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An der elsässischen Ebene glühte der Sommer; an den Bergen kochte der Wein. Die Zeit schien still zu stehen. Manchmal nur machte sich weit draußen ein Wind auf; dann zog eine weiße Staubsäule aus einer fernen Straße dahin; aber sie verschwand bald auf den bestäubten Wiesen. Und die alte Sommerstille brannte wieder auf die heiße Ebene.
Das schattige Besitztum der Frau Frank befand sich am nördlichen Rande des Hügelstädtchens Barr.
Um den Garten sonnten sich die Weinberge. Durch eine Baumlücke konnte man die Burg Andlau über dem Hügelrücken erspähen. Kloster Odilienberg und die nähere Ruine Landsberg waren nicht sichtbar. Wald und Reben schoben sich dazwischen.
Der nicht allzu große, aber mit gebauschten Wipfeln und schweren Fruchtästen ebenso wie mit Buschwerk, Blumen und Küchenkräutern wohlgefüllte Garten ließ in der Mitte eine grünschimmernde Rasenfläche frei.
Auf dem geschorenen Grün stand ein Liegestuhl. Darin schlief ein Mädchen. Ihr Gesicht war mit einem feinen Gazegewebe überschleiert, ihr Körper mit einer farbigen Decke zugehüllt. Auf dem Rasen daneben reckte sich ein zweites Mädchen vor einem Buch, stützte den Kopf in beide Hände und las.
Im Hintergrund des ansteigenden Gartens ging Frau Frank mit Viktor Hartmann unter Bäumen auf und ab und ließ sich von Kolmar erzählen. Die Stimmen klangen nicht laut. Auch aus dem schmalen Hof, wo der Kutscher Lederzeug flickte, kam nur ein unmerklich Geräusch. Es dehnte sich ein Hund auf dem warmen Kies; Tauben spielten auf dem Dache der Kutscherwohnung. Und groß und kühl lag das alte Haus. Wer durch den rötlichen Steinbogen jenes fast immer geschlossenen Tores in diese Stille eingetreten war, der spürte gelinderen Hauch im Wesen der Menschen und in der eigenen Seele. Denn sanfter floh hier der Sommerwind durch das kaum bewegte Laub.
»Ans Ufer geworfen von den Schlammwellen der Revolution,« sprach Viktor, »so liegt dort das liebe Kind. Ich kann Ihnen nicht sagen, Frau Frank, wie sehr mir dies Schicksal ans Herz greift. Auch Pfeffel ist durch die Ereignisse bedrückt. Seit drei Jahren quälen ihn rheumatische Gesichtsschmerzen, die er sich auf einem Ausflug durch Erkältung geholt hat. Und die neueste Wendung der Revolution macht auch ihm Sorge. Ich selbst hab' so stark an alte Zeiten denken müssen, als ich die wohlbekannten Orte wiedersah – die Nappoltssteiner Schlösser, Ortenburg, Ramstein, Hohkönigsburg und die Türme von Kolmar – daß ich ganz die Gegenwart vergaß. Und als ich dann Addy begrüßte, hatte ich Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Ganz noch Kind wie einst – und doch, was für ein leidvoll verfeinert Gesichtchen!«
»Wissen Sie, was Leonie sagte, als wir nach der Begrüßung wieder allein waren? »Mama, sie sieht so katholisch aus.« – »Wie meinst du das, Kind?« – »So wie die Madonna drinnen auf dem alten Wandbild.« – »Nun, die hast du ja immer so gern gehabt?« – »Ich hab' auch Addy gern.« – Das Kind hat recht. Es ist etwas so Frommes in Addys Gesicht, etwas, was über die Welt hinausweist. Was für unergründliche meergraue Augen hat das Mädchen! Und was für ein überraschendes Lächeln, nicht wahr, plötzlich mitten in all den Ernst! Gestern hab' ich sie auf die Arme genommen und ins Bett getragen – ach, sie wiegt so leicht! Und da konnt' ich mich nicht enthalten: wie sie so die Arme um meinen Hals schlang und vertrauensvoll die Kinderaugen zu mir aufschlug – ich hab' sie geherzt und geküßt wie ein Wickelkind. Das liebe Geschöpf!«
Viktor hatte so viel Innigkeit in seiner immer so sicher beherrschten Nachbarin gar nicht vermutet. Er war dankbar bewegt.
