Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Siebentes Kapitel

Ausklang in Birkenweier

Es ist drei Jahre nach jenem Abschied vom Steintal.

Herbstblätter fallen im Park von Birkenweier. Der Himmel ist hoch, weiß und weit. Die Trümmerburgen stehen in grauem Duft unter dieser verschwimmenden Himmelsfarbe. Felder, Obstgärten und Weinberge haben ihre Frucht abgegeben und sind still und leer. Jeder Ton klingt gedämpft, doch weithin vernehmbar über das herbstliche Elsaß, das vom heißen Sommer mit seinen Gewittern und Ernten ausruht. Familie Birkheim wandert mit ihren Gästen durch den Park. Es ist anscheinend ganz wie einst, als sie mit Belisar über diese Wiesen zogen; die jungen Damen breiten voll jugendlicher Fröhlichkeit die schlanken Hände in das fallende Goldlaub. Doch eine von ihnen ist nunmehr Ehefrau und weilt nur zum Besuch im väterlichen Schlößchen; ihre neue Heimat ist in den Waldungen von Reichshofen, Niederbronn und Jägertal: Amélie ist die Gattin von Fritz von Dietrich. Und Henriette ist verlobt mit Augustin Périer. Annette von Rathsamhausen, immer durch ein starkes Bedürfnis nach teilnehmender Freundschaft ausgezeichnet, steht in Briefwechsel mit dem Franzosen Joseph von Gérando, dem sie bald zum Altar folgen sollte. Friederike Pfeffel, des Dichters Lieblingstochter, hat eine stille Liebe begraben; sie bleibt unverheiratet. Ihr Vater wandert, von ihr und Annette geführt, mit der Gesellschaft durch den Park. Und so schiebt sich eine Gruppe der andern zwanglos und langsam nach; man bewegt sich im Spaziergang auf das herbstliche Feld hinaus.

Octavie plaudert mit den Schwestern. Aber sie ist heute befangen und unruhig. Es ist ein Vetter aus Thüringen unter der Gesellschaft, ein Bruder der gegenwärtig schwerkranken Frau von Waldner-Freundstein. Der ungestüme, kraftvolle Baron von Stein – so heißt der Vetter – hat mehrmals schon in den letzten Tagen verfänglich mit ihr gesprochen; es ist kein Geheimnis mehr im Hause Birkheim, daß er das schöne Mädchen nach Thüringen entführen will. Sie selbst weiß es und bangt dem entscheidenden Wort entgegen.

Die Damen alle strahlen in Anmut, Jugend und Gesundheit, wenn auch Annettens zarte Brust ein wenig Anlaß zu Besorgnissen gibt. Sie tragen die kleidsame Tracht, die gegen Ende des Jahrhunderts aufkam, ähnlich dem Gewand, in dem wir Königin Luise im Bilde zu schauen pflegen: hohen Gürtel unmittelbar unter der Brust, langwallendes Gewand, offenen Hals mit einem schleierähnlich zurückfliegenden Tuch. Reizvoll verbindet sich das Weiß der Gewänder mit dem matten Blau des Himmels und dem tiefen Gold der herbstlichen Blätter. Und auf entferntem kleinen Parksee schwimmen die Schwäne.

Der Thüringer Baron, ein großer, stattlicher Mann, geht mit Viktor Hartmann und dessen Gattin Leonie etwas hinter den jungen Damen und dem Dichter Belisar. Hinter ihnen folgen gemächlich die Alten mit Frau Elisa von Türckheim und Frau von Oberkirch.

Leonie und Viktor wandeln gemessen Arm in Arm. Sie sind seit bald drei Jahren verheiratet; ihr Erstling ist seit einigen Tagen bei Frau Frank in Barr, die dort das Hereinholen der Früchte persönlich leitet. Sie gehen sicher und ruhig ihres Weges, gleichsam mit elsässischer Schlichtheit und Sachlichkeit, die aber nicht des inneren Leuchtens entbehrt. Manchmal, wenn das aristokratische Völkchen ausgelassen oder vertändelt scheint, richtet Leonie ihr ruhiges, der Mutter gleichendes Lächeln zu Viktor empor, als wollte sie sagen: was für dumm' Dings mache doch die große Kinder, gel', Viktor! Ihr Gatte, dessen Gesicht runder und voller, dessen Haltung männlich geworden, unterhält sich mit dem thüringischen Edelmann über das Saaletal und verbindet damit Bemerkungen über das Steintal.

»Wenn mich jemand fragt,« sprach der junge Professor Hartmann, »wo mein Geist die Freiheit und meine Seele den Frieden gefunden, so antworte ich: im Saaletal und im Steintal. Dort Wissenschaft, Philosophie und Kunst – hier Religion und Herzenstiefe. Nichts von beiden möcht' ich meiden. Oh, daß wir dem Wunder des Lebens gegenüber elastisch und aufnahmekräftig bleiben möchten! Im Zusammenblitzen, Austauschen und Wechselwirken besteht das Geheimnis. Aber der Freund dort im Steintal gab mir die große und sichere Beharrlichkeit.«

Viktor hatte auch jetzt, seit er Lehrer an der Zentralschule in Kolmar war, sein leises Dozieren beibehalten; doch war Wärme und Überzeugungskraft darin, ja er konnte in Feuer geraten und seine Jungens mitreißen. Seine Frau, rosig wie immer, neckte ihn mitunter in ihrer nie verletzenden Art. Sie war keine literarische Natur; aber sie hatte die Anschmiegsamkeit des Weibes, fühlte sich in seine Interessen wundervoll ein und konnte mit Verständnis seine theoretischen Sorgen anhören. Und sie übte ihr schönes Talent: durch verständnisfeines Lauschen seine Schöpferkraft zu beflügeln. Und immer, wenn seine geistige Welt etwas farblos zu werden drohte, überströmte ihn von Leonie her eine warme Welle blutvollen Lebens. Sie las gern Märchen und freute sich schon darauf, ihrem Kleinen einmal erzählen zu dürfen.

