Rudolph Hermann Lotze
Medizinische Psychologie
Rudolph Hermann Lotze

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§. 26. Von den Bewegungsgefühlen.

270. Bewegungen geschehen nicht allein, sondern sie sind während des Geschehens zugleich Gegenstände einer Wahrnehmung, durch welche wir ihre Richtung und Geschwindigkeit so wie die Größe der aufgewandten Kraft auch dann zu schätzen vermögen, wenn wir durch Auge oder Tastsinn die mit der Bewegung sich verändernde Lage der Glieder nicht beobachten können. Unter dem Namen des Muskelgefühls zusammengefaßt, bilden diese, Wahrnehmungen nicht nur zur Unterwerfung der mechanisch präformierten Bewegungen unter die Herrschaft des Willens, sondern auch zur feineren Ausbildung aller sinnlichen Auffassungen ein unentbehrliches Hilfsmittel. So unbestreitbar indessen die Tatsache ist, dass wir von der Lage unserer Glieder und von der Richtung ihrer Bewegung Eindrücke erhalten, so ist doch die Entstehung derselben weder ebenso klar, noch ist sie überall richtig aufgefaßt worden. Was ist es vor allen Dingen, was eigentlich den Gegenstand dieser Wahrnehmungen bildet? Fühlen wir den Impuls, den wir den motorischen Nerven erteilen, in dem Augenblicke, wo er von den Zentralorganen ausgeht, oder nehmen wir nicht ihn selbst, sondern nur die näheren und entfernteren Folgen seiner Wirkung auf die Muskeln durch eine centripetale Erregung wahr, die von dort zu dem Gehirn zurückkehrt, oder endlich findet beides neben einander statt? So geteilt hierüber die Meinungen sind, so glauben wir doch behaupten zu dürfen, dass ausschließlich der zweite Fall wirklich vorkommt, obgleich wir nicht im Stande sind, alle hier sich anknüpfende Nebenfragen zu beantworten.

271. Wenn durch äußere Gewalt ein Glied in eine Lage gebracht wird, in welche es auch unser Wille ohne merkliche Anstrengung versetzen kann, so sind in beiden Fallen die entstehenden Bewegungsgefühle völlig gleich, obwohl in dem ersten weder ein Willensimpuls einwirkt, noch überhaupt die Muskeln in einen lebendigen Kontraktionszustand gerieten. Diese Erscheinung kann an der Existenz einer durch die Muskeln selbst vermittelten Wahrnehmung der Bewegungen überhaupt irre machen, und in der Tat hat Spiess (Physiol. des Nervensyst. 1844. S. 76) mit vielem Scharfsinn jedes vermeintliche Muskelgefühl auf Hautempfindungen zurückzuführen gesucht, die in unendlicher Mannigfaltigkeit und Feinheit der Schattierung aus den Dehnungen, Faltungen und Anspannungen entspringen, welche die Oberhaut teils durch die veränderte Lage der Gelenke, teils durch die unter ihr anschwellenden Muskeln erfahrt. Ich kann nicht umhin, mich dieser Ansicht mindestens teilweis anzuschließen, so weit sie die Beurteilung der Lage der Glieder und der Richtung ihrer Bewegungen betrifft, und füge den von Spiess angeführten Argumenten folgende allgemeinere Betrachtung hinzu. Worin auch immer die Erregung bestehen möchte, die ein Muskel während seiner lebendigen Zusammenziehung den Zentralorganen zuführte, immer würde sie doch dem Bewußtsein unmittelbar nur von dieser Tatsache einer Kontraktion, also von dem inneren Zustande des Muskels Kunde geben; sie könnte dagegen weder die Lage des zusammengezogenen Muskels im Körper, noch die Richtung der Bewegung offenbaren, welche durch ihn die Glieder auszuführen genötigt werden. Diese letzte Kenntnis könnte immer nur darauf beruhen, dass vorgängige Erfahrungen mit dem Verkürzungsgefühl des Muskels a die Vorstellung der Bewegung α, mit dem des Muskels b die Vorstellung der Bewegung β assoziiert hätten, und so sieht man auch in der Tat diese Sache allgemein an. Damit jedoch nun diese Assoziationen unvertauschbar seien, damit also das Verkürzungsgefühl von a nicht die Bewegungsvorstellung β, das von b nicht die andere α reproduzieren könne, müssen a und b ursprünglich verschieden sein, d. h. jeder einzelne Muskel des Körpers müßte sein spezifisches Verkürzungsgefühl besitzen, das noch abgesehen von allen Gradunterschieden, sich qualitativ von dem Gefühle jedes andern unterschiede. Auch dies ist freilich nicht unmöglich. Zwar werden wir voraussetzen, dass Kontraktion überall an sich dieselbe Empfindung veranlasse, so wie die Wärme überall als dieselbe Wärme empfunden wird; da jedoch kein Muskel dem andern an Gesamtlänge und Dicke, an Zahl, Länge und Richtung der einzelnen Fasern völlig gleicht, so wäre es nicht unmöglich, dass auch ihre Kontraktionsgefühle sich etwa in derselben Art, wie Vokale bei gleicher Tonhöhe unterschieden. Bei unserer Unkenntnis der feineren Mechanik der Nerventätigkeit können wir wenigstens nicht leugnen, dass es vielleicht in dem Gesamteindruck einer Bewegung einen wesentlichen Unterschied macht, ob sie dieselbe absolute Größe von Muskelwirkung auf viele und kurze, oder auf wenige und lange Fasern verteilt, oder überhaupt in formell abweichender Art enthält. So sehr wir jedoch diese Quelle des spezifischen Muskelgefühls für einige Erscheinungen festhalten, so sehr empfiehlt sich doch bei unbefangener Beobachtung der Gefühle, die aus den Bewegungen der Glieder wirklich entstehen, die andere Vermutung, dass die Muskelzusammenziehung größtenteils nur sekundär durch Erregung von Hautempfindungen jenes erste unvertauschbare Element herstelle, mit welchem die Erfahrung die Vorstellung einer bestimmten Lage oder Bewegungsrichtung assoziieren kann.

