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In der Frühe des nächsten Morgens, als der erste Hauch des Tages über das spärliche Sommerkorn flog und im Steintal das Wetzen der Sicheln erklang, stand Viktor bereits am raschen, kalten Wiesenwasser, das hinter dem Hause zu Tal schoß. Er wusch sich Kopf, Hals und Brust im elektrischen Naß, das mit den Kräften der Erde geladen war. Dann nahm er sein Frühstück ein: Milch und Brot.
Der Genesende hatte mehr und mehr auf den Körper achten gelernt und sich zur Natur in ein gesünderes Verhältnis gestellt. Sie war ihm nun nicht bloß ein Botanisierfeld. Es gingen magische Ströme vom Körper hinüber zu den Tätigkeiten der Seele und des Geistes. Alle drei waren ihm fortan der Ehrung und Sorgfalt wert, weil sie miteinander zu wirken berufen waren. Er mied erhitzende Speisen und berauschende Getränke, die beide in der Revolution eine so verhängnisvolle Rolle spielten; er hütete sich vor zu schwerem und reichlichem Essen und hütete sich vor zu vielem Sitzen.
»Gesundes Leben ist harmonische Bewegung,« hatte er unlängst in sein Notizbuch geschrieben. »Seitdem meine seelischen Kräfte harmonisch um einen festen Punkt zu kreisen begonnen haben, empfinde ich das Bedürfnis nach Rhythmus in allem. Blutumlauf und Sternenumlauf – ist es nicht derselbe pulsierende Rhythmus? Die Jahreszeiten in ihrem Wechsel, das Anschwellen und Vergehen der Pflanzen – Rhythmus! Und sollte nicht auch unser Schicksal seinen Rhythmus haben? Liegt nicht allem Geschehen eine geheime Melodik zugrunde? ... Ich bin übrigens einem Geheimnis auf der Spur. In drei Stufen staffelt sich des Menschen Bau empor. Den unteren Rumpfpartien sind die tierischen Funktionen anvertraut; dem Herzen die seelische Arbeit; dem Kopf aber das Geistige. Also Körper, Seele, Geist – Erdgebiet, Seelenregion, Himmelreich – so staffelt sich das empor. Wer zu viel aus den unteren Rumpf- und Sumpfpartien lebt, wird auch Seele und Geist zur Materie herabziehen und zu Sklaventum erniedrigen. Sünden von dort verderben den ganzen Organismus. Und umgekehrt. Es ist die Absicht dieser planmäßigen Gliederung, daß nach und nach der Mensch in das Geistige emporwachse – genau so wie die Pflanze aus Wurzeldünger und Stengelgebilde emporwächst in die Blüte. Wurzel, Stengel, Blüte – dreieinig auch die Pflanze! Es soll ein Italiener namens Dante ein dreiteiliges Lebensgedicht geschrieben haben: Hölle, Läuterung, Paradies. Wurzel und Stengel sind die Wege zur Blüte, wichtige Wege, ehrenwerte Wege; aber das Ziel ist die Blüte, die Frucht, der Geist. Es ist das Haupt, auf dem die Krone glüht, die Krone des Sieges!«
* * *
Der übermüdete Abbé Leo Hitzinger lag bis in den hellen Vormittag hinein schlafend auf seiner Holzbank. Er hatte das Bett verschmäht und sich mit einer Decke begnügt, die jetzt in wirrer Verwicklung um den Schläfer herumhing.
Viktor setzte sich vor seinen Gast und betrachtete ihn nachdenklich.
Dieses knochige Gebilde war nicht schön. Eine niedrige Stirn, eine aufgestülpte Nase, ein fleischiger Mund ließen ihn etwas beschränkt und fast häßlich erscheinen; aber eine gewisse Kühnheit der Linien gab dem Gesicht dennoch einen imponierenden Zug. Sein Löwenkopf zuckte gern empor, herausfordernd, gleichsam die Mähne nach dem Nacken werfend. Und über das dumpf melancholische Gesicht verbreitete sich von den Augen aus ein Schimmer von Kindlichkeit, als ob der Träger dieser Züge in einer steten horchenden Verwunderung durch die unverstandene Welt ginge und auf etwas wartete. Er war von Natur ein Draufgänger und Soldat, dem Kommando gehorsam, und hätte im Mittelalter unter der Kutte den Panzer getragen. Aber hinter diesen sinnlichen Rauheiten suchte sich eine sehr zarte Seele zu entknospen.
Viktor beneidete schier den Schlafenden. Es war in diesem Menschen Einfalt, sofern ihm Probleme höherer Ordnung nie das Herz beschwert und den Geist gefurcht hatten. Er diente mit List und Leidenschaft seiner Kirche und überließ ihr die Verantwortung.
»Da ruhst nun auch du, mein guter Leo,« so sann er vor sich hin, »am Ufer der Revolution, in einem neuen Land und Zustand! Welche Gebilde der Astrologie knüpfen denn wohl dein Geschick so sonderbar an das meine? Auch ich will zur edlen Einfalt hindurchdringen, aber in den mir gemäßen Formen. Ich will auch das letzte Rätsel, den Tod, als einen klar vertrauten Freund empfinden, nicht als ein Problem. Wer hat denn die Mär erfunden, das Leben sei voller Probleme? Das Herz nur ist voller Probleme, nicht das Leben. Gib meinem Herzen klare Ruhe, mein Gott, so wird auch um mich her klare Ruhe sein.«
Es klopfte jemand an das niedere Fenster. Ein Waldwart aus Rothau kam vorüber und streckte ein Briefchen herein von Demoiselle Brion. Mit großer, schöner Schrift sprach sie Viktor nochmals ihren Dank aus für die gestrige Predigt, entschuldigte sich, daß man so rasch wieder nach Rothau zurück mußte, und deutete alsdann Addys Wünsche an.