Stein unterhielt das junge Ehepaar von Fichte, Schiller und Goethe, nach denen Viktor mit Begierde forschte. Der freimütige, etwas rauh und fest zugreifende Baron war nicht recht bei der Sache; er war vor allem Landwirt und Jäger. Noch war er in Gärung und hatte Weltreisen vor, falls ihn Octavie nicht erhören würde. Und es bedurfte dringender Briefe seines Vaters, um ihn daran zu erinnern, daß zu Nord- und Ostheim, auf dem väterlichen Gute, seine Wirkungsstätte sei und nicht in der zerstreuend weiten Welt.

»Schiller hat sich, so viel ich weiß, vom Katheder zurückgezogen«, erzählte er. »Aber er hat etwas Lebendiges dafür gewonnen: er ist mit Goethe befreundet. Die werden was Tüchtiges miteinander schaffen! ... Fichte, der Philosoph, das ist ein kurzer, stämmiger Mann; hat eine große Nase wie ein Raubvogel, der Beute sucht; runde, tiefe Augen, die oft zornig und furchtbar blicken; die ganze Persönlichkeit ist verkörperte Energie. Ein Mann der Zukunft! Solche Leute brauchen wir jetzt; denn Kunst allein verweichlicht. Von seiner Philosophie versteh' ich nichts; aber das verstehe ich, daß alles bei ihm auf tatkräftiges Handeln drängt. Er soll im Verkehr kein Hofmann sein; er ist gepanzert mit Grundsätzen. Aber der Mann hat Durchschlagskraft. Er hat die deutschen Studenten und also die deutsche Zukunft.«

So sprach der Thüringer. Er machte seine Sache kurz. Es war in seinem heutigen Wesen etwas von elektrischer Unruhe und Unternehmungskraft; er lief mit den Augen voraus und suchte die Elsässerin Octavie, die seine werbenden Blicke und seine von fern her tönenden Worte förmlich fühlte.

»Dort ist die Laube, in der wir einst die Zeder feierlich in unsern Bund aufgenommen haben«, rief Octavie.

»Und wo uns Belisar so schön und ernst von seinem Leben erzählt hat«, ergänzte Immortelle.

Es war kein Tempel mehr, es war nunmehr eine offene Laube aus festem Holz mit moosigem Dache.

Die Gruppen verschoben sich. Baron von Stein nahm seinen Vorteil wahr und schmuggelte sich an Octavies Seite.

»Darf ich das Gespräch von heute morgen fortsetzen?« fragte der stattliche blonde Mann so zart, als es seiner Jägernatur möglich war.

Octavie, den Kopf zur Seite neigend, rupfte einen Halm ab und bat ihn, lieber von etwas anderem zu sprechen. Ihr Herz sei zu schwer von mancher Sorge, besonders um die kranke Frau von Waldner.

»Meine Schwester steht in Gottes Schutz«, erwiderte Stein. »Er weiß am besten, was uns kleinen Menschenkindern frommt. Doch gut, plaudern wir von andrem!«

Und er sprach Worte dankbarer Bewunderung über Pfeffel, der diesem Kreise so viel schöne Seele gegeben, über das ganze Haus Birkheim, obenan den trefflichen Baron, genannt Aristides, der Gerechte. Dann kam er auf die einzelnen Mädchen zu reden und endete bei Octavie, der er nun trotz ihrer Abwehr in vollem Herzensungestüm seine Liebe erklärte.

»Liebes Mädchen, gehen Sie als meine Braut und Gattin mit mir nach Thüringen! Es ist nicht das erstemal, daß sich Elsaß und Thüringen verbinden, ist doch meine eigene Schwester einem Manne hierhergefolgt. In Ihnen, liebe Octavie, verbindet sich französische Beweglichkeit mit deutscher Gemütswärme. Sie sind für mich an Körper und Geist das Ideal einer Frau. Ich bin Ihrer nicht wert, das weiß ich, Sie stehen hoch, hoch über mir. Verzeihen Sie mir, wenn meine Bitte kühn, ja tollkühn ist. Aber ich habe immer Kühnes und Großes gesucht, das darf ich wohl von mir behaupten; und es ist etwas Großes, denk' ich, eine Frau wie Sie von meinen Fahrten heimbringen zu dürfen als mein schönstes, heiligstes Gut. Glauben Sie mir das, Octavie! Ich mag viele Fehler haben, aber einen habe ich nicht: ich bin nicht verlogen, ich mache keine Salonphrasen.«

Sie blieben beide in ihrer äußeren Haltung unverändert, um sich nicht vor den Nachkommenden zu verraten. Jetzt wollte er ihre Hand ergreifen. Aber sie entzog sie ihm, bückte sich nach einer Blume, um ihr glühendes Gesicht zu verbergen und sagte hastig, was eben ein guterzogenes Mädchen in solchen Fällen zu erwidern pflegt: »Sagen Sie's meiner Mutter!« Stein verstand das Ja-Wort; seine Kraftnatur stieß einen thüringischen Jodler aus, wie er am Rennstieg nicht echter vernommen wird, und er warf den Dreispitz in die Luft, um ihn mit Fechtergeschicklichkeit wieder aufzufangen. Dann schlug er ihn aufs Ohr, blieb stehen und erwartete die andren.

