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231. Das Reich der Gefühle ist nicht minder mannigfaltig als das der Empfindungen; doch sind die meisten der Zustände, die wir gewöhnlich mit diesem Namen belegen, sehr zusammengesetzte Ereignisse, die ein ungenauer Sprachgebrauch um des sehr verschiedenen Anteils von Gefühl willen, welchen sie enthalten, gemeinsam unter diesem Begriffe zusammenfaßt, Trennen wir nun, sie einer weit spätem Betrachtung aufsparend, von dem Kreise der Gefühle die Gesinnungen, die, wie Freundschaft und Vaterlandsliebe, nach der Lage der Umstände uns alle Grade der Lust und Unlust durchlaufen lassen können; die Stimmungen des Gemüts ferner, wie Trübsinn, Andacht, auf deren gleich bleibendem Hintergründe zwar nicht die ganze Mannigfaltigkeit der Gefühle mit ihren natürlichen Farben, aber doch deren mehr als eines, sich abbilden können; die Affekte endlich, die wie Zorn und Wut eine im Ganzen feststehende Gesinnung durch einen plötzlichen Reiz zu dem Äußersten der Lust und Unlust und zu mancherlei gewaltsamen Strebungen treiben: so finden wir doch selbst die einfacheren Zustände, die wir den Gefühlen gewiß zuzurechnen haben, noch immer zusammengesetzt genug. Erscheinen uns daher auch weder sinnliche noch intellektuelle Gefühle als nur graduell verschiedene Stufen der Lust und Unlust, bieten sie vielmehr sehr bestimmte qualitativ verschiedene Färbungen dar, so kann doch die Frage entstehn, ob nicht in allen Fällen doch das gleiche Wohl und Wehe empfunden werde, jene Verschiedenheiten dagegen von den wechselnden Komplikationen bestimmter Lustgrade mit andern Elementen des geistigen Lebens abhängig seien.
232. Am wenigsten stellen sich die intellektuellen Gefühle als bloße Gradationen desselben Vorgangs dar; sie zeigen vielmehr jene unendlich vielfältigen und feinen qualitativen Nüancierungen, durch welche sie den anziehendsten Gegenstand poetischer Auffassung bilden. Aber bei ihnen ist der Reichtum der Verknüpfung mit andern geistigen Zuständen am deutlichsten zu beobachten. Fast nie fehlt ihnen eine wenn auch undeutliche Erinnerung an die Ursache, von der sie ausgingen, und ist diese selbst aus dem Gedächtnis verschwunden, so hat sie doch dem Vorstellungslaufe eine bleibende Richtung erteilt, und eine Reihenfolge von Gedanken angeregt, die dem an sich vielleicht einfachen Grade der Lust oder Unlust, dem ersten Ergebnis des gefühlserzeugenden Anlasses, einen reicheren oder ärmeren, beständigeren oder veränderlicheren Hintergrund geben. Die körperlichen Folgen, die das erste einfache Gefühl erzeugte, tragen nicht minder zu der mannigfaltigen Nüancierung des Wohl oder Wehe bei, indem sie, selbst wieder wahrgenommen, als eine eigentümlich kolorierende Gewalt auf den ursprünglich einfachen Inhalt des intellektuellen Gefühls zurückwirken. Doch auch sinnliche scheinbar sehr einfache Gefühle enthalten eine ähnliche Komplikation mannigfacher Elemente. Das unangenehme Gefühl, das ein intensiv saurer Geschmack erregt, ist nicht die isolierte Wahrnehmung des Widerstreits zwischen den Funktionsbedingungen des Geschmacksnerven und der ihm aufgezwungenen Tätigkeitsäußerung; es ist viel mehr begleitet von Empfindungen der Zusammenschrumpfung, die die Säure in den Geweben, und der beschleunigten Sekretion, die ihr Reiz in den Drüsen erregt; ebenso führt das Gefühl des Ekels eine Menge Mitempfindungen in verschiedenen Teilen des Körpers und Ansätze zu mancherlei Bewegungen mit sich. Beide Gefühle lassen sich daher als Totaleffekte von Mischungen bestimmter Unlustgrade mit Empfindungen und Bewegungen betrachten.
233. Es ist leicht zu sehen, wie diese Vorstellungsweise verallgemeinert werden kann. Man kann annehmen, dass das einfache Gefühl in seiner Reinheit und isoliert von aller Vermischung mit andern Zuständen, stets nur ein quantitativer Grad der Lust oder Unlust sei, dass aber dieses Element des geistigen Lebens sich in den konkreten Fällen, welche wir Gefühle nennen, stets bald mit diesen bald mit jenen Empfindungen, Vorstellungen oder Bewegungstrieben je nach der Natur seiner Ursache und der Lokalität seiner Entstehung, von der die Irradiation des Reizes auf bestimmte Nervenpartien abhängt, verknüpfe. Dadurch allein schon würden viele von der Intensität der Lust oder Unlust unabhängige Verschiedenheiten der so entstandenen Gefühle erklärlich werden. Man muß hinzufügen, dass von jenen assoziierten Elementen jedes sich wieder mit einem ihm eigentümlichen Grade der Lust oder Unlust verknüpfen kann, und diese mannigfaltigen Lustgefühle, an der Zusammensetzung zu einem einfachen mittleren Lustgrade durch eben diese Verknüpfung abgehalten, in der sie an jenen andern Elementen haften, würden zur Entstehung jener gemischten, bittersüßen Gefühle beitragen, die wir sowohl im eigentümlichen als im figürlichen Sinne so häufig erfahren.