»Der erste Wunsch ist schon erfüllt,« murmelte Viktor. »Den zweiten werden wir sofort seiner Erfüllung zuführen.«
Er ahnte, daß Addys Ende nahe sei. Bekümmert setzte er sich hin und schrieb in diesem Sinne zwei Briefe: den einen nach Barr an Frau Frank, den andern nach Imbsheim.
Inzwischen erwachte Hitzinger. Er rieb sich die Augen und beschaute mit verwunderten schwarzen Augen den Schreibenden und die Umgebung. Als er sich dann zurechtgemacht und gestärkt hatte, nahmen sie beide den Weg unter die Füße und wanderten ins Pfarrhaus.
Unterwegs sprachen sie von Addy. Der evangelische Theologe und der katholische Priester, die hier nebeneinander durch Waldersbach schritten, waren einig in einer verehrungsvollen Liebe zu diesem fremdartigen Geschöpf, das nur halb der Erde angehörte.
»Es ist zwar«, bemerkte Viktor, »wieder mehr Sicherheit ins Elsaß eingekehrt, wenn auch nicht für euch Priester. Der neue Repräsentant Foussedoire hat bereits eine Anzahl Gefangene aus dem Seminar entlassen. Ich könnte es allenfalls wagen, Addy wieder nach Barr zu bringen; aber ihr Zustand erlaubt keine Reise mehr. Ach, Leo, es ist mein Verhängnis, daß ich Wunden empfangen muß, ohne mich wehren zu können: wie das ganze Land in dieser Vergewaltigung durch die Pariser Parteien. So schmilzt uns nun auch Addy unter den Händen hinweg. Meine Wunde an der Schulter ist noch nicht ganz ausgeheilt; mein Mut zum Leben oft noch angefochten. Hier in diesem stillen Steinland Galiläa, wo ich dies alles so recht durchdenken konnte, bin ich vorerst ohne Möglichkeit der Betätigung am großen Ganzen. Ich hätte ohne den festen Punkt, der Oberlin heißt, schwerlich das Gleichgewicht behalten. Wahrlich, Leo, ich habe in den letzten Jahren eine Gemütskrankheit durchgemacht, die ich nach außen hin nur wenig merken ließ. Nun kämpfe ich mich langsam ins Helle durch ... Du wirst übrigens an Papa Oberlin nichts besonders Auffälliges entdecken. Es ist sein Dasein an sich selber, das beruhigend wirkt.«
»Auch ich hab' harte Knochen gebissen,« versetzte Viktors Kamerad. »Aber was so von außen kommt, pah, das ist Kinderspiel gegen den Satan von innen. Ein Saint-Just oder Robespierre haben mich weiter nicht entsetzt; denn ich hatte selber so ein paar Bluthunde in mir. Die Zwillinge – du kennst sie – haben mir schon vor der Firmung mehr getan als alle Republikaner zusammen. Ich bin aussätzig, Viktor, ich bleib' aussätzig. Durch die Gefahren der Revolution ist dann der Löwe in mir aufgewacht; also hat mir die Revolution Wohltat erwiesen. Ich lag vor dem Kruzifix auf den Knien und bat Gott, mich im Dienst der Kirche zu verbrauchen und als Märtyrer sterben zu lassen. Dann fing das Schöne in meinem Leben an, nämlich jene Stunden, in denen ich verfolgten Gemeinden und einsamen Sterbenden als Priester beistehen durfte. Und Gott hat mir zu gleicher Zeit ein Menschenbild gesandt. Ein Menschenbild, Viktor, an dem ich meine eigene Unwürdigkeit so recht hab' abmessen können. Ich darf dir's ruhig sagen, Viktor: an ihre Reinheit denkend, hab' ich manchmal bitterlich über mich geweint. Und die Viertelstunde gestern in ihrem Häuschen – – Größeres kann es hienieden nicht geben. Jetzt noch eine treue Amtsführung, so lang's noch glückt – und dann, wenn's Gott erlaubt, einen Märtyrertod. Viktor, 's ist schwer, dies Leben! Aber der gestrige Tag wiegt alles auf. Ich kann dankbar sterben.«
Der entsühnte Abbé, der breit und wiegend in seinen derben Stiefeln neben dem zierlichen und schlanken Viktor einherschritt, sprach mit bewegter Stimme. Sie waren schon noch einmal nebeneinander einhergewandert, diese Schulkameraden, die so verschiedenartig durch die Welt liefen und sich nun in Oberlins und Addys Hochland wiederum trafen. Aber damals, auf der Straße von Kolmar, hatte am Himmel und in den Herzen schwefelgelbe Gewitternacht gelauert, und unstete Geister waren auf drohenden Blitzen vorübergeritten; jetzt war ein freundlicher Sommertag um sie ausgebreitet, und über ihnen, im höchsten Ätherblau, drängten sich die Engelsköpfe weißer Wölkchen.
Und wieder erwog Viktor den Gedanken, daß die Millionen Menschen durcheinandergehen und aufeinanderwirken nach ähnlichen Gesetzen wie die Millionen Sonnen, Planeten und Kometen. Solche, die günstig aufeinander gestimmt sind, berühren sich durch tausend belanglose andere Menschen hindurch mit strahlender Kraft. Und so geht ein Netz von strahlendem Leben durch die Menschheit. Aber es gibt auch zerstörende Zusammenstöße, Verbrennungsprozesse, wenn ein Gestirn seinen Rhythmus verliert und von der Gnade verlassen ist...
Sie betraten das Pfarrhaus. Und hier hatte der sinnenstarke Leo wieder so viel zu schauen und zu horchen, daß Mund und Augen und hochgerunzelte Stirn eitel Staunen ausdrückten.