»Jerum nee!« rief Fanny, die Jüngste, in komischem Elsässer-Deutsch. »Unser Cousin het e Rabbel!«

»Ich bin halt fröhlich!« rief Stein. »Und weil ich halt fröhlich bin, so bin ich halt fröhlich.« Und er spähte sofort nach der Baronin Birkheim aus, um auch dort zum Sturmangriff überzugehen.

»Ist das der thüringische Baron, den man da hört?« fragte Belisar lächelnd. »Ein unbehauener Stein offenbar – aber guter Baustoff. Sie sind unter ihrem großen Friedrich von Sanssouci ein wenig übermütig geworden, diese Norddeutschen.«

»Ja, denken Sie sich,« versetzte Fanny empört, »er hat gesagt, sie würden unsren General Bonaparte bei nächster Gelegenheit prügeln.«

Man lachte, und Viktor rief dem Thüringer zu:

»Ist's wahr, Baron Stein, Sie wollen den Bonaparte prügeln? Na, passen Sie auf, ob er nicht flinker ist als die Potsdamer Wachtparade!«

Es erwuchs daraus ein politisch Geplänkel. Frau Leonie langweilte sich darob, drückte mahnend des Gatten Arm, schaute ihm innig in die Augen und flüsterte: »Laß die Politik, Viktor! Was geht sie uns an?«

Viktor erwiderte den liebevollen Blick.

»Mein Weibchen hat ihr Nest und ihren Jungen darin und eine glückliche Großmutter und einen ziemlich braven Mann – Glücks genug, gel, Leonie!«

Und er schaute scheinbar erstaunt auf ihre Hand mit den Halbhandschuhen, ging in neckischen Scherz über und fragte: »Sag' einmal, was hast du denn da für Ringe am Finger?«

»Alle drei mein!« antwortete Leonie flink. Es war ein oft gewechseltes Scherzwort zwischen den Gatten, wobei Frage und Antwort immer in genau denselben Ausdrücken verliefen.

»Und diese drei Ringe – Addys Diamant, Viktors Bergkristall und der Ehering – diese sind deine Welt, nicht wahr, du gutes Herz! Aber eines Mannes Geist ruht nicht hierbei aus. Die Bewegung der Menschheit verlangt unaufhörlich unsre Teilnahme.«

»O ja, das sollst du auch, lieber Viktor«, versetzte Leonie schlicht. »Aber auch deine Frau und dein Kind sind Menschheit. An uns kannst du dich in der Liebe zur Menschheit praktisch üben. Komm, üb dich ein wenig, Viktor!«

Die sonst sehr schamhaft zurückhaltende junge Frau war in liebend andringender Stimmung; sie hatte ihn auf einem schmalen Pfad durch Buschwerk geführt, blieb stehen und hielt ihm rasch den Mund hin, aus dem Bedürfnis heraus, sich unter so viel schönen jungen Damen gleichsam ihres Besitzes zu vergewissern. Er schüttelte lächelnd den Kopf, neigte sich dann und küßte sie. Leonie hatte die gedämpfte Art und die leise gute Stimme ihrer Mutter; und so wirkte dergleichen bei ihr eher schüchtern und mädchenhaft als keck und schelmisch: denn es kam selten vor, daß sie so aus sich herausging.

»Viktor heißt Sieger – aber mein Weib besiegt mich fortwährend und fängt mich in die kleinen Dinge des Lebens ein.«

Sie hatte das Gesicht an seiner Brust versteckt, schaute nun aber auf und wurde ernst.

»Sind das kleine Dinge, Viktor? Sag doch lieber: warme und natürliche Dinge! Dinge, die dich vor dem Grübeln bewahren. Halt' ich dich jemals von deinen schönen und sorgfältigen Arbeiten ab? Gelt, das sagst du nicht! Mach' ich deine Gedanken und Gesinnungen jemals weniger hochherzig, Viktor?«

»O nein, liebe Leonie, du beschwingst meinen Geist, du kluge Zuhörerin! Ich scherzte nur.«

»Besieh's einmal genau,« fuhr sie fort, »ob das, was du manchmal für groß hältst, nicht etwas allzu Geistiges sein könnte! Liebster, ich möchte nicht, daß du dir in deinen dunklen Stunden auch nur ganz im Heimlichsten klagst, die Ehe ziehe einen hohen Menschen herab, wie es manche sagen. O nein, nicht wahr, Viktor, sie macht dich natürlich und warm, sie bewahrt dich vor Verstiegenheiten. Liebling, bleib ganz, was du bist, so zäh und treu in deinen geistigen Arbeiten und so gewissenhaft in deiner Pflicht – und ich will bleiben, was ich bin: nur eine Frau. Aber wir wollen einander mitteilen, was wir Besondres haben. Und dann sind wir alle zwei Sieger – oder jeder ist gern vom andren besiegt und siegt dann wieder übers andre, nicht wahr, in wechselseitiger Liebe, bis in den Tod und darüber hinaus!«

Leonie sprach sehr herzlich und dabei mit jener schönen Gehaltenheit, die ihrem Wesen eigen war. Sie war in den drei Jahren wunderbar gereift; das Leuchten ihrer Augen hatte sich vergeistigt. Viktor war oft überrascht, wie das genial Weibliche in ihr Gestalt und Form gewann, wobei ihre sinnengesunde Natur immer maßvoll und harmonisch blieb. Er blieb stehen und sah ihr gerührt in die blauen Augen.

