folgt.
359. Den nächsten Schritt zur Aufklärung führt nun die mangelnde Proportionalität zwischen den Muskelgefühlen und den ihnen assoziierten Empfindungen herbei. Träfe jenes Tier durch vielfach wiederholte gleiche Bewegung seines Fühlhorns beständig genau dasselbe Objekt, so würde es ohne Zweifel nie zur Deutung seines Muskelgefühle, gelangen. Aber die Erfahrungen des Tastsinnes sind veränderlich; mit demselben Muskelgefühle wird bald diese bald jene Empfindung, je nach dem Wechsel der Umgebung, gewonnen, und es ist nicht wie in den Stimmorganen, wo derselben Spannung stets derselbe Ton folgt. Hierin liegt nun schon ein hinreichendes Motiv für die Entstehung der Vorstellung, dass das Muskelgefühl nicht an sich selbst in jene Empfindungen übergehe oder sie aus sich allein erzeuge, dass es vielmehr nur ein Mittel sei, zu andern veränderlichen, uns äußerlichen Mitbedingungen jener Empfindungen die Seele in ein gleichartiges Verhältnis möglicher Wechselwirkung zu setzen. Dieser Punkt muß als die wesentlichste Grundlage für alle Objektivierung der Sinneseindrücke genau hervorgehoben werden; wir müssen ihn ergänzend auch zu der Darstellung hinzudenken, welche Weber über diese Verhältnisse gegeben hat. Ist unser rechtes Ohr, sagt Weber, einem ankommenden Schalle zugekehrt, das linke ihm abgewandt, so wird der Schall durch jenes viel stärker als durch dieses gehört. Drehen wir unsern Kopf, während der Ton auf gleiche Weise erregt wird, so nimmt die Stärke der Empfindung in dem rechten Ohre in demselben Grade ab, in welchem sie im linken wächst. Endlich, wenn unser Gesicht oder Hinterhaupt der Richtung des ankommenden Schalls zugekehrt ist, erreicht die Empfindung in beiden Ohren gleiche Stärke und wird bei fortgesetzter Drehung des Kopfs von nun an im linken Ohre stärker, im rechten schwächer. "Die Beobachtung, dass die Drehung unseres Kopfes auf eine so gesetzmäßige Weise die Stärke der Empfindung abändert, führt uns zu der Vermutung, dass die Ursache des Schalles unverändert und an demselben Orte bleibe, und dass die Empfindung nur durch die Bewegung unsers Kopfs zu- oder abnehme, und dass sich also die relative Lage der Ursache des Schalles zu unsern Ohren durch ihre Bewegung ändere." (Wagners HWBch. III, 2. S. 485.) Im Gegenteil würde die Beobachtung, dass die Drehung unsers Kopfes auf eine gesetzmäßige Weise die Stärke der Empfindung ändert, an sich allein uns nur veranlassen, die Empfindung gar nicht auf ein Objekt zu beziehen, sondern sie ebenso, wie die durch fortgesetzte Drehung entstehenden Müdigkeitsschmerzen als ein inneres Erzeugnis der Muskelbewegung anzusehn. Jenem Schlusse liegt vielmehr die frühere Erfahrung zu Grunde, dass in andern Fällen, wo nämlich der Schall nicht ertönte, die Drehung unsers Kopfes auch keine ihm entsprechende Empfindung veranlaßte, und dass bei ganz gleicher Drehung bald diese bald jene Tonhöhe gehört werden kann. Die Beziehung der Eindrücke auf Objekte überhaupt beruht daher auf der Gesetzlosigkeit, mit der unsere Bewegungsgefühle bald mit diesen, bald mit jenen, bald mit gar keinen Sinneseindrücken verbunden sind; denn aus ihr allein entspringt die Vorstellung, dass die Ursachen der Eindrücke nicht mit den Bewegungen zusammenfallen, sondern von ihnen unabhängig sind. Die Gesetzmäßigkeit dagegen, mit welcher im einzelnen Falle unsere Bewegungen die Eindrücke ändern, kann nun, nachdem jene erste Erfahrung einmal sich befestigt hat, als Mittel benutzt werden, um die Stellung eines schon vorausgesetzten äußern Objekts zu unsern veränderlichen Auffassungsorganen zu schätzen.