234. Wenn indessen ein großer Teil der Mannigfaltigkeit der Gefühle wirklich auf diesen Umständen beruht, deren Erwähnung deshalb notwendig war, so ist darum doch die Annahme ursprünglich gleichartiger Qualität aller Gefühle weder notwendig, noch wahrscheinlich. Ihr überhaupt zu folgen, kann man überdies leicht durch einen Fehler der psychologischen Anschauung bewogen werden. Die abstrakten Begriffe der Lust und Unlust, sofern sie Widerstreit oder Einklang der Reize und der Funktionsbedingungen verraten, scheinen allerdings nur quantitative Größenunterschiede zuzulassen; aber das Gefühl beobachtet, wie wir zeigten, eben nicht den theoretisch vorstellbaren Tatbestand der Störung oder Förderung, sondern nimmt diesen stets nur unter qualitativ bestimmten Formen wahr, deren gemeinsamer Grundzug eben dieses Wohl oder Wehe ist, welches ebenso wenig quälitätslos empfunden werden kann, als eine Tonempfindung ohne jede bestimmte Höbe oder jedes Timbre des Tons möglich ist. Lust und Unlust würde daher auch jene Hypothese als ebenso qualitativ bestimmte Inhalte ansehn müssen, wie auch Wärme und Kälte für uns qualitative Empfindungen sind, die keineswegs mit einer theoretischen Vorstellung verschiedener Temperaturgrade zusammenfallen. Nur das dürfte jene Hypothese behaupten, dass nun in der Tat in allen Gefühlen nur eine Lust, nur eine Unlust empfunden werde, so wie wir nur eine Wärme, eine Kälte fühlen, aus denen doch je nach der Größe der Oberfläche, die ihnen ausgesetzt ist, nach der Plötzlichkeit ihres Eintretens, nach ihrer Dauer oder Abwechslung, nach dem Körperteile endlich, den sie trifft, ebenfalls sehr verschiedene Formen der Empfindung, von der ruhigen Wahrnehmung des Kalten oder Warmen bis zu den Schauern fieberhafter oder krampfhafter Erregung entspringen.
235. Auch diese logisch berichtigte Auffassung indessen scheint uns nicht richtig, sondern höchstens auf engere Gruppen der Gefühle, wie die Schmerzen, anwendbar, die trotz aller Verschiedenheit ihrer einzelnen Glieder doch auch eine ebenso große Analogie zeigen, wie etwa die Gruppe der Farben trotz des verschiedenen Kolorits ihrer Glieder offenbar einen gemeinsamen Charakter enthält. Die Bedingungen der Nerventätigkeit sind ohne Zweifel nicht einfach, sondern vielfach zusammengesetzt; sie können durch die Wirkungen verschiedener Reize nicht nur mit größerer oder geringerer Kraft, sondern auch in verschiedenem Sinne gestört werden. Sehen wir daher das Gefühl als Maß der Übereinstimmung oder des Widerstreits zwischen der Wirkung eines Reizes und den Bedingungen der von ihm angeregten Tätigkeit an, so ist kein Grund, warum es diese Funktion des Maßes nur für die Quantität der Störung, nicht auch für die Qualität derselben erfüllen könnte. So wie die Seele die Schwingungsweite der Lichtwellen als Helligkeit, die Frequenz der Schwingungen als Farbe wahrnimmt, so kann sie neben der Intensität der Störung, welche sie durch den Grad der Lust und Unlust ausdrückt, auch die spezifische Form des Widerstreits durch eine eigentümliche Qualität derselben wiedergeben. In der Tat sind die einzelnen Gefühle, auch wenn man ausgedehnte Rücksicht auf die früher erwähnten Komplikationen derselben mit andern Zuständen nimmt, doch so verschieden, dass wir im Allgemeinen dieser letzteren Ansicht folgen, die erste Hypothese dagegen nur für den engeren oben bezeichneten Gebrauch beibehalten werden. Eine Übersicht der Gefühle würde sich nun mit den verschiedenartigen Formen der Störung oder Förderung zu beschäftigen haben, aus denen sie entspringen. Obgleich uns in diesem Unternehmen die Unkenntnis der spezifischen Wirkungsweise der Nerventätigkeit mannigfach hindert, müssen wir dennoch diesen Gegenstand mit einiger Ausführlichkeit betrachten, da er uns Gelegenheit zur Feststellung einiger oft schwankend und ungewiß angewandter Vorstellungsweisen gewähren wird; doch müssen wir uns hier auf die sinnlichen Gefühle beschränken, da die Betrachtung der intellektuellen passender zugleich mit der der allgemeineren Zustände und Bewegungen des Gemüts verbunden wird.
236. Es bedarf zur Entstehung eines Gefühles nicht der gleichzeitigen Gegenwart mehrerer Reize; vielmehr können schon einfache Erregungen, indem mit ihrer Qualität zugleich ihr Störungswert für die Funktion des auffassenden Nerven wahrgenommen wird, deutliche Lust oder Unlust erregen. Es würde allerdings schwer sein, diesen Satz genau zu beweisen, da kaum irgend ein Sinnesreiz sich in voller Einfachheit herstellen läßt; jeder Ton pflegt von einem eigentümlichen Klange begleitet zu sein, Farben, Geschmäcke und Gerüche kommen in hinlänglicher Stärke kaum je in völliger Reinheit zu unserer Auffassung. Aber annähernd bemerken wir doch, dass auch die einfache Farbe eines farbigen Glases, ein einfacher Ton ohne Verbindung mit andern einen tiefen und lebhaften Eindruck auf das Gefühl zu machen vermag, und dass dieser Eindruck qualitativ mit der Natur der Farbe und der Höhe des Tones wechselt. Dass an rein süße, saure oder bittre Geschmäcke sich ebenfalls Gefühle, obwohl nach dem Zustande der Nerven sehr veränderlicher Art knüpfen, ist nicht minder bekannt. Aber es ist uns völlig unmöglich, gerade für diese Eindrücke einfacher Empfindungen einen physiologischen Grund anzugehen, da uns die Richtung, in welcher sie die Nerventätigkeit verändern, zu unbekannt ist, als dass wir aus ihr die Größe der Begünstigung oder Störung, die sie erfährt, abzuleiten vermöchten. Was hiervon noch am bekanntesten zu sein scheint, nämlich die Grade der Stärke des Reizes, das ist, wie wir später sehn werden, kein so einfaches Element, dass wir seine Wirkung leicht zu schätzen wüßten. Wir werden uns daher zunächst zu den Verhältnissen wenden, welche zwischen mehreren gleichzeitigen oder sukzessiven Erregungen der Sinnesnerven obwalten und die wir einigermaßen, proportional den nachweisbaren Verhältnissen ihrer veranlassenden äußern Reize, zu übersehen vermögen.