»Wie mich das freut, Frau Frank, daß Sie sich so des Mädchens annehmen!« rief er erleichtert aus. »Ich war etwas bange, ob es auch einen Akkord zwischen Ihnen, Leonie und Addy geben würde.«
»Ich vielmehr habe Ihnen zu danken,« erwiderte Frau Johanna. »So wunderlich es Ihnen klingen mag, es ist dennoch Tatsache: in meinem Leben war ein wenig Stillstand eingetreten. Meine Kinder gehen ihren Weg ohne viel Mühe, unterstützt von einem gesunden Naturell; und ich habe sie so erzogen, daß ihnen Selbständigkeit etwas Natürliches ist. Aber ich selbst, die ich noch nicht weit über die Vierzig hinaus bin, fühle mich noch zu jung, um bereits Zuschauerin zu sein. Und da kommt nun dies verlassene Mädchen zu mir. Wissen Sie, wie mir zumute ist? Als wär' ich noch einmal Mutter geworden und hätte ein spät gekommenes Kind zu hegen und zu betten. Wie das beglückt, das kann nur eine Mutter nachfühlen. Alles, was an Liebe – ach, das Wort Liebe reicht da gar nicht aus! – was an Opferkraft und Hingebung in uns Frauen lebt, bricht bei solchem Anlaß aus. Man könnte sein Blut hingeben, um so ein süßes, so ein hilfloses Geschöpfchen vom Untergang zu retten.«
Die stattliche Frau, die da mit starken Hüften, kräftigem Brustbau und ungebleichtem Haar in einem weiten, mattblauen, mit schwarzen Spitzen besetzten Sommerkleid durch den Garten schritt, hatte Tränen in den Augen.
»Sie scheinen immer so ruhig, Frau Frank,« setzte Viktor mit achtungsvollem Tone das Gespräch fort. »Aber ich glaube, Sie haben doch auch Ihre stille Wunde.«
»Man spricht nicht darüber,« erwiderte sie einfach, tupfte mit dem Taschentuch zweimal über die Augen und steckte es wieder in den Busen. »Ich habe schon vor Jahren meinen Gatten verloren, noch in der Vollkraft meines Lebens. Ich hing mit ganzer Seele an ihm und war gern Mutter. Kurz vor seinem Tode hatten wir ein bildschönes fünfjähriges Mädchen an den Blattern sterben sehen. Ein Jahr zuvor meinen Bruder, einen blühenden Offizier. Schon im Anfang unserer allzu kurzen Ehe waren uns beide Eltern gestorben. Lieber Viktor, da wird man still und ernst. Die Kämpfe, die eine kräftige und gesunde Frau durchmacht, wenn sie sich mit einigen dreißig Fahren Witwe sieht, das weiß nur eine Frau, die dergleichen erlebt hat, und Gott allein. Jetzt ist's überstanden. Aber wenn ich ein so herziges Geschöpf wie diese Addy in die Arme nehme, so spüre ich, wie jenes Überwundene wieder in mir aufweint und herauswill. Ich drücke in ihr meinen Gatten ans Herz und mein totes Kind und alle ungeborenen Kinder und begrabenen Hoffnungen. Das liebe Wesen! Der Himmel hat mir's geschenkt.«
Die innig bewegte Mutter schwieg. Ihrem Begleiter war zumute, als hätte er einem Gottesdienst beigewohnt.
»Es ist in jedem tieferen Menschen ein Geheimnis verborgen,« begann Viktor nach einem Weilchen zu philosophieren. »Der eine trägt es in sich als verklärtes Leid, der andere als wertvolle Erinnerung, der dritte als geheime Liebe, religiöse Hoffnung oder dichterische Ahnung von einem höheren Zustand. Es wird wohl alles dies zusammenwirken. Dahin ziehen wir uns zurück aus der Außenwelt und stärken uns daran und unterreden uns mit den dort wohnenden reinen Mächten. Bei Ihnen bricht's jetzt als aufgesparte Mutterliebe heraus. Meine Kämpfe waren andrer Art. Sehen Sie sich einmal diesen Ring an: den hat mir mein Vater geschickt, ehe ich nach Jena ging. Entsinnen Sie sich, daß Sie ihm diesen Ring eingepackt haben?«
Frau Johanna entsann sich dessen.