360. Ist nun gleich hierdurch die Tendenz, Empfindungen als ausgehend von Objekten zu betrachten, hinlänglich begründet, so würde doch daraus noch wenig Klarheit und wenig den Raumvorstellungen entsprechende Anschauung hervorgehen, wenn nicht der tastenden Organe mehrere wären. Indem die eine Hand des Blinden die andere berührt, erscheinen jeder die Muskelgefühle der andern an ein ähnliches empfindbares Objekt geknüpft, wie diejenigen Objekte sind, die durch dieses Muskelgefühl erreicht werden. Durch vielfache Variation solcher Erfahrungen, denen hier zu folgen zu weitläufig sein würde, bildet sich nun die neue Vorstellung, dass auch das auffassende Selbst aus einem System gleichzeitiger unterscheidbarer Teilchen bestehe, die einander durch dieselben Mittel, d. h. im Gefolge derselben Muskelgefühle wahrnehmbar werden können, durch welche sie selbst zur Wahrnehmung äußerer Objekte gelangen. So zerfällt nun die Summe alles Empfindbaren in zwei Gruppen: das eigene Selbst erscheint als ein System von Teilen, deren gegenseitige Wechselwirkung zwei Empfindungen gewährt; die äußere Welt als eine Summe von Teilen, deren Eindruck auf uns nur eine einfache Empfindung erzeugt, indem das, was die Objekte durch die Berührung leiden, für unser Bewußtsein verloren geht. Das Muskelgefühl selbst muß nach wie vor uns als ein Mittel vorkommen, durch welches Wechselwirkung mit Objekten hervorgebracht wird; aber da es nicht nur quantitativen Gradunterschieden zugänglich ist, sondern je nach der Richtung der wirklichen Bewegung eine Reihe qualitativ ähnlicher und unähnlicher Modifikationen durchläuft, so dient es auch zur Anordnung der betasteten Objekte. Die Größe des Unbekannten, was sie trennt, wird durch die Größe des Muskelgefühls, das von einem Objekt zum andern überführt, gemessen, die qualitative Eigentümlichkeit dieser Trennung dagegen durch die der Richtung entsprechende Modifikation des Gefühls beurteilt. Indem er endlich die früher wahrgenommenen Größen und Qualitäten des Muskelgefühls reproduziert, die von einem zu dem andern Punkte führten, wird es dem Blinden auch möglich sein, die zu erneuerter Berührung eines vorgestellten Objekts nötigen Bewegungen wieder zu erzeugen. So wird er sich praktisch in der unsichtbaren Welt um ihn her zurecht finden; und das ist auch Alles, was wir von ihm erwarten können.
361. Wer dagegen meint, durch irgend ein feines Gewebe von Assoziationen und Abstraktionen werde jemals die Raumvorstellung des Blinden dieselbe Gestalt annehmen, welche die des Sehenden hat, irrt sich wahrscheinlich ganz. Denn eben darin besteht der unendliche Vorteil des Gesichtssinnes, dass er uns eine ganz mühelose, durch keine Nebenempfindung getrübte, gleichzeitige Beherrschung einer außerordentlichen Mannigfaltigkeit von Objekten gewährt, wogegen der Tastsinn eine gleiche Erkenntnis mühsam durch eine Menge von Assoziationen erwerben muß. Der Blindgeborne, sollte er sich eine Totalanschauung der räumlichen Umgebung bilden, würde sie daher immer aus einer Menge einzelner Erinnerungen fast berechnend zusammensetzen und ursprünglich sukzessiv Wahrgenommenes künstlich auf Gleichzeitigkeit umdeuten müssen; nie aber würde er jenen sich von selbst machenden Eindruck des Simultanen besitzen, dessen der Sehende sich erfreut. Nicht mit Unrecht hat man daher die Raumvorstellungen der Blinden als ein verwickeltes System von Zeitvorstellungen zu fassen gesucht. (Hagen in Wagners HWBch II. S. 718.) Manches Andere noch scheint diese Begünstigung des Sehenden zu vergrößern; so der eigentümliche Eindruck von Klarheit und Helligkeit, der von der Qualität der Gesichtsempfindung, den Farben, herrührend, auch noch den Erinnerungen und Abstraktionen aus ihnen verbleibt und sie umschwebt. In der Tageshelle ist uns der Gedanke der Unendlichkeit des Raumes ganz natürlich; in der dichten Finsternis der Nacht scheint er uns lange nicht so überredend. Behaupten wir nun gleich, dass Raum, Länge, Lage, Bewegung für den Blinden sich anders als für den Sehenden ausnehmen, so sprechen wir doch jenem die Fähigkeit nicht ab, selbst die geometrischen Lehrsätze zu begreifen, und die Beispiele blinder Mathematiker entkräften unsere Vorstellung nicht. Denn alle die allgemein gültigen Größenverhältnisse, welche die Geometrie in ihren Sätzen von Linien, Längen und Winkeln lehrt, würden, ohne ihre Notwendigkeit und Evidenz für den Verstand zu verlieren, sich auch auf die anders gestalteten Elemente übertragen lassen, welche die Anschauungsweise des Blinden jenen räumlichen Vorstellungen des Sehenden substituiert. Aber die Art, wie sich der Blinde überhaupt ein Unheil über Richtung, Länge und Gestalt der Raumobjekte verschafft, ist doch in vielen Punkten noch sehr dunkel.