237. Mit dem größten Reichtume anerkannter gefühlserzeugender Beziehungen steht uns hier zunächst die Tonwelt gegenüber. Seit den ältesten Zeiten, seit überhaupt die Abhängigkeit der Tonhöhen von den Längen der gespannten Saite, später von der Frequenz der Schallwellen, bekannt geworden ist, hat man stets den Grund des Wohlgefallens an harmonischen Akkorden in den einfachen Verhältnissen gesucht, in welchen die Schwingungszahlen der consonirenden Töne zu einander stehen. Wären diese Zahlen unmittelbar ein Gegenstand des Bewußtseins, so würde diese Annahme wenigstens den Anfang einer Erklärung in sich fassen. Da jedoch weder die Schwingungsfrequenz überhaupt als solche, noch das Verhältnis mehrerer zu einander als solches wahrgenommen wird, so bleibt die Frage nach dem Wege, auf welchem diese Zahlenverhältnisse für die Entstehung der Gefühle verwertet werden können. Aus ihrer Überlegung ist in neuerer Zeit bei Herbart selbst die Ansicht entstanden, dass das Gefühl der Harmonie überhaupt gar nicht in unmittelbarer Beziehung zu jener Einfachheit der Zahlenverhältnisse stehe, ja dass selbst alles Gefühl für musikalische Konsonanz nicht auf einer besonderen Verträglichkeit der akustischen Nervenprozesse, sondern auf einer ganz abweichend gearteten gegenseitigen Beziehung der psychischen Tonempfindungen beruhe. Zwei Gründe führten zu dieser Behauptung. Einmal sei die Seele ein intensives Wesen, in welches die Schallschwingungen nicht als solche, mithin auch nicht ihre physische Regelmäßigkeit und Gesetzlichkeit der Verhältnisse Eingang finden könnte. Wir haben oben im Gegenteil nachzuweisen gesucht, dass Alles, was an den Schallwellen von Wichtigkeit ist, sich sehr wohl auch als Form eines intensiven Prozesses fassen lasse, und mithin sich in der Seele mit dem gesamten Reichtume seiner inneren Verhältnisse reproduzieren könne. Anderseits zeigte sich nun, dass die harmonischen Intervalle, die wir in der Musik anwenden, nicht genau mit denen coincidiren, welche wir physisch und mathematisch bestimmen, so dass unser Wohlgefallen auf Zusammenstellung von Tönen ruht, welche sich meist um etwas von der Reinheit jener einfachen Zahlenverhältnisse entfernen. Teils sind indessen diese Abweichungen so gering, dass sie unserer ungeübten Empfänglichkeit entgehen, teils werden sie dadurch für unser Gefühl kompensiert, dass nur unter ihrer Voraussetzung, so wie sie in der gleichschwebenden Temperatur vorhanden sind, eine Komposition möglich wird, die durch mehrere Oktaven läuft, und zugleich aus einer Tonart in die andere übergehen kann. Unser musikalisches Gehör aber ist weniger an absolute Reinheit der Töne, als daran gewöhnt, jedem einzelnen seine Stelle in dem Tonreich zu geben, und ihn in der Fülle möglicher Beziehungen zu anderen zu denken. Wie sehr dies auf unsere Schätzung der Töne Einfluß hat, sehen wir an einem schon früher erwähnten Umstand. In der Skala erscheint uns bis zur Quinte hin ein deutlicher Fortschritt; Sext und Septime dagegen geben uns ein eigentümliches Gefühl der Schwächung trotz der steigenden Tonhöhe. Aber dies Gefühl ist ganz unabhängig von dem einzelnen Tone, der hier als Septime auftritt, und der, wo er als Grundton einer neuen Skala behandelt wird, nichts von dieser Schwächung bemerken läßt, die wir mithin nur von der zurückwirkenden Erwartung der Oktave abhängig machen können.
238. Dagegen möchten wir nicht zu Gunsten unserer Meinung von der physischen Begründung der Harmonien auf jene Verstimmungen zurückkommen, welche teils in Verbindung mit deutlichen Fehlern des Gehörorgans, teils nur durch Mutmaßungen mit solchen in Zusammenhang gesetzt, einzelne Individuen die Harmonien anders als andere empfinden lassen. Denn es bleibt hierbei doch unentschieden, ob nicht die krankhaften Zustände des Gehörorgans der Seele überhaupt ein abweichendes Material der Wahrnehmung zuführen, in welchem sie Dissonanzen erkennen muß, während einem Andern sein gesundes Ohr unter dem Einfluß derselben äußern Schallreize andere Erregungen erweckt, die er nach denselben psychischen Gesetzen als Harmonien fühlen müßte. Ich halte es wenigstens für unwahrscheinlich, dass ein kranker Hörnerv zwar noch im Stande sein sollte, uns die Tonhöhen ebenso wie Andere empfinden zu lassen, unfähig dagegen, mit der Kombination dieser gleich empfundenen Töne auch dasselbe Gefühl der Lust oder Unlust zu erregen. Wir bedürfen indessen dieses Grundes auch schwerlich, um unsere Ansicht festzustellen, dass die Harmonien der Töne allerdings durch Harmonien der Nervenprozesse begründet werden. Aber mit diesem allgemeinen Ausdruck haben wir in der Tat auch nur die tatsächliche organische Veranlassung ausgesprochen, welche den Gefühlen der Harmonie zu Grunde liegt; auf welche Weise dagegen sie diese letzteren hervorbringt, ist kaum bis jetzt einer genügenden Erklärung zugänglich. Ich muß in dieser Hinsicht auf das verweisen, was die neueren mikroskopischen Untersuchungen über die feinste Struktur des Gehörnerven und seiner nächsten Hilfsorgane ermittelt haben. (Vgl. Harless: Hören in Wagners HWBeh. IV. S. 438 ff.) Eine große Mannigfaltigkeit äußerst komplizierter Vorrichtungen hat sich hier gezeigt, gerade bekannt genug, um auf wichtige Dienste schließen zu lassen, welche sie dem Hören leisten, aber noch viel zu wenig erforscht, um eine Angabe und Deutung dieser Dienste möglich zu machen. Versuchen wir daher über die Begründung der Harmonien noch einige Worte, so wissen wir doch, dass wir dabei eine Menge organischer mitwirkender Bedingungen unbeachtet im Rücken lassen, und können daher hier, wie so oft in ähnlichen Fällen, unsere Ansichten nur mit Vorbehalt des Widerrufs nach besserer Information aussprechen.