»Ich habe mich sehr darüber gefreut,« fuhr Viktor fort. »Denn indem Papa Sie in seinem Briefe erwähnte, stellte sich mir eine Gedankenverbindung her, die mir stärkend war. Ich dachte an Nothau, wo ich Sie kennen gelernt habe, und dachte an Pfarrer Oberlin. So habe ich denn diesen einfachen Bergkristall einsetzen lassen, den ich einmal im Granit bei Waldersbach gefunden habe; und ließ ein Leitwort eingraben – sehen Sie, da steht es inwendig um den Ring herum.« Viktor hatte den Reif abgezogen und ihn dargereicht. Sie las: »Durch Reinheit stark.«
»Ein schönes Wort, Viktor.«
»Ein lichtes Herz, das die Sonne rein und kräftig widerspiegelt, scheint mir der schönste Besitz,« erwiderte Viktor, den Reif wieder an den Finger steckend. »Ich will den Ring meiner Braut schenken, falls ich mich einmal verloben sollte. Dieser Spruch ist noch kein Zustand, sondern vorerst nur ein Ideal. Ich bin nach Jena fortgelaufen, um dort dem Ideal näherzukommen. Doch ich weiß nicht, ob ich schon über den Berg bin.«
Frau Frank blieb stehen.
»Sie haben mir vorhin gesagt, ich hätte manches Schwere erlebt, Viktor. Das Nämliche darf ich wohl Ihnen sagen, obwohl Sie das nach außen wenig merken lassen.«
»Man spricht nicht darüber,« entgegnete er nun seinerseits mit ihren eigenen Worten. »Nur selten einmal, im Gespräch mit einem vertrauenswürdigen Menschen, freut man sich, festzustellen, daß auch andere gelitten und gekämpft, geirrt und gesühnt haben.«
»Kommen Sie,« sagte Frau Frank. »Ich höre die Mädchen. Addy ist aufgewacht.«
* * *
Als sich Frau Johanna und Hartmann dem Rasenplatz näherten und das idyllische Bildchen überschauten, wurde Viktor von einer ungewohnten und nicht schönen Empfindung flüchtig gestreift.
Der junge Albert Frank war aus dem Hause gekommen und hatte sich zu den beiden Mädchen auf den Rasen gesetzt. Der schlanke Jüngling war in bürgerlicher Kleidung; der Rock war ihm etwas zu eng und die Ärmel zu kurz, so daß der Zwanzigjährige wie ein aufgeschossener Junge von Fünfzehn aussah. Er hatte sich eben mit scherzender Galanterie auf ein Knie niedergelassen, Leonie kniete auf der andern Seite des Liegestuhls, während er nun Addys linke Hand faßte, hob Leonie die rechte – und so zogen die Geschwister das lachende Mädchen aus der liegenden Stellung in die sitzende empor. Addy schüttelte die Decke ab und stellte, auf der Seite Alberts, die Füße auf den Rasen nieder.