Er vergaß dabei sogar, daß er noch wenige Minuten zuvor, beim Gang durch das Dorf, einen Augenblick erbleicht und heftig erschrocken war. Es war nur ein Bildchen gewesen, ein Schattenriß; aber es war wirksam genug. Vor einem entfernten Wirtshause, oben in der Dorfgasse, hielten zwei Berittene; es war die Uniform der Gendarmerie. Der eine saß zu Pferd, den Arm in die Seite gestützt, der andere war abgesprungen und hielt ein Glas Wein in die Sonne, ehe er es hinabstürzte. Das war alles. Der verkleidete Priester ließ sich nichts merken, wußte jedoch, daß also die Todfeinde aller Verfemten und Verfolgten in seiner Nähe waren.
Sie trafen im Pfarrhause die Rothauer Gesellschaft, aber ohne Frau von Dietrich und Demoiselle Brion. Statt ihrer war Frau von Oberkirch mit ihrer Tochter Marie mitgekommen, um den Bürgerpfarrer zu begrüßen. So war das ohnehin gefüllte Haus samt den beiden Gärtchen sehr belebt. Aber die rastlos geschäftige, strahlend freundliche Haushälterin Luise Scheppler, die aufmerksamen Kinder und der Hausherr selber mit seinen einnehmenden Manieren widmeten sich ihren Besuchern mit einer so natürlichen Freundlichkeit, als wäre dergleichen eine selbstverständliche und alltägliche Sache.
Das Pfarrhaus von Waldersbach liegt neben der kleinen Kirche mit dem schlanken, spitzen Türmchen inmitten des Dorfes. Betrat man das damals noch ganz neue Gebäude, so fielen zunächst die Sprüche auf, die von allen Türen leuchteten. Sie stellten die geistige Stimmung der Bewohner dar. »Eins ist not« – »Der Engel des Herrn lagert sich um die, so ihn fürchten« – »Beständige Güte, sanftmütige Festigkeit, unveränderliche Liebe« ... Das Haus glich überhaupt ein wenig einem Museum. Da hingen an den Wänden Karten, die Oberlin selbst gemalt, getrocknete Pflanzen, die der Heil- und Kräuterkundige selber gesammelt hatte; dann Insekten- und Steinsammlungen; Hörner von verschiedenen Tieren; dazwischen ein Christuskopf oder ein Gemälde von Johannes dem Evangelisten; auf einem Schrank ein Totenschädel mit genauen Strichen und Zeichnungen nach der Gallschen Schädellehre, welcher der Pfarrer ebenso zugetan war wie der Lavaterschen Physiognomik; mehrere Büchergestelle mit deutschen und französischen Werken; Bildnisse, selbstgefertigte Zeichnungen und anderes mehr.
Der merkwürdige Pfarrer ging in seinem langen Rock mit zugeknöpften Aufschlägen und in runder Perücke mit kleinem Zopf durch die Zimmer und erklärte seinen Besuchern in fesselnder Weise die einzelnen Gegenstände. Nichts von Eitelkeit oder Pose, aber auch nichts von falscher Demut oder Frömmelei war in seiner natürlichen Würde. Von seinen edelkräftigen Gesichtszügen ging ansteckende Wärme aus. Das Geistige der inneren Welt und das Natürliche der sichtbaren Dinge verband sich bei ihm auf die ungezwungenste Weise.
»Wissen Sie,« sagte er, als sie den Saal betraten, wo die Zöglinge versammelt waren, »womit wir uns vorhin beschäftigt haben? Sie sehen da Kleistertöpfe und farbiges Papier; wir waren nämlich grade beim Buchbinden. Das Papier haben wir selber gefärbt. Ist es nicht eine angenehme Farbe? Für mich ist die Natur und selbst das Himmelreich ohne Farbe unvorstellbar. Der Regenbogen z. B., kann es ein köstlicheres Schauspiel geben? Farben haben eine geheime Bedeutung; jeder Mensch hat seine Grundfarbe. Aber die Farbe aller Farben ist weiß; denn alle anderen Farben sind darin enthalten, wie im weißen Sonnenlicht die Farben des Regenbogens. Darum verspricht unser Herr Jesus Christus den Überwindern weiße Kleider; wohl deshalb, weil der Gereifte, welcher das Recht hat, weiße Kleider zu tragen, damit alle anderen Farben in sich vereinigt: wie er ja alle Stufen und Stimmungen in Leid und Freude vorher durchgemacht und überwunden hat.«
Hieran schloß sich ein teilweise neckisches Gespräch. Man stellte jedes einzelnen Lieblingsfarbe fest, woraus man dann Schlüsse auf seinen Charakter zog. Von Hitzingers dunklem Blau einer dumpfen Frömmigkeit bis zu Viktors geistigem Rosarot, vom Orangegold der Frau von Oberkirch bis zum Violett und Lila der jüngeren Mädchen und zu Périers strahlendem Grün waren fast alle Farben vertreten.