239. Die Beantwortung der Frage, wie die Seele zum Gefühl der Harmonie zweier Töne gelangt, ist abhängig von der Antwort auf die andere, welchen Empfindungseindruck sie überhaupt von zwei gleichzeitigen Tönen erfährt. Gewöhnlich wird angenommen, dass das Ohr im Stande sei, mehrere Töne gleichzeitig und getrennt zur Perzeption zu bringen. "Theoretische Bedenken und praktische Erfahrungen, sagt Harless (a. a. O. S. 433), an mir und anderen nicht musikalisch Gebildeten lassen mich daran zweifeln." Ich kann diese Bedenken nicht teilen, und dem scharfsinnigen Physiologen in der Behauptung nicht beistimmen, dass für den musikalisch nicht Gebildeten sich die ganze Wirkung gleichzeitiger Töne zu einer einzigen bestimmten Empfindung vereinige, und dass erst das gebildete Ohr die verschiedenen Töne scheide, nicht mittelst des Sinnes, sondern der Aufmerksamkeit, welche auf die Distanzen der zusammenfallenden Maxima sich zu richten gelehrt worden sei. Lassen wir jedes theoretische Bedenken zuerst beiseit und fragen dem tatsächlichen Verhalten nach, das, aus welchen Bedingungen auch immer entstanden, wirklich stattfindet, so scheinen mir die Erfahrungen vielmehr das Gegenteil zu lehren. Gewiß werden viele Töne zugleich nicht so ungestört wahrgenommen, wie einzeln gewiß ist es gerade der ungebildeten Aufmerksamkeit schwer, sie als gesonderte Objekte der Betrachtung zu scheiden, und namentlich findet dies bei musikalischen Tönen statt, deren Konsonanz und Dissonanz eben für die unbefangene Auffassung jedes einzelnen störende Verhältnisse sind. Aber wir sind im Stande, nicht bloß Töne, sondern auch Worte und Sprachlaute, die zugleich erklingen, zugleich wahrzunehmen; wir hören im Sturme unsern Fußtritt vollkommen deutlich als ein zweites Geräusch neben jenem; das Rücken eines Stuhls im Konzert übertäubt wohl einen musikalischen Ton, aber setzt sich nicht mit ihm zusammen, Überhaupt ist schwer anzugeben, worin eigentlich jene mittlere einfache Empfindung bestehen sollte, zu welcher sich simultane Tonempfindungen zusammensetzten. Ich kann sie deshalb kaum für etwas Anderes als für ein unwirkliches Geschöpf der Theorie halten, um so mehr, da mir auch der andere Teil der Behauptung, die Leistung nämlich, welche der Aufmerksamkeit zugeschrieben wird, unmöglich scheint. Allerdings mag die Aufmerksamkeit von einer schon bestehenden Mannigfaltigkeit der Eindrücke bald den einen bald den andern hervorheben und die Verschiedenheiten schärfer beleuchten, die zwischen mehreren obwalten; aber sie kann keine Unterschiede schaffen, welche nicht vorhanden sind. Undeutlich können wohl ursprünglich die zugleich gehörten Töne sein; wären sie aber wirklich in eine Empfindung verschmolzen, welches irgend erdenkliche Motiv könnte dann die Aufmerksamkeit haben, etwas zu scheiden, was sich als Eins ankündigt? Und hätte sie selbst ein Motiv, wo sollte sie ein Kriterium hernehmen, nach dem sie den Unterschied so und nicht anders anbrächte, falls nicht in dem Empfundenen dieser Unterschied bereits läge? Man kann zum besseren Verständnis noch analoge und doch abweichende Beispiele herbeiziehen. Gleiche Töne von gleichem Klange gehen ohne Frage in eine Empfindung zusammen; aber gleiche Töne von ungleichem Timbre nicht so ganz. Man wird finden, dass der unisone Gesang einer Gemeinde auch bei sonstiger Reinheit der Töne doch nicht sowohl den Eindruck größerer Stärke, als vielmehr den einer Art Breite erweckt, in der die vielen eigentümlichen Klänge verschiedener Stimmen nebeneinander empfunden werden und den Gesang als das erscheinen lassen, was er wirklich ist, nämlich als eine Summe von Beispielen derselben Eindrücke. Auch bei vollkommen ruhendem Auge sind wir ferner im Stande, aus einer verschlungenen arabesken Figur bald dieses bald jenes zusammengehörige Liniensystem schärfer hervorzuheben; aber auch hier sind dies eben wirklich vorhandene und als verschieden vorhandene Eindrücke, deren gegenseitigen Zusammenhang die Aufmerksamkeit bald nach dieser, bald nach jener Richtung verfolgt. Ich muß deshalb ganz im Gegensatz zu Harless behaupten, dass gleichzeitige verschiedene Töne gewiß primitiv gleichzeitig als verschiedene empfunden werden, und ohne qualitative Verschmelzung zu einem Totaleindruck; dass aber hier wie auch im Sehfeld, in dem ja auch die Farbenpunkte nicht erst ein Grau bilden, aus dem wir nachträglich die Farben heraus analysieren, es der Aufmerksamkeit schwer fällt, diese Mannigfaltigkeit vollkommen zu überblicken. Anstatt dass sie es wäre, welche diese Vielheit der Töne durch ihre Scheidungstätigkeit erst erzeugte, ist sie vielmehr ohne Übung unfähig, die schon bestehende Vielheit richtig zu schätzen. Auch möchte ich dem nicht beistimmen, wenn Jemand jene Vermischung der Eindrücke etwa nur in die früheste Kindheit versetzen, dem Erwachsenen dagegen eine schon gewonnene Fertigkeit der Unterscheidung zuschreiben wollte. Ich könnte nirgends Tatsachen sehen, die auf eine so gewagte Vermutung hinzuführen geeignet wären.