» Bon soir, mes amis! Me voilà!« sagte sie heiter mit der ihr eigenen zarten Sopranstimme, die sich eigenartig von Leonies ruhiger Altstimme abhob. »Da bin ich!«
»Aha, Leonie, und auf meiner Seite!« rief Albert lachend und klatschte in die Hände. »Siehst du, ich hab's gleich gesagt!«
Aber Leonie hatte sich über den Stuhl hinüber neben Addy geschwungen, schlang den Arm um die Gespielin und sagte:
»Was der sich einbildet! Er will mich wohl eifersüchtig machen, Addy? Aber das gelingt ihm nicht!«
»Nein, Leonie, das gelingt ihm nicht.«
In diesen Dreien hatte weder Eifersucht noch Liebelei Platz; sie waren einfache Naturen und unbefangene Herzen. Aber in Viktor war etwas aufgeflammt – nur einen Augenblick, aber schmerzhaft zu spüren – was mit Eifersucht peinlich benachbart war. Da saß nun dies überaus reizvolle und liebenswerte Geschöpf, verwandt in einigen Gesichtslinien, wenn auch gänzlich verschieden im Naturell, mit der Mutter. Ihre ebenmäßig bleichen Züge waren von einem leisen und feinen Rosenhauch überschimmert; die Augen dieses ovalen Gesichtchens, das von bräunlichen Ringellocken geschmückt war, schienen meist halb geschlossen und fast nach japanischer Art geschlitzt zu sein, überschattet von halbmondförmigen Augenbrauen und langen Wimpern, waren aber groß und von fremdartiger Tiefe, wenn sie weit offen waren; und so war auch das Lächeln, das von den Mundwinkeln auszustrahlen schien – jenes blitzartig hinfliegende und wieder erlöschende, das ganze Gesicht geheimnisvoll erhellende Lächeln – ein Wetterleuchten von jenseits der Berge, wo eine andere Sprache und Gemütsart üblich war, seltsame Gegenden enthüllend und wieder in magisches Dunkel senkend. Das längliche Köpfchen, mocht' es auch nicht groß sein, schien doch den langen Hals zu beugen, als wäre die Blume zu schwer für den schwankend feinen Stengel. So saß das Mädchen aus der Fremde zwischen den beiden gesunden Alemannenkindern, umflossen von einem faltigen, blaßgrünen Mousselinkleid, das um den Gürtel von einer breiten weißen Seidenschärpe zusammengehalten war. Als sich die vornehm zarte Gestalt erhob, stand sie wie eine ätherische Göttin zwischen den fest verkörperten Erdenkindern.
Viktor war aus dem Gebüsch getreten, als Albert jenen Triumphruf ausstieß. Es tat ihm weh. Schon Frau Frank hatte ihm ja soeben kund getan, wie völlig und gut Addy bei ihr aufgehoben sei. Nun war hier auch noch ein liebenswürdiger junger Mann, der ihr ein Gespiel werden konnte – und vielleicht mehr. Viktor kam sich wieder einmal überflüssig vor. Das Schicksal hatte ihm Addys Mutter versagt) er klagte nicht mehr, es muhte sein, es war alles zu wild und zu gesetzlos. Nun aber nahm man ihm auch die Tochter. Es tat ihm weh.
Las Addy mit dem Feingefühl der Kranken diese Stimmung auf seinem Gesicht ab? Sie hatte bei aller Langsamkeit ihrer Bewegungen eine gleichsam südfranzösische plötzliche Art, ganz rasch einem Einfall zu folgen und heftig, fast überstürzt französische Worte von den Lippen zu schütteln.
Sie trat auf ihn zu und hielt ihm begrüßend die Hand hin, indes vom Arm der weite Ärmel zurückfiel und das Armband bloßlegte:
»Sie machen Ihr ernstes Gesicht, Herr Hartmann? Sind Sie betrübt? Das sollen Sie nicht, Sie dürfen nicht traurig sein, nicht wahr, Sie sind nicht traurig?«
So sprudelten ihre Fragen.
»Er ist nicht traurig, Addy,« beruhigte Frau Frank lächelnd. »Ernst ist er ja immer. Das macht die viele deutsche Philosophie, die er studiert hat. Doch kommt, Kinder, nun wird Kaffee getrunken.«
Viktor hatte Addys Hand behalten und ihren Arm unter den seinen gezogen, Frau Johanna nahm sie am anderen Arm – und so schritten sie den Garten hinan in die Laube, wo bereits der Tisch gedeckt stand. Leonie in ihrem weißen, mit schwarzen Sammetbändern besetzten Sommerkleid war über den Rasen hin vorausgelaufen, um bei Tisch zu bedienen. Ihre Art und Anmut entfaltete sich nicht in der Ruhe, wie es bei Addy der Fall war, sondern in der geschäftig zugreifenden, nie überhastenden, lautlos sicheren Bewegung der Arbeit. Da kam denn Rhythmus in ihre etwas eckigen Formen, in ihre Hände, mit denen sie bei unbeschäftigtem Stillsitzen nicht viel anzufangen wußte; mit hausfraulicher Sicherheit handhabte sie die Kanne und wanderte, sorgsam einschenkend, um den Tisch herum, während die Mutter für »Prinzessin Addy« ein Kissen in den Lehnstuhl schob.