»Eine rechte Ehe ist ein Lebenswunder, Leonie, ich kann's nicht anders nennen. Wir entzünden einander in gutem Sinne, wie zwei elektromagnetische Pole; aber wir üben uns auch bei allem gesunden Drang in einem schönen Maßhalten; und so treiben wir uns in der Entwicklung höher hinan. Und es will keines wissen, braucht's auch gar nicht zu wissen, wem von beiden das größere Verdienst gebührt. Ich will dir darum nur ganz einfach sagen: ich bin dir dankbar, Leonie, und hab' dich sehr lieb.«

»Ich hab' dich auch sehr lieb«, antwortete sie innig und preßte seinen Arm, an dem er sie führte, mit ihrer ganzen unentweihten Kraft.

Dann verliehen sie den goldenen Park und traten hinaus ins freie Feld.

»Wie sicher und ruhig beweg' ich mich jetzt in diesem adligen Kreise!« bemerkte Viktor nach einigem Stillschweigen. »Wie schön arbeitet es sich mit meinen Kollegen Berger, Heß, Chayrou und besonders dem gediegenen Pfeffel! Reinheit und Ruhe – o Leonie, was für ein Geschenk, was für eine Gnade! Und im Hintergrunde wartet die Berufung nach Straßburg und ein erweitertes Wirken, aber in der alten Stille und Einfachheit. Ich hätt' es nie gedacht, daß mir dieser Zustand jemals beschieden wäre, hätte nie gehofft, daß auch ich als ebenbürtiger Edelsasse zwischen diesem alten Adel einherschreiten würde.«

Es fiel ein Schatten über seinen Ton.

»Ich war einst voll von Untugenden, Leonie.« Sie antwortete in der ihr liebsten Sprache: sie drückte stark den Arm des ehemaligen Düsterlings an ihre weiche Brust und schaute ihn liebevoll an.

»Du bist so reich«, sagte sie.

»Ja, ich bin reich!« erwiderte er hell und herzlich. »Ich habe aus meinen Irrtümern Erfahrungen geprägt, habe Freunde und Schüler die Fülle – und mein köstlichster Besitz heißt Leonie.«

Und er neigte sich zu der geliebten Frau, deren Körper ihm ein Heiligtum war, und küßte die Hand mit den drei Ringen.

Der Herbsthimmel um die beiden Glücklichen her war weit und mild. Er hatte der Welt einen heißen Sommer und einen fruchtreifen Herbst geschenkt; er hatte Gewitter, Wolkengüsse, Sonnenströme, blaue Luft und holde Stille gegeben. Nun stand er erhaben über den Dingen, als wär' er der Dichter von dem allem, der vom Glück der andren erzählend selber verzichtet. Die Dörfer und Scheunen zu seinen Füßen waren satt und voll; er aber, der Himmel, der um die Burgen träumte, sann dem Wechsel des Irdischen nach und plante neue Taten.

Auf dem freien Felde der Rüben, Stoppeln und Hasen, als man in der Ferne die Hohkönigsburg und die Rappoltsweiler Schlösser vor sich sah, als drüben Zellenberg, Beblenheim und andre Dörfer zwischen vergilbten Weinbergen sichtbar wurden, vereinigte sich die ganze Gesellschaft. Es war des lebhaften Durcheinanderplauderns kein Aufhören. Diese Lebhaftigkeit gestattete dem Baron Stein nicht, seine Werbung anzubringen und Octavies Mutter durch geschicktes Manövrieren abzuschneiden.

Die bildschöne Fanny, der Schwestern Jüngste, erzählte in Verfolgung des vorhin angeschlagenen politischen Gespräches, wie sie neulich mit Fritz von Dietrich und Amélie in Straßburg den berühmten General Bonaparte gesprochen habe.

»Marie Oberkirch und Annette, die sich auch in Straßburg aufhielten, waren ganz trostlos, daß sie ihn verfehlt hatten. Wir unsrerseits haben mit Bonaparte gefrühstückt, denkt euch, und ich war völlig unerschrocken. Es war im Hotel ›Rotes Haus‹, dort wo früher die Guillotine gestanden hat. Viele Menschen waren zusammengelaufen, um ihn zu sehen. Bonaparte ist ganz Feuer und Kraft, eine geladene Kanone! Aber ich versichre euch, man kann im Umgang nicht einfacher und entzückender sein. Klein, hager, bleich, aber das markigste Profil der Welt! Amélie – ich wollte sagen: Frau Amélie von Dietrich – wurde mit feinster Höflichkeit von ihm empfangen. Ach, sie war aber auch so süß, so elegant zugleich – wirklich, Amélie! Und zu mir war er auch reizend. Der General hat sich nur so lange aufgehalten, bis die Pferde gewechselt waren. Er hat Fritz und Amélie nach Rastatt eingeladen. Während seine Adjutanten mehrere Tassen Kaffee tranken, begnügte er sich mit einer einzigen. Er ist mäßig und braucht wenig Schlaf. Sehen Sie, Vetter Stein, solche Berühmtheiten haben wir hier! Und was habt ihr dort oben an der Elbe?«

Stein lachte laut und kräftig.