240. Obgleich indessen die Tatsache der gesonderten Perzeption mehrerer Töne festzustehen scheint, so wird doch die Erklärung ihrer Möglichkeit nur bis zu einem gewissen Grade gelingen. Man pflegt sie gewöhnlich von der bekannten störungslosen Durchkreuzung physischer Wellen abzuleiten, und auch wir nehmen diese Meinung gegen neuere Einwürfe in Schutz, obschon sie uns höchstens ein Mittel kennen lehrt, dessen die Natur sich bedienen kann, um jene gleichzeitige Mannigfaltigkeit der Empfindungen zu bewirken, uns aber unklar läßt über die Art, in welcher dieses Mittel benutzt wird. Was zuerst jene Einwürfe anlangt, so ist es allerdings richtig, dass der Hörnerv nicht einer freien Wasserfläche gleicht, auf welcher Wellen, die sich in einem Punkte kreuzen, allseitig über diesen Punkt hinaus sich in ihren natürlichen Formen fortsetzen können. Er gleicht vielmehr einem engen Kanal, an dessen einem Ende allein Wellen erregt werden, die nur auf dem vorgeschriebenen Wege seiner Längsrichtung sich weiter bewegen. Treffen mithin einmal zwei Wellen in ihm zusammen, so pflanzt sich auch ihr Resultat unverändert weiter fort, ohne wieder in die beiden zusammensetzenden Wellen zu divergieren. Beruhte daher unser Hören auf der Wahrnehmung einer einmaligen Impression, so würden wir allerdings einem kombinierten Eindruck, oder, um bildlich zu reden, dem erhöhten Wellenberge, der aus der Durchkreuzung mehrerer Wellen entsprang, diese Entstehung nicht anmerken können und jedenfalls keinen Grund haben, anstatt einer Empfindung deren zwei zu haben. Kann man daher allerdings von jener störungslosen räumlichen Durchkreuzung der Wellen, wie sie etwa auf einer Wasseroberfläche sichtbar ist, zur Erklärung hier keinen Gebrauch machen, so gilt dies doch nicht von der störungslosen Durchkreuzung der sukzessiven Impulsreihen, die den verschiedenen Tönen zu Grund liegen, und deren gesondertes Durcheinandergehn ebenfalls von der oszillatorischen Form des physischen Prozesses abhängig ist. Mögen zwei verschiedene Töne gleichzeitig oder ungleichzeitig ihre Schwingungen beginnen, immer wird für jeden von ihnen das Maximum seiner Welle nach einem für ihn konstanten Zeitintervall wiederkehren. Wie auch ferner beide Wellenreihen, indem sie auf das gemeinschaftliche Substrat des Nerven wirken, ihre Effekte an diesem zusammensetzen so wird doch stets in der Gesamterregung des Nerven, die so entsteht, die Lage der Maxima beider Wellen in der Zeit durch entsprechende ausgezeichnete Werte dieser Erregung markiert bleiben. Wirken daher zwei Töne gleichzeitig ein, so werden ihnen auch stets zwei Reihen periodischer Impulse in dem Nerven entsprechen und es wird mithin an den Gegenständen wenigstens nicht fehlen, welche den Inhalt zweier gesonderten Empfindungen bilden können, indem sowohl die eine als die andere zusammengehörige Reihe jener ausgezeichneten Werte nach der Frequenz ihrer Wiederkehr als besonderer Ton perzipiert werden würde. Dass hierbei noch etwas zu erklären bleibt, werden wir später allerdings sehen; genug, dass einstweilen die Gegenwart von Prozessen im Nerven nachgewiesen ist, die sich als zweierlei fassen lassen, wenn die Seele sie so zu fassen versteht.