362. Die Größe der Objekte würde durch unmittelbare Hautempfindung nur sehr unvollkommen wahrgenommen werden; sie genauer zu schätzen dient hauptsächlich die zur Umlaufung des Objekts nötige Weite der Muskelbewegung. Nun ist die Feinheit der Unterscheidungsfähigkeit im Tastsinne weit geringer als im Auge, und wie sehr auch der Blinde den Sehenden in Bezug auf sie übertreffen mag, so bietet ihm doch gewiß der Raum eines Zolles weniger unterscheidbare Punkte dar, als er dem Sehenden gewähren kann. Man hat hieraus längst geschlossen, dass dem Blinden die Objekte kleiner vorkommen mögen, als dem Sehenden, und in der Tat haben operierte Blindgeborne sich über die unerwartete Größe der gesehenen Objekte verwundert. Hierin ist ein Umstand noch dunkel. Eine unmittelbare Vergleichung der gesehenen und der getasteten Größe ist wegen Mangels eines dritten Maßstabes nicht möglich. Läßt uns nun die größere Menge der unterscheidbaren Punkte darauf schließen, dass das Auge den gleichen Raum größer schätze, so sollte anderseits dem Blinden, der gewöhnt ist, an der Größe der Muskelbewegung die der Objekte zu messen, vielmehr die unerwartete Geringfügigkeit der Augenbewegungen auffallen, die er nötig hat, um die Objekte zu umlaufen. Sie müßten ihm daher trotz des Reichtums unterscheidbarer Punkte einen geringeren Raum einzunehmen scheinen. Ich finde eine Bestätigung dieser Vermutung in dem, was Chesselden über den von ihm operierten Blindgebornen erzählt. Als er das Bild seines Vaters sah, fand er die Ähnlichkeit, war aber erstaunt, wie ein so großes Gesicht in einen so kleinen Raum gefaßt werden könne: asking, how U could be, that a large face could be expressed in so a little room, saying, it should have seemed as impossible to him as to put a bushel of any thing into a pint. (Philos. Iransact. Vol. XXXV. numb. 402.) Nicht den Raum also fand er unerwartet groß, sondern er empfand richtig den Widerspruch zwischen der Kleinheit des Raums und der Fülle seines Inhalts.
363. Von großer Schwierigkeit ist ferner die Entstehung des Urteils über die gerade oder gekrümmte Richtung der Linien und Flächen. Sehr einfach freilich wäre es zu sagen, gerade erscheine uns die Kante eines Objektes, an der der tastende Finger hinlaufe, ohne eine merkliche Änderung in der Art des Wechsels der Muskelgefühle zu erleiden; wie denn Diderot in seinem unschuldigen Scharfsinn die Sache damit erledigt glaubt. Allein gerade dieser gleichförmige Änderungslauf der Muskelgefühle findet hier nicht statt. Lassen wir, indem wir von links nach rechts das tastende Glied fortführen, Hand und Finger in derselben relativen Stellung, und bewegen sie nur durch den Unterarm an der Kante des Objekts fort, so würde dieser, falls das Ellenbogengelenk unverrückt bliebe, einen Kreisbogen zu beschreiben suchen, und würde deshalb rechts und links weniger, in der Mitte der Kante dagegen weit stärker auf sie drücken. Um den Druck gleichförmig an der ganzen Länge der Kante herzustellen, müßte daher der Ellenbogen in dem Masse zurückweichen, als die lastende Hand von links sich der Mitte nähert, und wieder vorwärts gehn, sobald sie über die Mitte hinaus nach rechts kommt. Die Wahrnehmung der geraden Kante geschieht daher nicht durch einen gleichförmigen Wechsel in der Art und Größe eines Muskelgefühls, sondern durch eine ungleichförmige Kombination mehrerer. Nun hat Weber sehr schön gezeigt, dass eine ebene Glasplatte, die erst schwach, dann stärker, dann wieder schwächer angedrückt, an dem ruhenden Finger vorübergeführt wird, uns konvex zu sein scheint, und bei entgegengesetztem Wechsel des Druckes konkav. Warum nimmt nun das tastende Glied die gerade Kante nicht als konvex wahr, da entweder ihre Mitte einen stärkeren Druck ausübt, oder einen gleichen mir; indem das Ellenbogengelenk nach hinten weicht? Wir sehen hieraus, welche Schwierigkeiten den einfachsten Raumvorstellungen hier schon entgegenstehen, und wie vieler einander korrigierenden Erfahrungen es bedarf, um den Wert der verschiedenen Muskelgefühle, welche durch die Tastbewegungen entstehen, auf eine der Natur der Objekte