»Es gibt viele Mittel, um einen Charakter von mehreren Seiten ins Klare zu setzen,« fügte Oberlin hinzu, nachdem er Octavie wegen ihrer Vorliebe für ein violett überhauchtes lichtes Blau gelobt hatte. »Eins meiner Hauptmittel ist der Schattenriß: die Silhouette. Ich stand einmal mit einem französischen Bischof am Fenster meines Zimmers; da machte mir dieser Herr über die Charaktere der Vorübergehenden, die er doch noch gar nicht kannte, erstaunlich richtige Bemerkungen. ›Woraus schließen Sie das?‹ fragte ich. Nun, er schloß das aus der Schädelform, aus dem Profil, aus den Blicken und Bewegungen. Ich spürte nach und fand alles bestätigt. Sehen Sie, hier habe ich mir mehrere Folianten mit Schattenrissen meiner Gemeindeglieder gefüllt. Aber ich muß Ihnen freilich bekennen: manchmal stimmt es auch nicht, manchmal wird manch verinnerlichter und delikater Mensch nach seinem ererbten ungünstigen Schädel oder Körper beurteilt und auf das schmählichste verkannt. Man muß eben die Sehorgane der Seele ausbilden. Und da schaut man oft ganz andere Verhältnisse, als wenn man nur so mit körperlichen Organen oder bürgerlichen Vorurteilen seine Mitmenschen ins Auge faßt. Weltliche Wissenschaft ist wertvoll; aber Weisheit der Seele steht eine Stufe höher.«
Dann verteilte sich die Gesellschaft im zwanglosen Weiterwandern. Viktor blieb bei Octavie und Frau von Oberkirch, die von ihren Kerkerleiden erzählte; Demoiselle Seitz, im Freundeskreise »Pallas« genannt, ging mit Luise Scheppler, Henriette und Augustin Périer durch die Wirtschaftsräume; die jungen Mädchen gaben sich mit Oberlins Töchtern ab. Und so war das ganze Haus ein Bienenkorb; und des Summens war kein Ende. Hitzinger aber schritt mit Oberlin im Garten hin und her, offenbarte sich ihm als katholischer Pfarrer und teilte ihm die geheime amtliche Handlung mit, die er gestern vorgenommen hatte.
Der Pfarrer blieb erstaunt stehen. Aber er nahm die Tatsache genau so auf, wie der Abbé erwarten durfte. »Ich selbst«, sprach er, seine Beziehungen zum Katholizismus andeutend, »bin mit dem bedeutenden Abbé Grégoire von Emberménil befreundet und stehe mit den Katholiken der Umgegend in einem herzlichen Verhältnis. Ich nenne mich einen katholisch-evangelischen Geistlichen; denn die ganze Urkirche durch tausend Jahre und noch mehr haben wir mit den Katholiken gemeinsam. Mein Landsmann Tauler ist mir ebenso lieb wie mein Landsmann Spener; und heilige Männer wie Augustinus und Franziskus sind jedem edlen Protestanten verehrenswert. Früher gab es für die Katholiken unserer Gegend nur zweierlei Menschen: Katholiken oder Ketzer. So machten sie sich das Leben eng und die Gewissen schwer. Da ich ihnen aber gesprächsweise oftmals dartun konnte, daß wir nicht an Luther, sondern an Christus glauben, daß unsere Glaubensgrundsätze gemeinsam sind, daß die ›katholischen Briefe‹ eines Petrus, Jakobus oder Johannes ebensogut in unserer Bibel stehen, daß Werke der Liebe auch für uns die maßgebenden Beweise eines inneren Glaubenslebens sind, obwohl wir nicht glauben, uns damit den Himmel zu verdienen – nun, so verwunderten sich diese katholischen Christen außerordentlich, daß wir doch sozusagen auch Christen seien. Und so leben wir in unserer Ecke in Frieden miteinander. In meiner Kirche sind oft Katholiken, Lutheraner und Kalvinisten zu gemeinsamer Andacht vereinigt. Erst vor kurzem hat ein junger katholischer Geistlicher zu einem andern gesagt: wenn er wüßte, daß alle protestantischen Pfarrer so gute Katholiken wären wie der Pfarrer von Waldersbach, so würde er nicht einen Augenblick zaudern, uns Brüder zu nennen. Denn sieh, mein lieber Bruder Hitzinger, das ist eben unser Unglück: wir kennen einander zu wenig.«
Leo Hitzinger war ein Mensch von treuem Empfinden; er konnte sich an einer geistigen Erörterung nicht gut beteiligen; doch waren in ihm starke Instinkte und ein Drang zu stummer Verehrung. Er fühlte auch hier die edle Gesinnung und empfand dem Pfarrer gegenüber eine rasche und starke Zuneigung. Keiner von beiden ahnte, daß Pfarrer Oberlin schon vor Jahren, mit Viktor auf der Perhöhe wandernd, grade von diesem katholischen Theologen gesagt hatte, er sei dem Reiche Gottes näher als der damals noch recht hochmütige und im Übelnehmen verhärtete evangelische Kandidat Hartmann. Nun wanderte Leo selber neben Oberlin und schaute ihn häufig und heftig nickend an, nur aufnehmend, mit den sprechenden Augen eines treuen Hundes. Nicht mehr die Weihe des gestrigen Tages lag über dem jungen Priester; doch schwoll ihm gleichsam wieder die Brust zu neuen Heldentaten; und aus dem geistig nicht bedeutenden Priester war etwas wie ein heroischer Zug herauszuspüren.