241. Zur Beurteilung der Gefühle von Harmonie oder Disharmonie müssen wir nun folgende gegenseitige Verhältnisse zweier Töne unterscheiden. Setzen wir zuerst ihre Verschiedenheit gleich Null, ihre Schwingungszahl als dieselbe, so wird ihr Totaleffekt im Nerven, mögen sie nun gleichzeitig ihre erste Schwingung begonnen haben, oder nicht, eine Reihenfolge von sich wiederholenden Zustandsänderungen sein, deren jede der andern vollkommen gleich und ähnlich ist, und deren jede in der einfachen Schwingungszeit des verursachenden Tones entsteht und endet. Wir wollen die Reihe von Veränderungen, welche der Nerv von einer Erregungsphase bis zu der nächsten ihr vollkommen gleichen durchläuft, den Umlauf der Nervenzustände nennen; er ist für diesen ersten Fall seiner Dauer nach der Schwingungsdauer des Tones gleich. Wir nehmen nun ferner an, dass die Töne verschiedene Höhe haben, und dass bei simultanem Anfang ihrer ersten Schwingung ihre Maxima nicht stets, sondern in unbestimmten Zeiträumen auf einander fallen, so dass in den Zwischenzeiten zwischen diesen Epochen das Maximum der einen Welle eine allmählich sich verrückende Stelle in Bezug auf das Maximum der andern einnimmt. Der Gesamteffekt beider Töne in dem Nerven würde hier, graphisch dargestellt, eine Reihe von Zustandsänderungen sein, deren einzelne, der Schwingungszeit des einen oder des andern Tons entsprechende Abschnitte weder gleich noch ähnlich sind; erst von da ab, wo beide Töne wieder mit den Maximis ihrer Wellen zusammentreffen, würde eine zweite Phase eintreten, die der am Anfange der ganzen Erregung gleich wäre, und von jetzt an würde der Umlauf der Nervenzustände seine zweite Periode beginnen. Nun würde innerhalb jedes einzelnen Umlaufs der Nervenzustände die für jeden einzelnen Ton regelmäßige Wiederkehr seiner Maxima immer fortfahren sich geltend zu machen und die Empfindung zweier Töne von bestimmter Höhe hierdurch bedingt sein. Aber außerdem würde auch die Länge eines Umlaufs im Ganzen und seine Wiederkehr Gegenstand der Wahrnehmung werden, und sie eben würde unter der Form eines Gefühls erfolgen. Für consonirende Töne ist dieser Umlauf kurz; schon nach wenigen Schwingungen fallen ihre Maxima wieder aufeinander; für dissonierende Töne ist der Umlauf lang, und es bedarf Zeit, ehe der unsymmetrische Totaleffekt im Nerven sich bis zur Wiederkehr einer seinem Anfange völlig gleichen Konstellation abwickelt. Und nun kann man, der gewohnten Meinung folgend, annehmen, es fehle der Seele für diese länger dauernden Umläufe des Nerven an Empfänglichkeit; und während sie die kürzeren noch in der Regelmäßigkeit ihrer Wiederkehr auffasse, entstehe ihr aus jenen nur noch der Eindruck einer sich nie gesetzlich wiederholenden Unsymmetrie, welcher mit dem Charakter der Unlust als Disharmonie gefühlt werde.
242. Der nötigen Aufrichtigkeit gemäß haben wir nun noch hinzuzufügen, was dieser Erklärung fehlt. Zuerst würde man durch sie, auch wenn sie richtig ist, doch nur die faktische Bedingung bezeichnet haben, auf welcher die Gefühle der Harmonie und Dissonanz beruhen; dagegen bliebe noch immer die Frage, warum nun eben die Tatsache einer übersehbaren Symmetrie der Nervenzustände Lust, die entgegengesetzte Unlust errege. Wir können sie nicht beantworten; doch wissen wir wenigstens, dass auch sonst grade diese Seite der physischen Prozesse, die Form ihrer Wiederkehr und ihre Frequenz, für das Ohr von entscheidender Wichtigkeit ist. So wie es die regelmäßige Frequenz eines einfachen Schalles als Tonhöhe empfindet, so mag es leicht durch dasselbe Geheimnis seiner Organisation die regelmäßige Coincidenz mehrerer als eine Frequenz höherer Ordnung unter der Form der Harmonie fühlen. Und hiermit hängt das zusammen, was wir oben als ein noch zurückbleibendes Rätsel bezeichneten. Wenn die Impulse eines Tones unregelmäßig in die Zwischenzeiten zwischen den Impulsen eines zweiten fallen, warum perzipiert die Seele jede für sich gesetzmäßige Reihe besonders als einen eigenen Ton, und entwickelt nicht eine Tonvorstellung für die aus ihrer Durchkreuzung resultierende und als Ganzes betrachtet unregelmäßige Reihe? Diese Frage glaube ich nicht anders beantworten zu können, als dadurch, dass überhaupt regelmäßige Frequenz der Impulse eine notwendige Bedingung für die Erzeugung von Tonempfindungen ist, und dass das Resultat zweier Reihen, wenn es als Ganzes unregelmäßig ist, gar nicht mehr als Ton für sich, sondern nur als Gefühl der Konsonanz oder Dissonanz perzipiert wird, während dagegen die Regelmäßigkeit jeder einzelnen von beiden Reihen getrennt und gesondert unter der Form einer bestimmten Tonhöhe zur Empfindung gelangt. So viel solcher symmetrischen Impulsreihen in übersichtlicher Konzentration vorhanden sind, so viele Töne werden empfunden, und eben deshalb hören wir sogar neben zwei Wellenreihen, die durch objektive Reize hervorgerufen wurden, einen dritten objektiv nicht begründeten Tartinischen Ton, sobald die Impulse jener beiden Prozesse noch nach einer andern Richtung sich kombinieren lassen. Endlich müssen wir noch bemerken, was sich von selbst ergibt, dass es nicht auf die absolute Zeitdauer eines Umlaufs der Nervenzustände ankommen kann, ob die Seele seine Abgeschlossenheit und Wiederkehr noch bemerken soll oder nicht; denn sonst würden Dissonanzen höherer Töne noch als Konsonanzen empfunden werden müssen, wo gleiche Intervalle in tieferen Lagen schon dissonierten. Die Dauer eines Umlaufs muß vielmehr nach der Anzahl der Verrückungen gemessen werden, welche innerhalb desselben das Maximum der Welle eines Tons bezüglich auf das Maximum des anderen erfahren hat, und deren größere Menge auch unserer zusammenfassenden Empfänglichkeit größere Schwierigkeiten entgegensetzt. Hiermit müssen wir diesen Gegenstand verlassen; die weitere Begründung der Harmonienlehre würde zu weit in ein für jetzt unfruchtbares Detail führen, die Betrachtung der Melodien dagegen zu dem Geständnis, dass wir gar nichts über die Bedingungen wissen, unter denen ein Übergang des Nerven aus einer Form der Erregung in die andere eine physische Grundlage für die kraftvollen ästhetischen Gefühle bietet, die der Abwechselung der Töne folgen.