angemessene Weise in Rechnung zu bringen. Betrachten wir als ein Beispiel der Krümmungen den Kreis, so treten gleiche Schwierigkeiten hervor. Wie auch immer der Tastsinn eine Kreislinie umlaufen möge, durch Bewegung des Fingers allein, oder der Hand, des Unterarms, oder des ganzen Armes; niemals entspricht dem gleichförmigen Krümmungsfortschritt ein eben so gleichförmiger, stets in demselben Sinne geschehender Änderungslauf der Muskelgefühle. Damit das tastende Glied von dem rechten Endpunkte eines horizontalen Diameters zu dem obern eines vertikalen gelange, sind ganz andere Muskeln, oder dieselben wenigstens in ganz verschiedenen Kombinationen in Tätigkeit zu setzen, als damit von oben abwärts nach links der zweite Quadrant beschrieben werde, und so fort. Nur dies eine, dass das tastende Glied zuletzt an dem Ausgangspunkte wieder anlangt, kann unmittelbar aus der Identität der beiden Muskelgefühle am Anfang und am Ende der Bewegung entnommen werden. Man begreift daher wohl, wie der Blinde zur Vorstellung einer geschlossenen Figur gelangt, aber ihre Gestalt kann nur durch Hilfe sehr mannigfacher früherer Erfahrungen wahrgenommen werden. Es ist unnütz, diese Beispiele fortzusetzen; die Schwierigkeiten sind deutlich genug geworden; wie sie überwunden werden, wissen wir im Allgemeinen, denn es kann nur durch gegenseitige Berichtigung vieler Erfahrungen gelingen; wie es im Einzelnen geschieht, ist nicht nachweisbar, denn die Ordnung, in welcher sich die verschiedenen Anschauungen des Blinden in der ersten Kindheit wirklich bilden, ist jeder Beobachtung unzugänglich.
364. Was die Lage der äußern Objekte betrifft, auf die der Tastsinn seine Empfindungen bezieht, so ist er gewohnt, nur durch unmittelbare Berührung Eindrücke zu empfangen, und verlegt daher die Gegenstände seiner Wahrnehmung im Allgemeinen an die Endigungsstellen der Hautnerven. Sind jedoch über diesen noch unempfindliche Körperteile ausgebreitet, die durch ihre Erschütterungen aus einiger Entfernung her Eindrücke bis zu ihnen leiten können, so bildet sich die Gewohnheit, die Empfindung über die Grenze des sensiblen Körpers hinaus an den wahren Ort des Reizes zu verlegen. Werden z. B. die Haare berührt, nicht aber zugleich die Kopfhaut, so nehmen wir allerdings den Reiz nur durch die letztere, aber nicht in ihr wahr, sondern die Berührung scheint in einer gewissen Entfernung von ihr vorzugehn. Ebenso fühlen wir die Berührung eines Zahnes, so lange er fest steht, an seiner schmelzüberzogenen Endfläche, obgleich diese an sich unempfindlich ist und nur fällig, die Erschütterung dem im Innern verborgenen Zahnnerven zuzuführen. Lockert sich der Zahn und wird in seiner Alveole beweglich, so dauert zwar diese Empfindungsweise fort, aber zugleich wird der jetzt veränderliche Druck, den er bei Bewegungen auf die Fläche seiner Höhle ausübt, besonders und zwar in dem Grunde der Höhle selbst empfunden. Es ist interessant, fügt Weber diesen Beobachtungen hinzu, dass wir, wenn von Jemandem an einem Bündelchen unserer Haare leise gezogen wird, sehr genau die Richtung des Zuges angeben können, während wir bei geschlossenen Augen den Winkel nicht zu schätzen wissen, den eine gegen die Haut eines festliegenden Körperteils gedrückte Stricknadel mit der Oberfläche derselben macht. Die Richtung des Zuges in den Haaren empfinden wir nämlich nicht unmittelbar, sondern indem wir der Bewegung, in welche unser Kopf und die Oberhaut desselben durch den Zug versetzt zu werden anfängt, durch unsere Muskeln Widerstand leisten, und aus Erfahrung wissen, in welche Richtung dieser Widerstand fallen muß. Oder vielmehr wir beurteilen die Richtung des Zuges sogleich aus dem Gefühle der eigentümlichen Hautverschiebung, die ihm folgt, und die schon durch frühere Erfahrungen mit einer gewissen Richtung des Zuges assoziiert war. Wird nun unser Kopf während des Versuchs von einem Andern festgehalten, und zugleich die Verschiebung der Haut gehindert, indem man sie rings um das angezogene Haarbündel an den Kopf fest andrückt, so hört die Möglichkeit auf, die Richtung des Zuges zu beurteilen.