»Es gehört Talent dazu, mit Geschmack und Haltung von anderen bedient zu werden,« dachte Hartmann im stillen. »Addy hat dieses Talent. Sie kann mit Blicken danken und mit einer leisen Geste Höflichkeiten sagen. And wenn sie sich einmal unauffällig hinüberbeugt und ihrer mütterlichen Wohltäterin die Hand küßt, so verrät sich in dieser Bewegung allein schon eine jahrhundertalte Kultur.«
So saßen sie beisammen und bildeten eine idyllische Welt für sich.
Hartmann bezeugte kein Bedürfnis, aus diesem Gartenidyll nach Straßburg zurückzukehren. Das Unterrichtswesen war in die Brüche gegangen; Politik und Krieg verschlangen alles; er setzte sein Studium privatim fort und wartete auf bessere Zeit. Manchmal hallten Nachrichten aus der Außenwelt in den heiligen Hain dieser schöngestimmten Menschen, die ihren Sommeraufenthalt recht lang in den Herbst hinein zu verlängern gesonnen waren. Der Maire Goepp vom benachbarten Heiligenstein oder der Friedensrichter Kuhn aus Epfig waren Freunde des Hauses und trugen gelegentlich Neuigkeiten heran. Im übrigen blieb man in Stube und Garten, am Klavier und im Bücherzimmer; und wenn man ausging, so wanderte man durch die Weinberge bis zu den Hagebutten des Waldes empor, der die Höhen krönt und von wo die Burgen Andlau und Spesburg nebst den südlichen Vogesen sichtbar werden. Addy galt, selbst bei den Kutschersleuten, als »Besuch aus Kolmar« und als »Verwandte des Hauses«. Sie sprach mit elsässischer Schattierung und französischen Brocken ein ziemlich gutes Deutsch; sie hatte manches Buch in dieser Sprache gelesen und manchen deutschen Brief in den letzten drei Jahren an ihren Freund Viktor Hartman geschrieben – aber niemals abgesandt.
Dieser Freund Viktor Hartmann hatte keine Ursache, auf jemanden eifersüchtig zu sein. Stillschweigend räumten ihm die drei anderen seine offensichtlich bevorzugte Stellung bei Addy ein. Es war ihnen dies etwas Selbstverständliches. Als die Geschwister bald hernach, in einer ähnlichen Situation wie damals auf dem Rasen, scherzhaft stritten, auf welcher Seite des Stuhles Addy aufstehen würde, beteiligte sich auch Viktor an dem Spiel Und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor den Stuhl. Mit einem Male sprang das Mädchen nach vorn ab und flog in seine Arme. Aber die Bewegung war so heftig gewesen, daß ihr Herz stürmisch zu klopfen begann; sie erblaßte, und ihr Kopf sank an Viktors Schulter. And während die Geschwister, einander auslachend, mit den Decken nach der Laube vorausgingen, sagte Addy leise zu dem erschrockenen Freund: »O, wie mein Herz klopft! Fühlen Sie nur!«, Zart legte sie seine Hand an ihren jungen Busen – und er vernahm entsetzt ein heftiges Pochen.
»Das wollen wir nicht wieder tun, Addy«, sprach er besorgt. »Ich weiß auch ohne solche Proben, daß Sie meine gute Freundin sind und mich ebenso liebhaben, wie Sie die drei andren lieben, nicht wahr?«
Sie blieb stehen, schlug ihr großes Auge zu ihm auf und flüsterte innig:
»Viel lieber!«
Viktor drückte als Antwort ihren Arm fester in den seinen. Es durchströmte ihn unter diesem Blick und Wort ein unbeschreiblich Glücksgefühl, vermischt mit einer jähen Ahnung. Indem sie zur Laube schritten, kam ihm plötzlich eine intuitive Erkenntnis, die ihn zu überwältigen drohte. So hatte einst die Mutter dieses Kindes seine Hand an ihre Brust gezogen – aber in leidenschaftlichem Aufruhr, an eine vollwogend gesunde Brust, auf der ein Blutstropfen glühte, und hinter der ein nicht minder glühendes Blut nach Glück verlangte. Und an Addys auffallendes Verhalten in jenem Sommer zurückdenkend, stieg ihm mit einem Schlage die Gewißheit auf, daß in diesem Mädchen damals schon ein unendlich zartes Gefühl erwacht sei, durch das sie jetzt vollends mit ihm verbunden war. Nun war es ja nur noch ein Schritt zu der weiteren Gewißheit: daß die Mutter dies Gefühl ihrer Tochter bemerkt habe – daß sie aus diesem Grunde mit dem Kinde nach Paris entflohen sei – in den Kerker, in den Tod!