»Wir dort oben an der Elbe sind Sklaven des Königs von Preußen, essen Sauerkraut und gehen in Fellen« –

»Oho, er weicht aus!« rief Amélie.

»Wir da oben an der Elbe«, fuhr Stein fort, »achten euren genialen kleinen Bonaparte immerhin. Warum? Weil dieser Artillerist den blutigen Phrasen von der allgemeinen Brüderlichkeit ein Ende machte und mit Kanonen diese verlogene Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Stücke schoß.«

»Ach was, erzählen Sie schleunigst und ohne Flunkerei,« rief die heitre Jüngste und schüttelte ihre außerordentlich reiche Lockenfülle, »was für interessante Berühmtheiten Sie unsrem Bonaparte entgegenzustellen haben!«

»Nun also,« erwiderte Stein, sich besinnend, »da ist zum Beispiel die herrliche junge Frau, die soeben Herrscherin von Preußen geworden ist: Königin Luise!«

Es ging bewundernde Zustimmung durch die Damenschar. Man hatte von der Schönheit, Güte und leutseligen Natürlichkeit der jungen Königin viel Rühmendes gehört. Vorerst freilich konnte niemand in diesem elsässischen Kreise aus der jetzigen politischen Lage erraten, daß sich der Kriegsgeist der französischen Revolution, verkörpert in Napoleon Bonaparte, und das Vorbild deutscher Seelenwärme, Königin Luise, einst in Tilsit so bedeutsam gegenüberstehen würden. Noch weniger konnte irgend eine Phantasie vorausahnen, daß ein Sohn dieser Königin – der soeben in diesem Jahre 1797 geborene Prinz Wilhelm – einst als erster deutscher Kaiser diese elsässische Landschaft wieder mit Deutschland vereinigen würde.

Birkheim wußte anzumerken, daß Königin Luise am Hof zu Hessen-Darmstadt erzogen worden sei; auch habe die große Landgräfin Karoline früher mehrere Jahre zu Buchsweiler im unteren Elsaß residiert.

»Und eine Tochter dieser verstorbenen Landgräfin Karoline«, fuhr Stein fort, »heißt gleichfalls Luise. Und während sich jene Prinzessin nach Preußen vermählte, wurde diese Luise aus Elsaß und Hessen nach Thüringen entführt, und ist die Gemahlin des Herzogs Karl August von Weimar. Diese Wanderungen von Süden nach Norden waren von beiden Luisen äußerst lobenswerte Entschlüsse. Der König von Preußen und der Herzog von Weimar samt ihren hohen Gemahlinnen – vivant hoch!«

Der Baron schrie es in seiner jungwilden Ausgelassenheit gewaltig über das Rübenfeld. Die Gesellschaft lachte nicht wenig über den Wikinger und Nordlandssohn.

»Aber hören Sie, lieber Teutone,« rief ihm Pfeffel zu, »haben Sie denn vergessen, daß Sie hier auf den Feldern der Republik stehen? Wir sollen wohl Ihretwegen nachträglich noch ins Pfefferland Cayenne deportiert werden?«

»Wenn mich eine der hier anwesenden Elsässerinnen begleitet,« erwiderte der unentwegte Stein, »wie jene Herzogin Luise von Weimar den wilden Karl August – wohlan, so lass' ich mich sofort ins entfernteste Pfefferland verbannen.«

Es war der verwegenen Deutlichkeit fast zu viel. Die sehr aufs Schickliche bedachte Octavie glühte und umgab sich mit einem Karree von Freundinnen, möglichst fern vom tollen Vetter. Aber Fritz von Stein hatte in seinem Blick, in seiner Stimme und in seinem ganzen Gehaben bei allem markigen Freimut eine so offene, klare Kindlichkeit, daß man diesem jungen Siegfried nicht grollen konnte.

Nach und nach aber wurde man ernst. Und als man in das Schlößchen zurückgekehrt war, fand sich denn auch der Augenblick, wo Stein seine Werbung anbringen konnte. Es traf sich dort unter weiblicher Mithilfe, daß der Thüringer, Frau von Birkheim und Octavie allein im Zimmer blieben. Und nun war der junge Held plötzlich sehr gehalten und bat bescheiden und bewegt um Octavies Hand. Er schaute mit so kindlicher Angst abwechselnd das Mädchen und die Mutter an, die ihn, gemäß ihrer feinen Zurückhaltung, erst völlig ausreden ließ, daß beide von seinem starken und ungebrochenen, in phrasenlosen Worten hervorbrechenden Empfinden gerührt wurden. Die Mutter leitete nun das Gespräch; sie übergab ihr hohes, schönes, weich empfindendes Kind seiner rauhen Kraft und bat in wenigen eindringlichen Worten, alles zu tun, was er zu ihrem Glück beitragen könnte. Ein erster Kuß wurde erlaubt; und der stürmische Mann bedeckte Octavies Hand oder vielmehr Handschuh mit zahllosen weiteren Küssen. Es lag ein tiefer Ernst über dem Vorgang; Frau von Birkheim hatte von Steins Schwester gesprochen, die diese Verbindung begünstigt hatte: und diese junge Frau Waldner von Freundstein verließ an diesem Tage – das erfuhr man am andern Morgen – die Erde, starb mithin am Glückstage des Bruders. Zögernd trat Henriette ein; der neue Schwager küßte ihr galant die Hand und bat um ihre Freundschaft. Birkheim und Sigismund folgten. Dem letzteren flog Stein um den Hals: »Lieber Sigismund, wir sind Brüder für immer!« Es näherte sich die ganze Gesellschaft. Und das gastliche Zusammensein verwandelte sich in ein Verlobungsfest.