365. Auf Anregung Fechners hat Weber eine sehr interessante Erscheinung ausführlich erörtert: wenn wir ein Stäbchen, das wir zwischen unsern Fingerspitzen halten, gegen einen Widerstand leistenden Körper stemmen, so glauben wir an zwei Orten zugleich einen Druck zu empfinden, da wo das eine Ende des Stäbchens unsere Finger, und da, wo das andere den widerstehenden Körper berührt; beide Empfindungen scheinen uns an zwei durch die Länge des Stäbchens getrennten Orten zu geschehen. Diese Eigentümlichkeit unserer Wahrnehmung steht jedoch keineswegs nur in dem erwähnten Falle als ein einzelnes Kuriosum da, sondern sie liegt sehr ausgebreitet allem Gebrauche von Werkzeugen und noch vielen andern Erscheinungen zu Grunde, die zum Teil zu einer Modifikation und Erweiterung der sinnreichen Erklärung nötigen, welche Weber von ihr gegeben hat. Am allerauffälligsten beobachtet man sie bei dem Versuch auf Stelzen zu gehen; aber ich darf nur auf den Gebrauch der Sonden in der Chirurgie hindeuten, um zu zeigen, dass sich ihrer längst schon die Wissenschaft zu ihren Zwecken bedient hat. Das gewöhnliche Leben nicht minder. Der Gebrauch der Messer und Gabeln beruht auf ihr und würde sehr unbequem sein, wenn wir nicht neben dem Berührungseindruck, den sie auf unsere Hand machen, zugleich Größe und Art ihrer Berührung mit den Speisen empfänden; dem Ungewohnten fällt ihre Benutzung schwer, weil er sie zu fest faßt, und dadurch die Hautempfindung zu einer unwandelbaren macht, was wie wir später sehen werden, der richtigen Schätzung der Eindrücke entgegensteht. Der Gebrauch der Nähnadeln und der Strickstöcke würde ohne jene Doppelheit der Empfindung fast unmöglich sein; alle Leichtigkeit in der Benutzung der Feder beim Schreiben setzt die Fähigkeit voraus, die Größe und Richtung des Druckes, den sie auf das Papier ausübt, noch neben ihrer Berührung mit den Fingern wahrzunehmen. Schlagen wir mit der Axt auf ein Stück Holz, so fühlen wir gleichzeitig den Anprall ihres Stieles gegen unsere Handfläche, und den Stoß mit dem sie in das Holz selbst eindringt, und der Soldat empfindet die Wunde, die er seinem Gegner beibringt, insofern mit, als er deutlich mit der Spitze seines Säbels dies Einschneiden in den Widerstand leistenden Körper fühlt. Dies reicht hin, um die große Verbreitung dieser doppelten Lokalisation bemerklich zu machen, und wir können in der Tat sagen, dass alle Benutzbarkeit irgend eines Handwerkzeugs auf der Möglichkeit beruht, seine Berührung mit dem Objekte an der Stelle wo sie geschieht, wahrzunehmen.