272. Man wird einwerfen, dass wir in dieser Hypothese heimlich nur dieselbe Voraussetzung benutzen, die wir eben als unwahrscheinlich bezeichneten; auch Hautempfindung sei Hautempfindung, wo sie auch vorkommen möge; die Dehnung oder Spannung der einen Stelle durch den Muskel a unterscheide sich von der Dehnung oder Spannung einer andern durch den Muskel b ebenso wenig, als die Kontraktionsgefühle der Muskeln selbst, und so seien auch die Hautempfindungen nicht geeignet, ein erstes und vertauschbares Element der Assoziation abzugeben. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Bau des Körpers ist stereometrisch so verwickelt, dass die Haut, indem sie seine Hervorragungen, Vertiefungen, seine Ecken und größeren Flächenräume überkleidet, nirgends als an zwei korrespondierenden Stellen beider Körperhälften vollkommen dieselbe Spannung und dieselbe Verletzlichkeit gegen äußere Eindrücke haben kann, und außerdem ist sie selbst nicht gleichförmig organisiert, dick und fettreich hier, dort zart und dünn, an der einen Stelle hornartig verhärtet und mit wenig Nerven ausgestattet, an der andern schleimhautähnlich und von Nervengeweben reichlich durchzogen. Wirkt ein äußerer Druck, eine innere Muskelschwellung, eine Erweiterung oder Verengerung eines Gelenkwinkels auf zwei verschiedene Stellen, so wird für jede die Summe aller der kleinen Empfindungen, welche sowohl die gereizte Stelle selbst, als die von ihr in Mitleidenschaft gezogenen Umgebungen erwecken, eine vollkommen eigentümliche sein, und die Bewegung selbst eines Fingers wird sich von der analogen des andern durch eine abweichende Gruppe von Hautempfindungen deutlich unterscheiden. Es gehört nur wenig Aufmerksamkeit dazu, um anzuerkennen, dass das meiste, was wir von geschehenden Bewegungen wahrnehmen, in der Tat nur aus diesen Empfindungen besteht, und dass eine Muskelzusammenziehung, die als solche perzipiert, mit andern vielleicht vertauschbar bliebe, ein vollkommen individuelles Gepräge durch die Gruppe von Hautgefühlen erlangt, welche sich an sie anknüpfen.