Als man beim Tee in zwanglosen Gruppen beisammen saß und ein heiter-ernstes Plaudern den alten schönen Salon belebte, erhob sich Pfeffel und bat um einen Augenblick Gehör. Belisars Gesicht, obschon von Schmerzen gefurcht, strahlte wieder einmal in der früheren, etwas schelmischen, geistbelebten Herzlichkeit. Die Brauen hochgezogen, durch das Gehör mit den Anwesenden Verbindung herstellend, stand er, drehte an einem Knopf seines dunklen Rockes und sprach nach der Richtung hin, wo Octavie saß.

»Meine nicht genug zu verehrenden Freunde! Unsere Politiker werden sich nächstens in Rastatt versammeln und sich ohne Zweifel mit der Redlichkeit, die allen Diplomaten eigen, selbstlos bemühen, zwischen den Völkern deutscher Zunge und der französischen Republik Frieden zu schließen. Leider bin ich lichtloser Mann zu diesem Kongreß der Scharfsichtigen nicht eingeladen worden. Hätte man mich mit einer Einladung belastet und beehrt, so hätte ich den Diplomaten die Möglichkeit genommen, das Feuerwerk ihres Geistes sprühen zu lassen. Denn ich hätte ohne Umstände das Mittel verraten, wie man zum wünschenswerten Frieden kommt.«

Und in Verse übergehend, die er mit Anmut vortrug, fuhr der Dichter fort:

»Wohlan, hör' ich die Herren sagen,
Darf man dich um dein Mittel fragen?
Warum nicht? Zwar es ist nicht mein,
Doch um des liebens Friedens willen
Erlaubt mir die Erfinderin,
Das weiß ich, gern, es zu enthüllen.
O, käme sie nach Rastatt hin,
Ihr alle würdet eure Degen
Und Federn ihr zu Füßen legen,
Ihr würdet, süß getäuschet, sie
Mit Herz und Mund Irene grüßen
Und ... doch mein Mittel wollt ihr wissen?
An eines deutschen Ritters Hand
Zieht sie, umschwebt von Amoretten
Und Grazien, mit Rosenketten
Umschlungen, in sein Vaterland.
So löset Hymens Zauberband
Der Diplomatik Zweifelsknoten.
Gesteht, ihr Herren Friedensboten,

Daß dieser Weg den Völkerzwist
Zu schlichten, ungleich kürzer ist
Als eure trägen Konferenzen.
Darum, wenn man euch raten kann,
So rat' ich euren Exzellenzen:
Traut jeden deutschen jungen Mann
Mit einem schönen Kind der Franken,
So wird euch unsre Republik
Und Deutschland bald das süße Glück
Des engsten Friedensbunds verdanken.«

Der Dichter hatte diese gereimte Ansprache mit dem ihm eigenen Talent ausdrucksfein vorgetragen, er verneigte sich freundlich und nahm Platz. Und unter dem willigen Beifall der frohgestimmten Hörerschaft flogen wie einst die drei ältesten Nymphen heran und umrankten den blinden Greis mit Danksagungen. Es war ein sinnig Bild und nicht ohne tiefere Bedeutung. Drei schöne Schwestern umstanden den Dichter wie drei Strahlen, die nach drei Richtungen auseinanderliefen: – Amélie war Gattin eines Elsässers, Henriette erwählte sich einen Franzosen, Octavie folgte einem Thüringer.

»Ihr wißt, Lieblinge,« sprach Pfeffel, wieder in den Ernst überleitend, »in unsrem Kreise hat das Ehrenwort ›Freund‹ Gehalt und Klang. Denn, was ich einmal in einem Gedicht an unsre Annette gesagt habe, das gilt auch von Octavie, gilt von euch allen:

Du kennst den Eigensinn
Des alten Belisar: er reicht die Schale
Der Freundschaft keinem dar, der nicht zuvor
Den Kelch des Leidens trank. Auch du hast ihn getrunken ...«

Die überstandene Revolution hatte einen nachzitternden Ernst in den Gemütern zurückgelassen.

Viktor stand bei Frau von Oberkirch; auch sie streifte in ihren Gesprächen das Erlebte; und die geistreiches Frau wußte bedeutend von einer neuen Dichtung Goethes zu erzählen, deren Wärme, Klarheit und Reife sich entzückend abhebe vom düstren Hintergründe der Revolution. Sie meinte »Hermann und Dorothea«.

»Ich kenne die Dichtung, von der Sie sprechen,« entgegnete der gute, kluge und unphantastische Professor Hartmann, »und ich liebe sie wie einen Teil meines Selbst. Ich habe sie den Meinen vorgelesen, ich habe mir manches auswendig gemerkt. Es sind Lebensleitworte darin, wie in desselben Dichters ›Iphigenie‹, die ich zu meinen Lieblingsbüchern zähle; und die Sprache ist von wunderbarer Gehaltenheit und Schönheit.

›Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist,
Der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter;
Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich.
Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung
Fortzuleiten und auch zu wanken hierhin und dorthin.‹ ...