Mit Wucht fiel ihm diese Erkenntnis auf die Seele. Und in diesen Tagen, während er solche Qualen zu verarbeiten hatte, drang die Kunde von den grauenhaften Pariser Septembermorden nach Barr und warf seine Gefühlswelt vollends um. Der massive, stürmische Danton, dieser lasterhafte Mirabeau des Pöbels, hatte dort zu Paris das furchtbare Programmwort ausgegeben, daß man mit dem »terreur«, mit dem Mittel des Schreckens, die Feinde der Republik einschüchtern müsse. Man fing damit an, daß man in drei Tagen und Nächten die Gefangenen der Pariser Kerker hinschlachten ließ!
Viktor war rasend. Fieberhaft stürmte er zu den Kutschersleuten und hielt mit der Familie Frank einen geheimen Rat ab: vor Addys Ohren nichts, aber auch nichts verlauten zu lassen von der greuelvollen Schlächterei. Man hatte es schon bisher vermieden, von den Pariser Gefängnissen zu sprechen; wenn auch mancher Schatten in die Gespräche fiel, so war doch immerhin noch Hoffnung gewesen. Von jetzt ab war Hoffnung ausgeschlossen. Man erfuhr Genaueres über das wahnwitzige Blutbad. Es konnte kein Zweifel mehr sein: in einem Winkel der Abtei, zwischen Haufen von Leichnamen, lag auch die schöne, kleine, lebensprühende Marquise, von einer breiten Pike brutal durchstochen! Und an der Stelle, wo einst ein reizvoll in das Liebesspiel verwobenes Blutströpfchen geglüht hatte – klaffte nun der tödliche Blutfleck!
Adelaide war schon schlafen gegangen, als der alte Goepp das Entsetzliche erzählte. Man hatte ihr in ihrem Schlafzimmer, mit taktvoller Rücksicht auf ihre Religion, ein Weihwasserkesselchen mit einem Kruzifix angebracht. Sie pflegte jeden Morgen und Abend sich zu bekreuzigen und für ihre Mutter und Freunde zu beten. Viktor, der nach Goepps Weggang bei Frau Frank in der Dämmerung saß, hatte just vorhin einiges von diesem zarten Kindergebet vernommen und war aufs tiefste bewegt. Er verhüllte das Gesicht, er stöhnte aus Herzensgrund. Der Schein des Kaminfeuers griff empört an den weißgetäfelten Wänden empor und neigte sich wie tröstend über die zusammengebrochene Gestalt. Auch Frau Frank saß betäubt und starrte in das glühende Holz.
»Gut also!« rief endlich Viktor, sprang auf und lief hin und her. »Das war also wieder ein Phantom! Die glorreiche, liebenswürdige, ritterliche Nation der Franzosen beschmutzt sich abermals! Hat sie nicht schon eine Bartholomäusnacht in ihren Annalen zu verzeichnen?! Nun auch noch die Septembermorde! Paßt auf: jetzt kommt die Königsfamilie dran! Paßt auf: und unser Maire Dietrich endet im Blut! Und alle Edlen enden im Blut – denn in Frankreich regiert die Bestie!«
»Wir wollen von näheren Dingen sprechen, lieber Viktor«, sprach Frau Frank nach einem langen Schweigen leis und traurig. »Wir haben hier ein Mädchen unter uns, das ans Land geworfen ist aus diesen wüsten Gewässern, wie Sie einmal gesagt haben. Ich will nicht indiskret sein, Viktor. Aber es ist nun ein neuer Zustand eingetreten; Addy ist Waise und fortan mein Kind. Lassen Sie sich nun einmal ganz ruhig folgendes erzählen. Heute früh, als ich mit Albert und Leonie allein war – Addy schlief noch–, kamen wir, ich weiß nicht wie, auf den Ring zu sprechen, den Sie am Finger tragen. »Es ist mir fraglich, ob sich Hartmann jemals verheiraten wird, warf Albert hin; »er ist ein viel zu ernster Einsiedler« Drauf Leonie verwundert: »Aber das ist doch klar, daß er sich verheiraten wird! Ihr Männer seid recht blind« – »Wieso? Mit wem denn?