273. Es hängt hiermit eine Täuschung zusammen, die denen oft widerfährt, welche der physiologischen Funktion der Muskeln unkundig sind; wir glauben nämlich sehr häufig die Ausübung der bewegenden Kraft nicht auf der Seite eines Gliedes zu fühlen, an welcher die Muskeln sich zusammenziehen, sondern auf der entgegengesetzten, deren Muskeln nur untätig verlängert werden. Es scheint uns daher zuweilen, als würden die Gelenke nicht durch eine zusammenziehende Kraft an der Konvexität, sondern durch eine federartig ausdehnende in der Concavität ihres Winkels erweitert. Wenn man den Fuß im Knöchelgelenk beugt, also die Fußspitze erhebt, so erfährt die Haut, welche den tendo Achillis umgibt, eine beträchtliche Ausdehnung, und das Gefühl ihrer Spannung veranlaßt uns, diese Sehne als die wirksame Kraft anzusehen, welche gleich der Stange eines Getriebes den Fersenvorsprung nach unten stößt und die Fußspitze dadurch hebt. Strecken wir umgekehrt den Fuß, so wird die Haut um die Achillessehne sehr gefaltet und zugleich erregt die Anschwellung der Wadenmuskeln ein so deutliches Hautgefühl an der hintern Seite des Unterschenkels, dass wir hier allerdings die Ursache der Bewegung richtig deuten; dennoch erzeugt uns nebenbei auch in diesem Falle die Anspannung der Haut des Fußrückens die Vorstellung, als wenn elastische Federn hier die Fußspitze nach unten drücken helfen. Strecken wir den Unterarm kräftig aus, so ist die Dehnung der Haut an der Innenseite des Ellenbogengelenks stark genug im Verhältnis zu dem Hautgefühl, welches die Streckmuskeln erregen, um auch hier die Bewegung aus einer ausdehnenden Kraft herzuleiten, und dieselbe Vorstellung pflegen Nichtkenner der Physiologie bei der Betrachtung von Statuen zu fassen; sie nehmen in jeder Fechterstellung die gedehnte Seite des Körpers wegen der stärkern Hautgefühle, die sie meist veranlaßt, für den Sitz der bewegenden Kraft.

274. Sind wir nun mit Spiess darüber einverstanden, dass die Lage der Glieder und die Richtung ihrer Bewegung durch Hautempfindungen vermittelt wird, so können wir dagegen die Wahrnehmung der angewandten Kraft nicht mit ihm auf dieselben Hilfsmittel zurückführen. Lage und Richtung sind äußere Verhältnisse der Bewegung, über die der Bewegungsprozeß selbst allerdings nicht unmittelbare Aufklärung geben kann; die Größe der Kraft dagegen, welche zur Kontraktion des Muskels verwendet wird, ist eine unmittelbare innere Eigenschaft des Bewegungsprozesses selbst, und es liegt kein Grund vor, ihre Wahrnehmung nicht unmittelbar durch den Muskel selbst, sondern indirekt durch die Wirkung seiner Zusammenziehung auf die Haut entstehen zu lassen. Wir geben gern zu, dass Spiess auch in Bezug auf diesen Punkt in den meisten seiner Behauptungen Recht hat; gewiß sind jene Gefühle der Müdigkeit, die nach heftigen, angestrengten oder sehr lange dauernden Bewegungen entstehen, weit davon entfernt, einfache Muskelgefühle zu sein; sie bestehen zum Teil aus Hautschmerzen, durch vermehrte Exsudation des Blutplasma, Turgescenz der venösen Gefäße, so wie durch den Druck entstanden, den einzelne Gegenden, wie die Fußsohlen bei langen Märschen, auszuhalten haben; zum andern Teile mögen sie aus Pressungen von Nervenstämmen durch die zusammengezogenen Muskeln, endlich selbst aus dem verstärkten Wechseldruck zweier Gelenkflächen gegen einander entspringen. Aber neben diesen gemischten Zuständen, die nach anstrengenden Extremen der Bewegung eintreten, stehen andere einfachere Ermüdungsgefühle, die sich nur gezwungen auf gleiche Gründe zurückführen ließen. Wenn wir den Arm längere Zeit strecken, so würde, da die Haut hierdurch nichts Ungewöhnliches leidet, der entstehende Schmerz nur auf die Muskeln selbst, oder höchstens auf den hier allerdings verstärkten Druck des Oberarmkopfes auf seine Gelenkfläche zu deuten sein. Aber der Schmerz ist nicht so lokal umschrieben, um die letzte Vermutung zu begünstigen, und da der Versuch, das Bein horizontal zu strecken, noch viel schneller und heftiger ermüdet, obgleich hier der Wechseldruck der Gelenkflächen unmöglich größer sein kann, als während das Bein stehend den Körper stützt, so wird kaum eine andere Annahme als die einer unmittelbaren Wahrnehmung der geschehenden Muskelkontraktion möglich sein. Dass in allen diesen Fällen nebenbei zugleich Gefühle der Hautspannung sehr lebhaft eintreten, übersehen wir nicht, obgleich es uns scheint, als wenn nicht überall diese Gefühle notwendig gerade auf Dehnung der Haut gedeutet werden müßten. Möglich wäre es wohl, dass auch die passive Verlängerung eines Muskels durch die Kontraktion seines Antagonisten an ihnen einigen Anteil hätte.