Als man wieder in Oberlins großem Studierzimmer beisammen saß, wurden aus einem Karton Losungen der Herrnhuter gezogen. Frau von Oberkirch, in deren intelligentem Gesicht zudringende Teilnahme und vornehme Zurückhaltung wechselten, hatte den Vortritt; sie tauchte die lange und spitze Hand in die Papiere und zog das Wort heraus: »Befreie uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagtest, nachdem wir so lange Unglück leiden.« Hier war die Deutung naheliegend. Octavie ergriff den einfachen Spruch: »Ertraget euch untereinander!« Und geübt in einer bewußten Selbsterziehung, nahm sie sich vor, dieses Spruches und des Pfarrers von Waldersbach in ihrem Leben oft und gern zu gedenken. Und so zogen auch Augustin Périer und alle anderen ihre Lose. Jeder las seinen Spruch laut vor; und unter Oberlins Mitwirkung wurden Bemerkungen daran geknüpft. Viktor erhielt das sinnreiche Wort (Ps. 84): »Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln; die durch das Jammertal gehen und machen daselbst Brunnen! Und die Lehrer werden mit viel Segen geschmückt.« Durch das Jammertal gehen und für die durstigen Karawanen Brunnen graben – »o, welch ein ehrenvoller Beruf, welch ein anschaulich Geleitwort!« rief Oberlin. »Und grade für das Segenswerk des Erziehers!«
Leo Hitzinger war bescheidenerweise der letzte. Ihm blieb ein Wort aus der Offenbarung des Johannes aufgespart (7, 14): »Diese sind es, die gekommen sind aus großer Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider helle gemacht im Blute des Lammes –« ein Wort, das sich später der Greis Oberlin neben Psalm 103 als Leichentext wählen sollte. Niemand hatte den etwa nach einem Knecht oder Kutscher aussehenden Bürger Hitzinger sonderlich beachtet; er hatte bisher kaum den Mund aufgetan; von Viktor war er mit den Worten »mein Freund Hitzinger« vorgestellt worden. Aber als er jetzt mit rauher und tiefer Stimme langsam den Spruch der Versammlung vorlas, stieg das gestrige Erlebnis weich und melodisch wieder aus seinen Tiefen empor; der Spruch hatte seine Wunde berührt; er schluckte vor Gemütsbewegung und konnte kaum zu Ende lesen. Oberlin bemerkte es und nahm sogleich das Wort; er deutete den Versammelten taktvoll an, daß »unser Gast« während der Revolution Schweres erduldet und mitangesehen habe. Man kam auf die religiösen Verfolgungen zu sprechen. Jemand hatte in Kolmar Genaues von der Hinrichtung des Priesters Joseph Thomas aus Gebweiler vernommen. Dieser milde, bereits ältere Mann hatte sich in der Revolution geheimer Seelsorge gewidmet; er war von Verwandten verraten und vor Gericht geschleppt worden; ein Gendarm hatte ihn, den Schweigenden, der katholische Familien verraten sollte, mit Fäusten und mit dem Säbel schwer mißhandelt; doch er verriet nichts und wurde, halbtot von Mißhandlungen und Blutverlust, auf das Blutgerüst geschleppt und enthauptet. Er war nicht der einzige, der in dieser Weise als Märtyrer starb. Abbé Hitzinger saß während dieser Erzählung stumm und mit schwerem Atem neben Oberlin und starrte seinen Spruch an.
Der Pfarrer legte dem verkappten Geistlichen den Arm auf die Schulter.
»Bürger Hitzinger, weißt du auch, wie es dort in der Offenbarung Johannis weiterheißt? Hinter dem schönen Spruch von den weißen Kleidern, den dir das Los geschenkt hat, kommt folgender Vers: › Darum sind sie vor dem Stuhl Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel‹ – beachte dies starke, trostvolle ›Darum‹! Eben weil sie aus großer Trübsal siegreich hervorgegangen sind, heißt es nun: darum sind sie vor dem Stuhl Gottes. Und dann schließt sich ein Satz an, der zu deinem gestrigen Texte und deinem heutigen Losungswort patzt, lieber Viktor: ›Sie wird nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht auf sie fallen die Sonne oder irgend eine Hitze: denn das Lamm wird sie weiden!‹ O meine Freunde, glaubt ihr denn, daß ein Mensch, dem dies alles durch tausendfältige innere Bestätigung als Gewißheit in der Seele glüht, jemals unglücklich sein kann? Die Märtyrer unter Nero haben gesungen auf ihren Scheiterhaufen – versteht ihr wohl? Gesungen! Stephanus hat den Himmel offen gesehen; und auf dem Berge Tabor sprachen die Jünger und Christus mit den Geistern eines Mose und Elias – – will jemand glauben, daß dies alles Einbildungen seien? O nein, meine Freunde, es ist hinter dem Sichtbaren ein gewaltiges Unsichtbares, ein Reich, strahlender als das unsere, dem göttlichen Lichte näher!«
Und das Gespräch nahm eine Wendung in das Übersinnliche. Frau von Oberkirch spielte lebhaft mit ihrer Perlenkette und hatte längst die großen und klugen Augen auf eine sonderbare Karte geheftet, die an der Wand hing.
»Ich entziffere da Namen wie Neues Jerusalem und Berg Zion,« sagte sie. »Ist es neugierig, wenn ich nach dem Sinn dieser Karte frage? Sind es vielleicht – wenn ich mich knapp ausdrücken darf – gemalte Ideen von Swedenborg?«
»Gemalte Ideen von Swedenborg – schön gesagt!« rief Oberlin. »O, wer das vermöchte! Wer Swedenborgs weitläufige und tiefe Gedanken und Gesichte in anschauungskräftige Bilder zusammendrängen könnte, in farbenstarke Kunstwerke, die alle Welt einzuführen vermöchten in das Reich Gottes, in die Gewißheit, daß es keinen Tod gibt! ... In der Tat, die Karte, die dort an der Wand hängt, ist eine einfache, von mir selbst gemalte Landkarte des Jenseits.«
»Des Jenseits?«
»Es ist eine Veranschaulichung der verschiedenen Stufen oder Bleibstätten im Jenseits.«
»Verschiedene Stufen? Ist denn nicht das Jenseits entweder Himmel oder Hölle?« »O nein! Man hat leider in der jetzigen Christenheit gewaltig springende Begriffe vom Jenseits. Alle Entwicklung geht stufenweise, so hier auf Erden und so drüben im Geisterland.«
»Unsere Freundinnen möchten darüber so brennend gern Näheres hören,« bemerkte Demoiselle Seitz, die Oberlins Anschauungen kannte.