366. Die Erklärung, welche Weber von der Erscheinung gibt, gründet sich auf den Umstand, dass wir die Berührung eines Stäbchens mit einer Tischplatte am deutlichsten empfinden, wenn wir das obere Ende des Stäbchens samt dem Finger um das untere Ende des Stäbchens auf dem Tische in einem Kreisbogen bewegen. Da nun das Stäbchen in allen Lagen, in die es hierbei sukzessiv kommt, in einer gewissen Richtung Widerstand leistet, und da alle diese Richtungen den Radien des Kreisbogens entsprechen, in dem wir unsere Finger bewegen, (vielmehr den Radien einer Kugel, auf deren Oberfläche unsere Finger Kreise beschreiben,) so urteilen wir, dass da, wo alle diese Richtungen, in welchen das Stäbchen Widerstand leistet, zusammenstoßen, ein widerstehender Körper befindlich sein müsse, der, weil er unbeweglich ist, von dem beweglichen Stäbchen unterschieden wird. (Wagners HWBch. III, 2. S. 484.) Dieser Erklärung müssen wir noch eins hinzufügen. Die Hauptfrage ist nämlich, woran wir die gleichmäßige Richtung jener Radien auf denselben Mittelpunkt erkennen. Die Bewegung der Finger und das Gefühl des Widerstandes würden an sich dieselben bleiben, wenn das Stäbchen stets mit sich parallel eine Zylinderfläche, sein Ende auf dem Tische also einen Kreis beschriebe, der dem von den Fingern durchlaufenen kongruent wäre. Dass das Stäbchen aber während der Bewegung der Finger einen Kegelmantel beschreibt, dass also sein Ende auf der Tischplatte fixiert ist, erfahren wir nur aus der verschiedenen Verteilung des Druckes, den es in seinen sukzessiven Lagen auf die Finger ausübt. Halten wir es z. B. so wie eine Schreibfeder, so bildet es einen Hebel, dessen Ruhepunkt an dem Orte liegt, wo Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger es durch ihr Zusammenstoßen festhalten. Der eine Arm des Hebels liegt zwischen diesem Punkte und dem Tische und drückt auf die Spitze des Zeigefingers, so wie auf den Radialrand des letzten Mittelfingergliedes; der andere Hebelarm liegt nach der Hand zu, und drückt auf das letzte Daumenglied besonders an seinem Ulnarrande so wie auf die Radialseite des Zeigefingers nahe an seiner Einlenkung an dem Metacarpusknochen. Je nach der verschiedenen Richtung des Stäbchens ändert sich einigermaßen seine Lage in den lose haltenden Fingern, und wenn sich selbst die Lage der Hebelarme nicht ändert, so wechselt doch die Größe ihres Druckes auf die Haut der Finger. Deshalb scheint das Stäbchen in jedem Augenblick eine andere Richtung anzunehmen, oder vielmehr, wir nehmen an dem Wechsel seiner Drucke auf die Hand die wirkliche Veränderung seiner Richtungen wahr. Dass sich dies so verhält, geht aus drei Umständen hervor. Zuerst ist es richtig, wie Weber angibt, dass bei diesem Versuche die Doppelheit der Empfindung mindestens sehr undeutlich wird, wenn das Stäbchen sehr fest gefaßt, und damit sein Bewegungsspielraum in der Hand aufgehoben wird, was freilich nie durchaus gelingt. Es wird zweitens die ganze Erscheinung sehr unklar, sobald man das Stäbchen im Kreise herumführt, ohne mit der Hand überall einen massigen vertikalen Druck nach unten auszuüben; denn durch diesen allein nötigt man beide Hebelarme einen merkbaren Druck nach entgegengesetzten Richtungen auf die Finger hervorzubringen, ohne den die bloße Empfindung von der Lagenverschiebung des Stäbchens nicht zur Bestimmung seiner Richtung deutlich ausreicht. Sie wird drittens unklar, wenn die Hand und ihre Finger, während das Stäbchen einen Kegelmantel beschreibt, sich selbst so drehen, dass die zusammengefaßten Spitzen der Finger immer mit dem Stäbchen in gleicher Flucht liegen. Diese Bewegung läßt sich freilich wegen der Gelenkstruktur des Armes nicht durch einen ganzen Kreis, wohl aber durch ziemlich große Bogen ausführen, und da sie alle Lagenveränderung des Stäbchens in der Hand aufhebt, so gewährt sie nur die Empfindung eines einzigen Druckes, der undeutlich bald auf die Hand, bald auf das Ende des Stäbchens am Tische bezogen wird. Führt man dagegen die Hand so, wie sie der Zeichner bei dem Entwerfen eines Kreises zu führen pflegt, nämlich so dass die drei Fingerspitzen der rechten Hand stets nach links gerichtet bleiben, so muß das Stäbchen in jedem Augenblicke einen seiner wirklichen Richtung entsprechenden neu verteilten Druck auf die Finger ausüben. Lag z. B. der Fixationspunkt des Stäbchens am Anfang des Versuches links von der fassenden Hand, so ruhte, wenn der Daumen es in seinem Ruhepunkte etwas nach unten zu drücken versucht, sein hinterer Hebelarm fest auf der Radialseite des Zeigefingers nahe am Metacarpus und brachte dort einen merkbaren Druck hervor. Hat man es dagegen durch einen Halbkreis verfolgt, und zwar durch Bewegungen der Finger, ohne die Lage des Arms zu ändern, so liegt jetzt sein Fixationspunkt am Tische rechts von den Fingerspitzen, und sein Druck fällt auf den Rücken und die Radiaiseite des letzten Gliedes am Mittelfinger und auf die Volarseite der Zeigefingerspitze, welche beide Teile am Anfange des Versuchs keinen oder nur einen sehr unbedeutenden Druck erfuhren.