243. Auch an die Zusammenstellung der Farben knüpfen sich Gefühle der Harmonie. Wer jedoch die Verhältnisse der Tonwelt auf sie übertragen, und aus den Schwingungszahlen der Farben ähnliche Akkorde wie die der Musik berechnen wollte, würde sich einer Phantasie hingeben, die einzig durch Übereinstimmung mit der Erfahrung einigen Wert erhalten könnte. Wie anders das Farbenreich organisiert ist, als das Tonreich, haben wir bereite gesehen; auch dass die Farben neben einander von verschiedenen Fasern des Nerven aufgenommen werden, muß verbieten, die Harmonienverhältnisse der Töne einfach auf sie überzutragen, und nur die Tatsache, dass allerdings die Farbenreizung einer Netzhautstelle in ihren Nachbarn die komplementären Farben induziert, könnte dieser Übertragung einigen Grund geben. Das Einzige, was theoretisch sich für die Lehre von den Farbenharmonien benutzen läßt, sind in der Tat die Erscheinungen der Komplementärfarben, ganz abgesehen von den Schwingungsverhältnissen, auf denen sie beruhen. Es ist wahrscheinlich, dass Zusammenstellungen und Folgen von Farben, welche diesem physiologischen Bedürfnis des Wechsels in der Erregungsweise entsprechen, auch Gefühle der Lust erwecken, und so mögen wir gern zugeben, dass Kombinationen komplementärer Farben, wie Rot und Grün, Violet und Gelb, Blau und Orange, eine besonders günstige Wirkung ausüben. Aber wir können im Gegensatz zu ihnen andere Kombinationen nicht verdammen. Nicht allein deswegen, weil überhaupt die Intensität der Gefühle, welche sich an Farbenverbindungen knüpfen, viel geringer ist, als die der Tongefühle, so dass schwerlich über sie eine so allgemeine Übereinstimmung des Urteils zu erwarten ist, wie in der Musik; wir glauben vielmehr, dass der Farbensinn überhaupt der Dissonanzen im musikalischen Sinne unfähig ist. Jede Farbenverbindung erweckt uns vielmehr den Eindruck eines Genre für sich, so etwa, wie Dur und Moll, oder wie verschiedene Geschmäcke, verschiedene Vegetationstypen, oder so wie Style der Kunst und Lebenssitten sich von einander charakteristisch abheben, Jedes in seiner Art merkwürdig und genießbar, wenn man sich hinein zu versetzen weiß. Ich kann zugeben, dass rote Rosen im grünen Laube vorzüglich schön sind, aber ich kann nicht finden, dass alle anders gefärbten Blumen in der Welt, die ja alle grünes Laub begleitet, geschmacklos aussehen; ich kann nicht finden, dass der blaue Himmel über der grünen Erde eine Abscheulichkeit, überhaupt, dass die Natur so voll von Farbendissonanzen sein sollte, als sie nach diesen theoretischen Anschauungen sein müßte. Vielmehr erwecken mir die Farbenkombinationen qualitativ verschiedene Gefühle bald der kräftigenden Härte, bald der besänftigenden Weichheit, diese einer fremdartigen, erfrischenden Kälte, jene einer heißen, aufregenden Glut; einige erregen zu Freude und Spannung, andere zu Trauer und Wehmut, aber die, die das Letzte tun, sind deswegen nicht dissonierend, weil das Gefühl, welches sie erregen, einem andern wohltuenden entgegengesetzt ist. Und so werden wir fortfahren, weder Rot mit Blau, noch Blau mit Gelb als absolut unschön zu verwerfen, noch überhaupt manchen theoretischen Aberglauben zu teilen, der seit Göthe so reichlich auf diesem Gebiete sich ausgebreitet hat.
244. Was die Stärke der Reize und ihre Kraft zur Erweckung der Gefühle betrifft, so können wir hauptsächlich an der Hautempfindlichkeit für Temperaturen hierüber Beobachtungen anstellen, indem wir voraussetzen, was wohl richtig sein dürfte, dass dem Unterschiede der Temperaturgrade direkt eine Differenz in der Stärke der Nervenerregung, nicht aber, wie bei der Schwingungsfrequenz der Töne und Farben, eine formelle Differenz derselben entspreche. Es ist längst bekannt, dass die Schmerzen exzessiver Kälte von denen durch übermäßige Hitze nicht wohl unterscheidbar sind, ja dass selbst ohne den Eingriff des Reizes zu beobachten, wir nicht sicher anzugeben vermögen, ob wir gebrannt oder gestochen oder gedrückt werden. Hieraus würde man schließen müssen, dass der in allen diesen Fällen entstehende Schmerz nichts mit der Empfindung von Temperatur gemein habe, sondern nur der Ausdruck der Störung sei, die auf irgend eine dieser Weisen im Nerven hervorgebracht werde. Doch läßt sich nicht leugnen, dass der Schmerz hier überhaupt eine große Ähnlichkeit mit exzessivem Wärmegefühl hat, gleichviel, welches seine wirkliche Ursache ist. Aus Versuchen von E. H. Weber (Wagners HWBch. III, 2.. S. 569 ff.) geht hervor, dass die Temperaturen, welche in den Hautnerven Schmerz erregen, zugleich die Fähigkeit derselben, objektiv die Temperaturgrade zu empfinden, schwächen oder ganz aufheben. Dies ist vollkommen dem analog, was wir im Opticus und Akusticus wahrnehmen. Ein lebhaftes Nachbild oder Blendungsbild macht die Netzhautstelle, die es einnimmt, für äußere Farben, ein subjektives Klingen im Ohr dieses für äußere Schallreize unempfindlich. Der Eintritt des Schmerzes wird übrigens durch alle Umstände begünstigt, welche die Temperatur schneller, in größerer Intensität, Dauer und Ausdehnung auf den Nerven wirken lassen, so dass nur wenig Zweifel an seinem Ursprung aus übermäßiger Stärke der Erregung sein kann. Dass diese Erregung sowohl durch Kälte als durch Wärme erzeugt wird, ist merkwürdig zwar, doch nicht befremdlich. Wir haben den gewöhnlichen Zustand des Nerven, so wie er sich in der Temperatur der Körperwärme befindet, als das Gleichgewicht zu betrachten, das nach zwei Seiten gestört werden kann, durch Aufnahme von Wärme oder durch Abgabe derselben. In mäßigen Größen bringen beide Prozesse die qualitativ verschiedenen Empfindungen des Warmen und Kalten hervor; in höheren Graden vernichten sie die Fähigkeit des Nerven, die funktionellen Veränderungen zu leiten, durch die er jene Empfindungen begründet, und lassen nur eine Fortleitung der Störung übrig, die unter der gemeinsamen Form eines Schmerzes gefühlt wird.