»Es ist darüber nichts zu berichten, was nicht schon von der Bibel und vielen Sehern und weisen Männern der ganzen Geistesgeschichte ausgesprochen worden wäre,« bemerkte der Pfarrer. »Aber diese Wahrheiten sind nur für stille und gesammelte Gemüter. Hier im abgelegenen Steintal haben viele das Ferngesicht ins Reich der Geister; und wir verkehren im Innern oder im Gesicht unbefangen mit unseren Toten – wenn das Wort ›Tote‹ überhaupt hier angewendet werden darf. Denn sie sind mindestens so lebendig wie wir. Nur ihre Daseinsform ist eine andere. Was aber die Landschaften des Jenseits anbelangt, so sind das keine räumlich abgezirkelten Orte, sondern es sind Zustände, die jeder einzelne Geist selber erwirbt oder verschuldet. Die Entwicklung unserer Seele zu immer größerer Reinheit und Vollendung hört auch drüben nicht auf; und je nach unserer Entwicklungsstufe bilden wir dort mit den Geistesverwandten, die in gleichem Zustand sind, seelische Landschaften oder Nationen oder Gruppen – ihr könnt ja das nach Belieben benennen. Wer ein Engel wird, trägt den Himmel in sich und strahlt ihn aus in Liebe und Weisheit wie ein von ihm ausgehendes glänzendes Seelenlicht. Je mehr solcher selbstleuchtender Gestalten, um so schöner ist der Himmel.«
»Demnach verfertigt sich die Seele selber das Gewand, das sie einst tragen wird?«
»So ist es. Aus der Summe ihrer Kräfte und Tugenden bildet sich ihr künftiger Zustand, das Resultat ihres Lebens; sie legt den Körper ab und tritt in ihrem recht eigentlichen Wesen unentstellt hervor. Von großen und schönen Seelen geht ein unbeschreiblicher Glanz aus. Die Stärke ihrer Leuchtkraft ist der Gradmesser ihres Wertes. Doch wollen wir nicht vergessen, meine Freunde, daß alle Bestrebungen der Seele erst durch die helfend entgegenkommende Gnade rechte Kraft und Weihe erlangen. Sie würde matt werden auf ihrem Wege ohne jene Hand von oben.«
Alle saßen mit verwundertem Gemüt um den ruhig plaudernden Geistlichen. Doch Oberlin wandte sich wieder der nahen Wirklichkeit zu und sprach weiter über religiöse Verfolgungen. Er zog Hitzinger ins Gespräch. Und der bisher stumme Abbé wurde nach und nach lebendig. Frau von Oberkirch war auf diesen Unbekannten mit den großen Schwarzaugen und dem kühnen Kopf aufmerksam geworden; sie ermunterte durch geschickte Fragen zum Sprechen und lockte ihn aus sich heraus; Hitzinger ging ungekünstelt, ja ungestüm auf die Lockung ein und erzählte von den Verfolgungen in Rappoltsweiler und Umgegend während der Schreckenszeit.
»Das muß man gesehen haben!« rief er. »Man muß es erlebt haben, wie da ein Dutzend oder mehr Augustiner in der ersten Morgenfrühe, wo noch alles schläft, weinend aus dem Kloster hinwegschleichen, ausgetrieben von der Behörde, an ihrer Spitze der Älteste, ein einundachtzigjähriger Greis, gestützt auf den Prior und Subprior. Sie haben Gutes getan, haben ihre Gemeinde geliebt und sind geliebt worden; jetzt jagt man sie fort im Namen der Freiheit und zieht ihre Güter ein. Das Kloster wird in einen Kerker verwandelt und füllt sich fortan im Lande der Freiheit mit Gefangenen. Oder stellt euch vor, wie eine Rotte betrunkener Patrioten und Speckreiter mit Äxten und Brecheisen nach der Dusenbachkapelle zieht und das Heiligtum zerhackt, verbrennt, verwüstet! ... Ja, so ist es leider, die schöne Kapelle, an der mein Herz hing, liegt ganz in Trümmern. Zwar hat die Volksmenge gejammert, hat dort durch den Wald hin gekniet und gebetet; aber mit Kolbenstößen hat man sie auseinandergejagt, und niemand hat den Greuel hindern können. Oder da weiß ich ein Dorf im Ried, bei Markolsheim; ein sterbender Greis bittet um die letzte Ölung. Der Sturm peitscht den ohnedies heftigen und gefährlichen Rheinstrom; es ist eine bitterkalte Nacht; doch der Schifferseppel mit zwei Freunden entschließt sich, fährt mit seinem Nachen über den Rhein und holt einen Priester, der dort in einem badischen Dorf immer für die elsässischen Riedgemeinden bereitstand. Es war eine Fahrt auf Tod und Leben; wir sind um ein Haar ertrunken – aber es gelang zuletzt doch. Wiederum war es einmal, daß ein verfolgter Priester einem Betrüger in die Hände fiel, der ihn für teures Geld nachts ins Badische hinüberzuführen verspricht; der Bösewicht steckt den Lohn ein, fährt aber den Verfolgten nur bis auf eine Kiesinsel im finstern Rhein – ›so, das ist Baden!‹ – und rudert wieder zurück; dort auf der öden Insel hat der Ausgesetzte unter eisigem Sturm und Regen drei Tage gehungert, hat sich vergeblich durch Rufen bemerkbar zu machen gesucht und wäre zugrunde gegangen ohne eine badische Schildwache, die im letzten Augenblick den Halbtoten ans Ufer geholt hat. Ein andermal hatte ich – hatte derselbe Priester in einem Bauernhause nächtlich die Messe gelesen für das heimlich versammelte Dorf und wollte nun in der Frühe das Haus verlassen, als Metzgerbursche verkleidet. Da halten die Gendarmen im Hof und besetzen alle Zugänge! ›Ihr seid denunziert, Seppel, heraus mit dem Pfaffen, den ihr versteckt habt!‹ – ›Ich?‹ sagt der Joseph. ›Nun wohl, sucht ihn!‹ Sie durchsuchen das Haus mit Lärm und Zorn – und ich stehe derweil in meiner Metzgerbluse und feilsche um ein Kalb. Danach ging ich langsam davon. Sie haben mich nicht erkannt. Gott hatte mich zu anderem aufbewahrt.«
So erzählte der Abbé.