367. Hieraus erklären sich einige Versuche, die wir denen Webers hinzufügen können. Steigt man eine Leiter hinauf, deren Sprossen einigermaßen elastisch sind, so fühlt man bei jedem Aufsetzen des Fußes die Befestigungspunkte der Sprossen rechts und links in dem Leiterbaume; rüttelt man mit beiden Händen an einem Gitter, welches nach beiden Seiten in die Mauer gelassen ist, so bemerkt man auch hier die doppelte Befestigung sofort; selbst wenn man einen gespannten Faden aus seiner Gleichgewichtslage entfernt, fühlt man nicht nur, dass er an zwei Orten fixiert ist, sondern man hat auch eine fast unmittelbare Empfindung von der Länge des Fadens, man vermag selbst zu beurteilen, ob man ihn in der Mitte, oder nahe an einem Endpunkte berührt hat. Alle diese Erscheinungen verschwinden, sobald die geprüften Objekte keine Elastizität besitzen; man bemerkt sie nicht mehr an einer Leiter mit sehr schmalen, starken und festen Sprossen, nicht an einem Steingitter, dessen dickere Dimensionen freilich auch die Sache erschweren. Es scheint daher, als wenn hier die kleinen Schwingungen empfunden würden, welche die bewegten Objekte machen, und durch welche sie auf die Haut des tastenden Gliedes abwechselnd die Empfindung eines nach entgegengesetzten Richtungen ausgeübten Druckes erzeugen. Dieser Druck wird eben so wie oben die Vorstellung eines Widerstandes auf die Punkte bezogen, in denen die Linien zusammenstoßen und sich schneiden, welche die verschiedenen Lagen des schwingenden Körpers in den einzelnen Momenten seiner Schwingung repräsentieren. Dass wir überhaupt in diesen Fällen nicht einen unverrückbaren und absoluten Widerstand, oder einen in seiner ganzen Länge uns entgegenkommenden oder zurückweichenden Körper, sondern Schwingungen eines an seinen Enden befestigten wahrzunehmen glauben, kann nur davon herrühren, dass die Ränder der umfassenden Hand oder des Fingers anders und in andern Abwechslungen, als die Mitte der Glieder gedrückt werden. Diese Deutung der Empfindungen ist außerordentlicher Feinheit fähig; die Erschütterung eines Eisenstabes, der nur mit einem Ende in die Mauer gelassen ist, wird deutlich verschieden von der erkannt, die bei zwei Fixationspunkten eintritt, und auf ihre richtige Ursache gedeutet, wenn der Stab nur einige aber lange nicht notwendig so große Elastizität besitzt, um unter dem Drucke unserer Hände sichtbare Lagenveränderungen zu erfahren: Endlich fühlen wir ganz in gleicher Weise eine Kugel, die an einem Faden befestigt, im Kreise geschwungen wird, sehr deutlich auch in diesem Kreise, also am Ende des Fadens, dessen Einschneiden in die Hand wir noch außerdem bemerken. Und nicht nur die Kugel überhaupt, sondern auch ihre Entfernung von der Hand, ihre Schwere und die Geschwindigkeit ihres Umschwungs wird nach dem Wechsel der Zuggefühle in der Haut hier so leicht beurteilt, dass wir dies Alles unmittelbar wahrzunehmen glauben.