Sie sehen, ich kenne das Gedicht. Doch muß ich bei dieser Gelegenheit gestehen, daß ich nicht gern über Kunstformen plaudre; es reizt mich nicht, das eine Kunstwerk gegen das andre abzumessen oder auszuspielen. Denn wichtig ist mir vor allem der dichterische Lebensodem, den ich in einem Buche spüre; das Schöne setzt sich bei mir in Seelenwärme um, in Entschlüsse, in Poesie der Tat. So vermag ich es dann weiterzutragen und meine Schüler damit zu entzünden.«

Birkheim trat heran, zog seinen ehemaligen Hauslehrer vertraulich beiseite und forschte ihn aus. »Wie gefällt Ihnen der Bräutigam?« Victor lächelte. »Lassen Sie die beiden ihre Torheiten machen und ihre Tugenden entfalten!« sprach er. »Das Leben wird sie formen, und sie werden das Leben formen, es ist mir nicht um sie bange. Da ich selber einst verzagt genug war, so rat' ich jedem, mit Kühnheit das Abenteuer des Lebens zu bestehen.«

Der Baron nickte. »Sie haben recht. Unser Entchen mag zeigen, daß es schwimmen kann!«

»Komplettiert ihr wieder?« rief die heranhuschende Braut. »Ihr beiden habt immer zusammengehalten gegen uns arme Frauen!«

»Oh, die armen Märtyrerinnen!« rief der Baron lachend, küßte die Tochter auf die Wange und lief in seiner gastfreudigen Erregung weiter.

»Wie gefällt er Ihnen?« flüsterte Octavie hastig.

Hartmann war schalkhaft genug, zu erwidern:

»Ihr Vater? Ein ausbündig redlicher und liebenswerter Edelmann!«

»Ach, Sie wissen sehr wohl, wen ich meine! Aber alle Welt gefällt sich heute darin, mich zu necken. Es stünde Ihnen viel schöner an, wenn Sie mir einen Trost mitgäben, einen ernsten Spruch, da ich doch nun mein Vaterland wechsle und so weitab ziehe.«

Es wurde in diesem Augenblick ein uralter Jahrgang elsässischen Edelweins herumgereicht. Hartmann erhob sein Glas und wandte sich an die ganze Versammlung:

»Meine verehrungswerten Damen, meine würdigen Freunde! Hier neben mir steht meine ehemalige Schülerin, unsre glückliche Octavie, und bittet ihren Lehrer mit etlicher Bangigkeit, ihr einen ernsten Spruch, ein Trostwort mitzugeben, da sie ja nun ihr Vaterland wechselt und dem Manne folgt, den ihr Herz lieb hat. Wohlan, mein liebes Fräulein, wohl sind die fein organisierten und adligen Seelen draußen in der Welt immer in der Minderheit. Aber es ist auch für Trost und Kraft gesorgt. Nehmen Sie in jenes liebenswürdige Thüringerland, das so edle Meister hat, unsre elsässischen Farben mit! Diese Farben sind Rot und Weiß. Rot ist die Farbe des warmen Blutes, weiß ist die Farbe der reinen Seele. Rot und warm ist das Leben, die Liebe, die Kraft und Leidenschaft des energievollen irdischen Werktags; weiß und rein sind die Gewänder des Feiertags, die Sonntagsgedanken, die Empfindungen des Göttlichen. So setzt sich aus Rot und Weiß, aus Erdenblut und Himmelsgeist, aus irdischen Kämpfen und himmlischen Siegen das Leben zusammen. Nehmen Sie, edle und liebenswürdige Octavie, beide mit hinaus, das energische Rot und das zarte Weiß, die Rose und die Lilie, so haben Sie mit unsrer dauernden Liebe und Achtung unser schönes Elsaß mit hinausgenommen, so wird Ihnen jeder Wirkungskreis zum seelischen Vaterland, so sind Sie echte Elsässerin überall und immer in dieser vielgestaltigen Schöpfung, tätig und beglückend, wo Sie auch weilen und wirken mögen!«

Diese festen und zugleich sehr herzlich gesprochenen Worte machten im Saale tiefen Eindruck. Die Gläser klangen in die Stimmen, wurden aber rasch beiseite gestellt: denn die Frauen hatten bewegten Gemütes das Bedürfnis, die Braut zu umarmen und sich untereinander ans Herz zu schließen; und die Baronin weinte ein wenig. Der Thüringer drückte kraftvoll und fast schmerzhaft lange des Elsässers Hand; und Birkheim rief ein »Bravo, lieber Freund!«

Viktor aber trat zu der stillen Frau Lili von Türckheim.

»So ist's recht, Herr Professor,« sprach die Edelfrau und wandte ihm ihr friedevolles, klassisches Gesicht zu, »setzen Sie sich ein bißchen zu mir her und verraten Sie mir Ihr Geheimnis.«

»Mein Geheimnis?« fragte Viktor und schob einen Stuhl an das Sofa. »Worin sollte mein Geheimnis bestehen?«

»Ihr Gesicht hat sich verändert. Sie haben zwar darin etwas wie eine feine Wehmut, aber zugleich eine freundliche Stille. Und von innen heraus strahlt etwas Ruhevolles, das ich auch im Gesicht Ihrer guten Gattin zu bemerken glaube.«

»Frau Baronin, Sie und Herr von Türckheim kennen dieses Geheimnis«, erwiderte Hartmann mit edlem Ernst. »Mein Freund Redslob hat mir erzählt, was Sie durchlebt und durchlitten haben. Aber er wußte auch zu bestätigen, daß Sie dadurch nicht schwächer, sondern stärker geworden sind.«