273. Schließen wir uns nun in dieser Beziehung der gewöhnlichen Annahme an, dass das Maß der Anstrengung uns unmittelbar durch eine Erregung der Muskeln gegeben werde, so ist noch die andere Frage, ob das, was wir hierbei fühlen, wirklich die Größe der Impulse ist, die wir den motorischen Nerven erteilen, oder nicht vielmehr die Größe der Wirkung, welche diese hervorgebracht haben. Ich glaube mich hier für die letzte Meinung entscheiden zu müssen. Ist nämlich ein Glied eingeschlafen, so dass sein Nervenstamm durch Kompression leitungsunfähig geworden ist, so empfinden wir zwar wohl das Glied als eine träge und schwere Masse, die an den Teilen hängt, deren Nerven noch perzeptionsfähig sind, aber wir sind nicht im Stande, durch Willensimpuls es zu bewegen, und in diesem Falle entsteht auch bei der angestrengtesten Bemühung des Willens, auf das Glied einzuwirken, kein Bewegungsgefühl. Da nun die Mitteilung des Willensimpulses an den Nerven bis zu der Stelle, wo der Druck ihn leitungsunfähig machte, kein Hindernis findet, so müssen wir daraus schließen, dass das Bewegungsgefühl nicht in der Wahrnehmung der Einwirkung unsers Willens auf die Muskeln, sondern in der Wahrnehmung der Veränderungsgröße besteht, welche die Innervation in dem sich kontrahierenden Muskel hervorbringt. Mit Unrecht behauptet man, dass unwillkürliche Bewegungen nicht wahrgenommen würden, weil sie am Auge während des Schwindels vorkommen, und hier nicht als solche empfunden werden, sondern die Vorstellung einer Bewegung der Objekte veranlassen. Nicht nur müßten nach diesem Grundsatz Niesen, Husten, Erbrechen und Krämpfe aller Art unbeobachtbare Dinge sein, sondern man überzeugt sich auch bei Anstellung des Versuches, dass nach dem Tanz oder während des Schwindels die Augenbewegungen wirklich in Gestalt von Muskelgefühlen empfunden, obgleich wegen ihrer Unwillkürlichkeit oft nicht richtig gedeutet werden. Die Deutung aber liegt nie im Gefühle selbst. Wir schließen daher, dass es nicht der Willensimpuls, sondern seine Folgen sind, die das Gefühl veranlassen. Wohl glaubt man im gewöhnlichen Leben bei einer kraftvollen Bewegung der Glieder geradezu den Schwung zu fühlen, mit dem unser Wille belebend in die Muskeln dringt und sie zur Äußerung ihrer Fähigkeiten nötigt, und schon Locke, sah den Begriff der Kraft nur darum für einen anwendbaren und gültigen an, weil wir in unsern Bewegungen ihn unmittelbar empirisch wahrnähmen. Aber bereits Hume deutete auf den Fehlschluß hin, der dieser Annahme zu Grunde liegt, und in der Tat müssen wir hier allgemein aussprechen, dass wir im Muskelgefühl gar nicht die Kraft empfinden, während sie eine Wirkung zu erzeugen eilt, sondern dass wir hinterher vielmehr nur das Leiden fühlen, welches ihre unbeobachtet vorübergehende Kausalität in unsern beweglichen Organen, den Muskeln, verursacht hat.