368. Zu diesen feineren Leistungen des Tastsinnes gehört noch die Art, wie wir die Dicke der Objekte bestimmen. Es ist dem Geübten leicht möglich, durch das Anfassen die verschiedenen Feinheitsgrade mehrerer Papiersorten, Tuche, Seidenzeuge zu schätzen, selbst wenn die Unterschiede unter die Grenze der Kleinheit hinabgehen, die sonst noch dem Tastsinn oder dem Hautgefühl leicht wahrnehmbar ist. Diese Fähigkeit ist um so bewundernswürdiger, als hier die Dicke nicht unmittelbar an der Größe eines Muskelgefühls gemessen wird, sondern an dem, was diesem Muskelgefühl an Größe noch mangelt, um einem andern gleich zu sein, das aus der unmittelbaren gegenseitigen Berührung der prüfenden Fingerspitzen ohne dazwischenliegendes Objekt hervorgehn würde. Unterstützt wird diese Schätzung dadurch, dass wir den Gegenstand durch reibende Bewegungen zwischen den Fingern mit mehr und mehr Hautteilchen in Kontakt, und dadurch das Maß der Differenz zwischen dem jetzigen und dem bei objektlosem Zusammenschluß der Finger erfolgenden Muskelgefühl in mehreren Beispielen uns zum Bewußtsein bringen. Fällt bei dieser Bewegung die Differenz der Muskelgefühle nicht überall gleich groß aus, so werden wir uns auch dieser Unterschiede wieder deutlich bewußt und wir verwechseln eine kleine gleichmäßig runde Erbse nicht leicht mit einer gleich großen Perlbohne, bei welcher eine Achse größer ist, als die beiden andern. Dieses feine Gefühl gehört übrigens weder den Fingerspitzen allein, noch findet es sich nur bei der wirklichen Anfassung eines Objektes ein. Auch wenn wir im Finstern mit beiden Händen eine Mauer umfassen, können wir ihre Dicke, obgleich weit unvollkommner schätzen, und wenn wir ohne ein zwischenliegendes Objekt die Finger einander nähern, haben wir ohne sie zu sehn, eine Vorstellung von dem Maße der zwischen ihnen noch offenen Distanz. Und ganz im Allgemeinen endlich verschafft uns diese Beurteilung der zusammenwirkenden Effekte vieler gleichzeitiger Muskelbewegungen die Möglichkeit, in jedem Augenblicke und bei der verwickeltsten Stellung, die unser Körper im Finstern einnimmt, ein anschauliches Gesichtsbild seiner Lage und Gestalt konstruieren zu können.
369. Jene Fähigkeit kommt auch dem Blinden zu Gut. Seine Vorstellung des eignen Leibes würde ohne sie sehr unvollkommen sein; sie bleibt es auch noch, da ihm die Transposition des Tastgefühls in Gesichtsbilder unmöglich ist. Aber man sieht hieraus wenigstens, wie auch der Blinde annähernd zu einem Eindrucke des Simultanen kommt, und wie die Erinnerungsbilder, die er sich von den Objekten entwirft, nach Analogie der Gefühle, die er von seinem eignen Körper hat, zu einem abgeschlossenen Schema zusammengefaßt werden können. Da er aber im Tasten alle drei Dimensionen benutzt, so wird sich das haptische Schema, das er von einem Objekte entwirft, sehr von dem optischen Bilde unterscheiden, das ihm der wiedergegebene Gesichtssinn flächenförmig darbietet. Es ist daher nicht befremdlich, dass der Blinde, welchen Cheselden operierte, im Anfang die gesehene Katze mit dem gesehenen Hunde verwechselte, obgleich beide ihm dem Tastgefühle nach hinlänglich bekannt waren. Er war genötigt, sie aufzunehmen und zu befühlen, um sie zu unterscheiden. Für den Sehenden haben sich dagegen beide Sinneswahrnehmungen längst auf das Innigste assoziiert. Man kann nicht sagen, dass wir von den Gegenständen, welche wir allseitig durch den Tastsinn kennen gelernt haben, immer nur ein fächerförmiges optisches Erinnerungsbild besitzen; obgleich die wirkliche Gesichtsempfindung stets nur eine Seite der Objekte zeigt, so sehen wir sie doch in der Erinnerung stereoskopisch von allen Seiten zugleich. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn wir uns auch das Bild unserer eignen Stellung zu den Objekten, so wie sie im Moment der Wahrnehmung stattfand, deutlich wieder reproduzieren. Größere Gegenstände, welche wir mit dem Tastsinne nicht umfassen können, Gebäude, Landschaften, sehen wir daher auch in der Erinnerung stets perspektivisch, flächenförmig aufgerollt und einseitig, indem wir stets zugleich uns den Standpunkt wieder ins Gedächtnis rufen, von dem aus wir sie betrachteten. Höchstens wählen wir in der Erinnerung für Gegenden, die uns allseitig bekannt sind, eine Art Vogelperspektive, um ihre Teile möglichst ungedeckt durch einander zugleich zu übersehen. Es ist deshalb nicht ganz richtig, wenn man meint, dass von dem Sehenden alle Tastvorstellungen auf Gesichtsbilder zurückgedeutet würden; obgleich uns ein getasteter Gegenstand erst dann bekannt zu sein scheint, wenn wir wissen, wie er aussieht, so werden doch auch durch den Tastsinn die Gesichtsbilder in der eben erwähnten Weise zu stereoskopischen Anschauungen ausgedehnt.