245. Neben diesen Gefühlen der eigentlichen Sinnesorgane gibt es eine große Menge anderer, die wir um ihres Einflusses auf das übrige Geistesleben willen an verschiedenen Orten unserer Betrachtung erwähnen werden; hier, wo es sich hauptsächlich um die physische Begründungsweise des Gefühls handelt, wollen wir nur Eines noch anführen. Man scheint mir zu sehr geneigt, Gefühle überhaupt von einer Steigerung der Nervenerregung abzuleiten, der qualitativen Verschiedenheit der Erregung dagegen zu wenig zuzuschreiben. Gleichwohl kann doch an und für sich selbst die bloße Größenerhöhung einer Tätigkeit nicht schon Ursache eines Übergangs der Empfindung in Gefühl sein, sondern nur insofern, als durch das Wachsen der Stärke eine bestimmte Größe und Art der Störung in dem Nerven herbeigeführt wird. Pflegt man daher die Schmerzen namentlich von allzu großer Intensität der Nervenprozesse herzuleiten, so weiß ich wenigstens nicht, was mit den Lustgefühlen zu machen ist, die doch nicht identisch mit einem indifferenten Zustande der Nerven sind, also um irgendwo untergebracht zu werden, als Abnahmen des Nervenprozesses unter das gewöhnliche Niveau angesehen werden müßten. Wir werden jedoch bald zu bemerken Gelegenheit haben, wie vag und unanwendbar eigentlich dieser Begriff einer Erregungsgröße ist, den wir leider in Ermangelung besserer Kenntnis beibehalten mußten, in dem wir aber wenigstens die Größe der funktionellen Erregung von der der Störung unterscheiden zu müssen glaubten. Mögen nun die Schmerzen darauf beruhen, dass sie die letztere erhöhen, so gehen sie doch nicht immer von Ursachen aus, welche auch die erste vergrößern; oder: es gibt eigentümliche, dem Grade nach nicht übermäßige funktionelle Erregungen, welche ein bedeutendes Störungsmaß veranlassen, während andere sehr große funktionelle Tätigkeiten nur eine geringe Abnutzung hervorbringen, und deswegen hauptsächlich als Größen des Tuns, nicht des Leidens, unter der Form von Lustgefühlen perzipiert werden.
246. Hierauf scheinen mir alle Gefühle, die sich an Monotonie und Abwechselung der Eindrücke knüpfen, überhaupt die Erscheinungen der Ermüdung und Abstumpfung der Nerven zurückzukommen. Wollte man alle Unlust nur von der zu großen Erregung der Nerven im Ganzen ableiten, so schiene es mir völlig unbegreiflich, wie eine Retina für Orange abgestumpft werden und doch für blaues Licht reizbar bleiben, noch viel mehr, wie selbst für sie eine Art Erholung darin liegen könnte, nachdem sie Orange lange genossen, jetzt zu Blau überzugehen, dessen Wellenfrequenz noch größer ist als die des Orange. Denn gäbe es in dem Nerven keine andere, als eine graduell quantitative Veränderlichkeit der Erregung, so müßten wir doch wohl voraussetzen, dass die Farben, sobald sie nicht bloß durch ihre Lichtstärke, sondern durch ihre Qualität Ermüdung bedingen, dies nach Maßgabe ihrer Schwingungszahl täten. Hält man ferner Oberarm und Unterarm längere Zeit horizontal gestreckt, so empfindet man bald eine lebhafte Pein der Ermüdung, und es gewährt in diesem Augenblicke eine merkliche Erleichterung, den Arm noch höher heben zu dürfen, also die ermüdeten Muskeln in einen noch größern Kontraktionsgrad zu versetzen. Nachher freilich dauert bei allzulang fortgesetztem Versuche der Schmerz noch lange. Im Allgemeinen aber wissen wir, dass den Muskeln eine sehr große Anstrengung, während welcher sie in beständiger Veränderung ihrer Zustände begriffen sind, weit weniger Schmerz verursacht, als diese einfachen Experimente. Ich glaube daher, dass er hier überhaupt nicht von der sogenannten Größe der Erregung, d. h. von der der funktionellen Leistung ausgeht, sondern von der besonders ungünstigen Weise, in welcher hier, so wie in der Netzhaut, der Nerv beständig nach derselben Richtung hin verändert wird. Auch die Phänomene des Kitzels könnten hierher gezogen werden. Sie sind abhängig von sehr kleinen, aber sehr schnell wiederholten Reizen, und während ein heftiger Druck die Umgebung der gedrückten Stelle wenig angreift, regt der Kitzel sie zu weitverbreiteten schaudernden Mitgefühlen an und ruft leicht ausgedehnte Reflexbewegungen hervor. Auch hier scheint also die Größe des im Bewußtsein wahrgenommenen Effekts oder des Gefühls nicht von einer besondern Stärke, sondern von einer besonderen Form des Reizes abhängig.