276. Unmittelbar hat daher das Muskelgefühl wenig Anspruch auf den Namen eines Kraftsinnes; er gebührt ihm selbst in der Art noch nicht, dass es die Kraft, statt sie direkt zu messen, vielmehr nach der Größe ihrer nutzbaren Wirkung schätzte. Denn nicht sowohl die Intensität der funktionellen Tätigkeit des Muskels scheint das zu sein, was in ihm empfunden wird, sondern vielmehr die Größe der Störung oder der Ermüdung, die mit der Ausübung derselben verbunden ist, und die weder Gradunterschieden der Innervation, noch dem erzeugten nutzbaren Effekte der Muskelkontraktion überall proportional ist. Je nach dem Maße der schon vorangegangenen Anstrengung und der durch sie erzeugten Ermattung, sowie nach den veränderten krankhaften Zuständen der beweglichen Massen kann eine geringe Willensintention bedeutende, dem Schmerze nahestehende Muskelgefühle erregen, ohne dabei doch eine der Intensität des Gefühls entsprechende nutzbare Funktionsäußerung des Muskels zu erzwingen. Während die ermüdete Faser sich unter dem Reize des Willens weder um eine beträchtliche Länge noch mit hinreichender Kraft verkürzt, erfährt sie bei diesem fruchtlosen Versuche doch vielleicht größere Ablenkungen von ihrem normalen Zustande, als der gesunde Muskel durch viel bedeutendere Leistungen, und erzeugt daher intensive Gefühle, die hier mehr ein Maß der bestehenden Schwäche, als der verwendeten Kraft bilden. Trotz alle dem aber ist dennoch das Muskelgefühl, wenn auch nur durch eine unvermeidliche psychologische Täuschung, das unentbehrliche Hilfsmittel, das uns überall Kräfte in der äußern Welt voraussetzen und uns in sie hineindenken lehrt Und so wird uns die Betrachtung des Zusammenwirkens der psychischen Elemente zu dem Gesamtleben des Geistes auf den Wert der Bewegungsgefühle nicht nur für die Ausbildung anderer Sinne, sondern für die Belebung unserer Weltauffassung im Ganzen noch vielfach zurückführen.

277. Überlassen wir nun dem Folgenden die Darstellung dessen, was die Muskelgefühle im Verein mit andern Wahrnehmungen leisten, so haben wir über ihre eigene Natur wenig mehr hinzuzufügen. Ihre anatomische Begründung kennen wir nicht; es ist gleich möglich, dass die motorische Faser, indem sie zentrifugal die Innervation des Muskels bewirkt, rückwärts den Eindruck der geschehenden Bewegung zum Gehirn leitet, als dass es eigene sensible Nerven gibt, welche sich im Verein mit jenen in den Muskeln verbreiten. Keine von beiden Annahmen wird dadurch widerlegt, dass Reizung der zentralen Stumpfe durchschnittener motorischer Nerven keine Zeichen des Schmerzes hervorruft. Abgesehen davon, ob unsere künstlichen Reize überhaupt den der Muskelkontraktion ersetzen können, würde ja auch überdies die entstehende Empfindung wahrscheinlich nur in einem Bewegungsgefühl bestehen, das zu lebhaften Schmerzäußerungen nicht auffordert. Übrigens erfährt das Muskelgefühl mancherlei pathologische Abänderungen, die für unser Gesamtbewußtsein sehr folgereich sind. Wir sehen zuerst subjektive Bewegungsgefühle, bald in wirkliche Bewegungen übergehend, in jenen vielfachen Formen des Schwindels, welche nicht die Augen allein, bei denen wir sie später zu betrachten haben werden, sondern alle Teile des Körpers befallen können. Bald scheinen wir im Bett liegend hoch gehoben zu werden, um wie auf stürmischer See wieder hinabzufallen, bald glauben wir im Traume zu fliegen, zu stürzen, bald scheint sich im Wachen der Boden unter unsern Füßen wellenförmig zu heben, bald der Körper sich um seine Achse zu drehen, ohne dass doch diese Bewegungen alle wirklich eintreten. Aber die Gefühle verleiten uns oft, ihnen nachzugeben, und indem die Muskeln sich den Bewegungsvorstellungen anbequemen, erfolgt der Fall des Körpers. Auch komplementäre Muskelgefühle, den Farben entsprechend, haben Purkinjes schöne Versuche kennen gelehrt. Haben wir längere Zeit mit beiden herabhängenden Händen schwere Gewichte gehalten und setzen sie ab, so scheinen wir in die Höhe zu steigen und die Arme in die Brust einzukriechen; haben wir lange einen voluminösen Gegenstand mit der Hand umfaßt, so scheint es später, als müßten wir sie zur Faust ballen. Krankhafte Verminderung und Erhöhung des Muskelgefühls sind nicht seltner; die letztere ist jedem Schwächezustand eigentümlich; die erste, oft das Produkt der Narkose, des Rausches, der Ätherwirkung und mancher unbestimmbarer Nervenkrankheiten, läßt uns kein Gefühl der Anstrengung gewinnen; ungewohnte Leichtigkeit belebt die Glieder und selbst wo ein Objekt unserer Muskelkraft vollkommnen Widerstand leistet, empfinden wir doch die Vergeblichkeit unserer Anstrengung nicht durch ein unmittelbares Gefühl der Ermüdung.


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