Man berührte die abenteuerliche Flucht der Familie Türckheim. Töne der Revolution klangen ein letztes Mal gedämpft herüber. Als Bäuerin verkleidet, ein Kind auf dem Rücken, ein Töchterchen an der Hand – so war Goethes Lili nach einer nachtlangen Wanderung bei Saarbrücken mitten durch die französischen Vorposten nach Deutschland entwichen. Die Soldaten auf der Brücke wollten die hübsche Bäuerin anhalten. Jedoch mit dem tapferen und schlagfertigen Wort: »Ist es französischer Soldaten würdig, eine Mutter zu belästigen?« zwang sie die Zudringlichen zur Achtung und ging frei ihres Weges. Der Hauslehrer Fries, Redslobs Vorgänger, durchwatete inzwischen mit den beiden Knaben an einer seichten Stelle die Saar und entkam gleichfalls. Und schon zuvor hatte Türckheim selber, vor einem Verhaftbefehl fliehend, in der Kleidung eines Holzhackers, die Art auf dem Rücken, unbehelligt die Grenze überschritten.

»Wir waren in der Tat glücklicher als die Familie Dietrich, die ja nun wenigstens ihr Vermögen wieder erhalten hat«, sprach Frau Lili. »Wir sind alle beisammen geblieben und gehen aus der allgemeinen Erschütterung gestärkt und gesegnet hervor. Das Feste und Beharrende in uns hat sich noch mehr gefestigt: Gott und Gesetz, Haus und Herz, und was sonst noch einer schwankenden Zeit zu widerstehen vermag. Auch des Todes Bild, nachdem wir ihm so deutlich in die Augen geschaut, steht nicht mehr als Schrecken vor uns; sondern es lehrt uns, um so fester zu handeln, sobald zu handeln ist, und um so vertrauensvoller ins künftige Heil emporzublicken, wenn unseres Handelns Ende kommt ... Und Sie waren bei Oberlin?«

»Ich war an den Quellen des Steintals und habe von meinem väterlichen Freunde Oberlin dasselbe gelernt. Was Sie hier als Ihr Geheimnis verraten, ist auch mein Geheimnis. In stiller Tätigkeit und vornehmer Gesinnung sein Leben auch im Kleinen für das große Ganze bedeutend zu machen – kann es ein reineres Glück geben?«

Frau von Türckheim betrachtete ihren reif und ruhig vor ihr sitzenden Schützling von einst mit mildblauen Augen, die in einem feuchten Glanze lagen.

»Man spricht allenthalben wohlwollend von Ihrem sanften und glücklichen, doch zugleich festen Einfluß auf die Jugend. Ich freue mich herzlich darüber. Wissen Sie noch, wie ich Sie einst in diesem Saale zu ermutigen suchte, als Herr Hofrat Lerse Sie ein wenig geneckt hatte? Sehen Sie, es ist nun Erfüllung geworden.«

* * *

Als Leonie und Viktor am Wagen auf Pfeffel und seine Tochter warteten, um mit ihnen nach Kolmar zurückzufahren, dämmerte die milde Herbstnacht. Das Auge des Mondes schaute träumerisch aus dem Duft des Gebirges. Die Glocken der Dörfer hatten ihre Gebete beendet; ihr Abendläuten auf den Hügeln und in der Ebene verhauchte melodisch in unbewegter Luft.

Das Schlößchen Birkenweier aber samt seiner Umgebung stand lichterhell und lebensvoll. Die Dienerschaft hatte die Lampions vom letzten Erntefest zusammengesucht, aufgereiht und angezündet. Zu vielen Farben strahlte der wipfelschwere Park. Der kleine See funkelte in diesen Farben; und auf dem See schwammen noch immer die weißen stummen Schwäne. Oder waren es weiße Lotosblumen, die Blumen der Weisheit und Schönheit, die sich zwischen schwimmendem Goldlaub spät und still der herbstlichen Mondnacht öffneten?

Viktor und seine Gattin wandelten in der festlichen Bestrahlung um das Haus, bewunderten das Leuchtwerk und kehrten gemächlich an den Wagen zurück. Wenn die beiden allein waren, so befanden sie sich gleichsam in einem magischen Ring, in dessen feine Stille die Geräusche der Welt nicht mehr eindrangen.

»Was denkt mein Viktor?« fragte Leonie leise, wie sie oft zu fragen pflegte.

»Ich bin glücklich, Leonie«, erwiderte Viktor. »Ich fühle mich durchströmt von der Freude, freie und fromme Jugend bilden zu dürfen. Und es stimmt mich dankbar, daß die Erwachsenen mich mit ihrem Vertrauen und mit ihrer Liebe beehren.«

»Und was schaust du so gedankenvoll nach den Bergen?«

Viktor war in einer weichen, doch keineswegs weichlichen Stimmung. Er legte mit zarter Umrankung den Arm um seines Weibes Schulter und sagte langsam, den Blick auf den silbernen Rand der dunklen Berge gerichtet:

»Auf einem fernen Felsen steht ein Mann und schaut uns nach. Um ihn her ist ein ruhiges Abendrot; des Mannes Gestalt steht fest und deutlich darin. Man sieht nicht seine Augen; doch seine ganze Umgebung ist ein einzig schimmernd Auge, ein einzig Lebenslicht, das über jenen Höhenrändern die Nacht hindurch Wache hält, bis der Morgen es ablöst ... Weißt du noch, Leonie, wie das groß und schön war? Wir werden den Freund im Steintal nie vergessen.«

Ende


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