Und jedermann wußte nun, wes Standes der sonderbare Fremdling war. Die Maske war von seinem Wesen gefallen; er bemühte sich nicht, sie wieder aufzuheben. In seinem groben dunklen Bürgerfrack stand der Priester inmitten der weißen Damenkleider, mit ungestümen Gebärden seine eigenen Unbilden erzählend.
Da ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Rasch und laut ward an die Türe gepocht. Die Karte des Steintals, die dort hing, flankiert von Bibelsprüchen, zitterte heftig. Oberlin erhob sich; alle schauten nach der Türe. »Herein!« Die schwarzkattune Kappe und das rotbackig gesunde, eckige, ausdrucksvolle Gesicht der Luise Scheppler wurde sichtbar. »Gendarmen halten im Hof!«
Alles sprang auf. Der elektrische Augustin Périer schlug auf das Knie und schnellte an die Tür, als wollte er gewaltsam den Zugang versperren. Verstörte Gesichter hefteten sich auf den evangelischen Pfarrer und den erbleichten katholischen Priester.
»Wen suchen sie?« fragte Oberlin gefaßt.
»Ein unbeeidigter Priester hätte sich ins Steintal geflüchtet. Sie wollen Haussuchung halten.«
»Sag ihnen, sie möchten heraufkommen.«
Luise ging. Oberlin nahm den todblassen Leo an der Hand, öffnete die Türe seines Schlafzimmers und schob ihn hinein. »Ganz ruhig bleiben!« Kaum hatte er wieder geschlossen, so stampften auch schon Reiterstiefel die Treppe herauf. Der Pfarrer hatte nur noch Zeit, mit gepreßten Händen gen Himmel zu rufen? »Rette ihn, Vater, rette uns! Ich weiß, daß du Gebete erhörst!« Und zu den anderen: »Betet unterdessen!« Da bebte auch schon unter kräftigem Anpochen die Türe, an deren oberem Querbalken der Spruch stand: »Der Engel des Herrn lagert sich um die, so ihn fürchten.«
»Herein!«
Ein Gendarm stand im Zimmer.
»Entschuldige, Bürger Oberlin!« sprach der schnauzbärtige Sundgauer. »Wir sind einem ungeschwornen Priester auf der Spur, der uns das Leben sauer genug macht. Du mußt gestatten, daß wir uns deine Gäste genauer ansehen und dein Haus untersuchen.«
Die Zeder stand ruhig. Es ging hier auf Tod und Leben. Jedermann wußte das. Am so wichtiger war es, daß niemand die Fassung verlor.
»Du meldest dich ein wenig ungestüm an, Bürger Gendarm. Indessen bist du in Ausübung deiner Pflicht; und die Pflicht ist jedem Christen und jedem Republikaner heilig. Durchsuche denn also mein Haus! Dieser junge Bürger aus Grenoble ist in Rothau zu Besuch – –«
»Hier, Bürger Gendarm, ist mein Militärschein,« bemerkte Périer mit ausgesuchter Eleganz. »Ich bin zum Dienst nach Paris einberufen und du ersiehst daraus, daß ich Urlaub habe bis zur Ablegung meines Examens.«
»Und dies,« fuhr Oberlin fort, »ist ein ehemaliger Soldat, der hier im Steintal seine Wunde ausheilt – –«
»Wir kennen den Mann, den wir suchen,« unterbrach der Wachtmeister. »Meine Pflicht schreibt mir vor, das Haus – –«
Er blickte nach den Seitentüren.
»Das Haus zu durchsuchen,« fiel Oberlin ein, faßte den Gendarmen am Arm und öffnete die Stubentüre. Und mild und fest zugleich forderte er ihn auf: »Folge mir, ich werde dich führen.« Es ging ein Bann von ihm aus.
Der Soldat war durch die erstarrte, gleichsam feierliche Haltung der Gesellschaft, die kein Auge von ihm wandte, etwas außer Fassung geraten. Er folgte dem Pfarrer auf den Korridor hinaus. Die Gesellschaft war allein und brach sofort in die fieberhafteste Aufregung aus; ein Gewirr von Vorschlägen und beruhigenden Worten und »leise, leise, um Gotteswillen leise!« drohte alles zu verderben. Hier war es Viktor, der mit harter Energie und gepreßten Zähnen von einem zum andern ging, die unruhigsten seiner ehemaligen Zöglinge mit eisernem Griff am Arm packte und zischte: »Schweigt! Betet! Es geht um den Kopf!« Seine Festigkeit machte Eindruck. Hände falteten sich; die Mädchen von Birkenweier beteten, Tränen der Angst in den verstörten Augen.
Und hinter der Tür, in Oberlins Schlafgemach, lag Leo Hitzinger. Er lag auf den Knien und stammelte mechanisch, keiner Andacht fähig vor Erregung, seine lateinischen Gebete, ein Kredo, ein Sanktus, ein Sündenbekenntnis, wie es ihm in den Sinn flog, und starrte dabei auf die Türe, an der mit Kreide etliche Namen geschrieben waren. Ein Öffnen und Schließen ging unten durch das ganze Haus; im Hof drängten sich die verängsteten Kinder; der zweite Gendarm hielt am Hoftor Wache; die Pferde stampften auf den Steinplatten.
Und dann kam Oberlin mit dem untersuchenden Gendarm zurück. Er, der Pfarrer, hatte die Führung; der andere trottete bärenhaft hinter ihm her.
»Du hast nun das Haus durchsucht,« sprach Oberlin mit immer gleicher Gefaßtheit. »Hier ist noch mein persönliches Schlafzimmer: willst du auch dieses sehen?«
Und der Pfarrer trat an sein Schlafgemach und öffnete ganz langsam die Türe, den Wachtmeister fest und gebietend ins Auge fassend. Dieser warf nur einen flüchtigen Blick in den sichtbaren Teil des Schlafzimmers und versetzte dann verdrießlich:
»Es genügt. Ich bitte um Entschuldigung. Es ist mir selber ärgerlich. Wir waren dem Kerl durch das ganze Weilertal auf der Spur, haben ihn aber hier im Steintal aus den Augen verloren. Nichts für ungut.«
»Du hast deine Pflicht getan,« versetzte Oberlin, geleitete ihn die Treppe hinunter zu seinem Kameraden und bot ihnen etwas zu essen an. Sie dankten; sie wären nicht hungrig; und sie stiegen auf und ritten davon.
Nun stürmten die Kinder und die Zöglinge mit Luise Scheppler fragend und aufgeregt die Treppe hinauf. Dort, in der großen Studierstube, die sich auf diese Weise mit Menschen füllte, fiel der Pfarrer ebenso wie alle Anwesenden auf die Kniee nieder und entlastete sich und seine Gäste in einem herzbewegenden Dankgebet. Der gerettete Abbé hatte die Türe des Schlafzimmers leise geöffnet: Leo kniete im Rahmen der Türe mit den Betenden. Alle waren blaß vor Erregung. Und als sie sich dann erhoben und den Abbé mit Glückwünschen umdrängten, murmelte er mit bebendem Ernst: »Diesmal noch, das nächste Mal nicht mehr.«
Oberlin war umsichtig genug gewesen, den beiden Reitern durch die Gärten hinab seinen Knecht nachzujagen; er sollte von fern erkunden, wohin sie sich entfernten. Der Knecht kam zurück und meldete, daß sie nach Fouday und von dort ohne Aufenthalt ins Tal nach Rothau hinausgeritten seien. Hitzinger hatte keine Ruhe mehr; er war aufgestört und keine Stunde länger zu halten; im Haslacher Tal, bei Nideck – sprach er – hielten sich einige verfolgte Priester auf, die müsse er besuchen. Hartmann holte Leos Knotenstock und Bündel; man versah ihn reichlich mit Speisen; und binnen kurzem war der unstete Gesell nach eindringlichem Abschied wieder auf der Wanderschaft.
»Hat denn dieser abenteuerliche Mensch,« rief Frau von Oberkirch, als er mit Oberlin und Viktor die Stube verlassen hatte, »dessen Augen mich entzücken und der von irgend einer Urrasse abstammt, nirgends eine Heimat?«
»Ich vermute, daß er die Kirche seine Heimat nennt,« versetzte Périer.
Der Pfarrer und Viktor begleiteten den Flüchtling in den Hof.
Leo strömte über von Dankbarkeit. Er sprach von jenem anderen Falle, wo er dem alten Hartmann heimliche Pflege zu verdanken hatte; er pries sein Schicksal, das ihn so oft mit guten Menschen zusammengeführt habe, wobei er zaghaft an Addy Grüße auftrug.
»Mein Bruder,« bemerkte der protestantische Pfarrer, »du hast dir durch diese heimlichen Amtierungen eine bedenkliche Bürde auferlegt. Hättest du diese Opfer und Entsagungen übernommen, um dir etwa durch fromme Werke den Himmel zu verdienen, du wärest wohl fern vom Reich Gottes. Denn Himmel und Hölle sind weder Lohn noch Strafe, sondern Anziehungen; wohin die reine oder unreine Seele sich mächtiger gezogen fühlt, da ist ihr Ort, ihr Zustand, ihre natürliche Heimat. Du aber tust deine Werke, weil du dich mächtig gezogen fühlst vom Reinen. Aus dieser Liebe heraus dienst du deiner Kirche. Was auch dein Schicksal sein möge, sei gesegnet um dieser Liebe willen, mein tapferer Bruder!«
Und Oberlin schloß den Priester in die Arme. Viktor tat dasselbe. Und so verließ der Abbé das evangelische Pfarrhaus.
»Viktor,« sprach Oberlin, als sie in das Haus zurückschritten, »ich wollte diesem gläubigen Gemüt nicht wehe tun. Sonst hätt' ich ihm ohne Umschweife bekennen müssen: hör einmal, mein Lieber, ich billige nicht den Standpunkt deiner Bischöfe. Welch ein System von Verstellung, von Unwahrhaftigkeit, von Heimlichkeit wird durch diesen Kampf gegen die Regierung gezüchtet! Wie manche Familie hat in Lebensgefahr geschwebt! Wie mancher mußte sein Haupt lassen, weil sich ungeschworene Priester bei ihm verborgen hielten! Ist es wirklich der Mühe wert, solche Gewissenskonflikte zwischen Geistlichkeit und Regierung heraufzubeschwören? Und wird nicht durch Erregung der Leidenschaften und des Fanatismus mehr gesündigt, als wenn das Reich Gottes groß und still, von diesen politischen Dingen unberührbar, seine Herzensarbeit fortsetzte, so gut es eben geht? ... Die Revolution ist freilich ein häßlich Werk, das ist wahr. Aber auch die Scheuer- und Putzarbeit am Samstag ist ein häßlich Werk. Da wird Wasser ausgegossen, Staub ausgeklopft, geputzt, gefegt, gebürstet – der Hausherr entsetzt sich. Aber der Sonntag kommt, es glänzt alles blank und frisch, und ist vielleicht besser, als es am Freitag war.«
Der Abbé, der sich mit solchen oder ähnlichen Gedankengängen nie belastet hatte, sondern seine Kraft in dienendem Gehorsam verbrauchte, schritt unterdessen zur Perhöhe hinan. Oben im Sommerwind und Ginsterduft wandte er sich nach links und verschwand im Walde von Solbach.