« – »Aber doch natürlich mit Addy!« – »So, so«, sagte der Junge und schwieg. Und heute mittag, nachdem er den Vormittag verdüstert herumgelaufen, kommt Albert plötzlich zu mir und sagt mit etwas gekünstelt forscher Heiterkeit, daß sein Urlaub zu Ende sei. Lieber Viktor, es kommt mir unzart vor, diesen Punkt zu berühren. Ich hab's auch Leonie verwiesen, solche Dinge zu sprechen. Aber Sie sehen daraus, daß da irgendwo etwas Unklares oder Ungesundes oder Sentimentales steckt, nennen Sie's, wie Sie wollen. Und ich denke doch, wir wollen alle ganz klar miteinander stehen. Es ist darum gut, daß mein Junge wieder zum Regiment geht; er fing mir an, weichlich zu werden. Um eine interessante und liebenswerte Leidende wie Addy ist immer ein wenig Gefahr der Verweichlichung. Ich spreche nicht lieblos, Viktor, denn Sie wissen, was mir dies Kind ist. Aber darum möchte ich deutlich sehen, wie Sie – nun, lassen Sie mich's stracks heraussagen: wie Sie zur Mutter gestanden haben und wie Sie zu dem Kinde stehen. Ist es unzart?«
Viktor blieb stehen und schaute die mütterliche Freundin offen und entschieden an:
»Mein Entschluß ist gefaßt, liebe Frau Frank! Diese wahnsinnige Panik im jetzigen Frankreich kann ich mir nur durch die Kriegsangst erklären. Dem Herzog von Braunschweig und seinem hochmütigen, drohenden Kriegsmanifest danken wir nicht wenig von dieser schändlichen Verwirrung. Fetzt gilt es, den Feind abzuwehren und das innere Land zu entlasten. Dort an der Grenze, dort ist noch eine Möglichkeit, dem Vaterland in reiner Weise zu dienen. Albert und ich gehen gemeinsam zur Armee. Nicht zu den spielerischen Bataillonen der Nationalgarde, sondern in das Linienregiment, wo Albert seine Kameraden hat. Dieses Zusehen hier in der Stille macht wahnsinnig. Nicht lange, so brechen die Preußen und Österreicher über das Elsaß her – und wir erleben hier im Lande, hier in Barr vielleicht, dieselben Schlächtereien wie dort in Paris.«
Er ging mit heftigen Schritten durch die rötlich matte Beleuchtung des Zimmers, während Frau Frank schweigend am Kamin in ihrer Decke saß.
»Und dann«, fuhr er fort, »will ich Ihnen auch über das andre Klarheit geben. Hören Sie also: Addys Mutter hatte mich lieb; Addys Mutter hat mich mit der Bitte beehrt, ihrem Kinde ein väterlicher Beschützer zu sein. Eine Liebe, die mehr wäre als zarteste geschwisterliche Freundschaft, ist also der Tochter gegenüber völlig ausgeschlossen.«
Und sich neben die reifere Freundin auf einen Stuhl werfend, fuhr er erregt und leiser fort:
»Sie sind die erste, Frau Johanna, mit der ich über diesen Gegenstand spreche. Auch Sie muß ich um Verzeihung bitten, daß ich überhaupt unritterlich genug bin, dies zu berühren; denn es handelt sich um eine Frau und um eine Tote. Mag manches in meinem unreifen Leben Verirrung sein – nun, in Gottes Namen, ich beuge mich in Demut. Aber sagen muß ich: für mich waren manche Verirrungen entscheidende Erlebnisse, die in ihren Wirkungen dennoch schließlich Tapferes bei mir auslösten, so daß ich ohne sie nicht der Mensch wäre, der ich heute bin oder wenigstens zu werden hoffe. Im übrigen haben Sie das Wort gelesen, das hier in meinem Ring steht. Zweifeln Sie nicht daran, es ist mir damit heiliger Ernst!«
»Ich danke Ihnen, Viktor«, antwortete die Witwe. »Noch eins freilich muß ich hinzufügen: und Addy? Wir müssen da vorsichtig sein. Ein Mädchenherz, besonders unter so ungewöhnlichen Verhältnissen, träumt sich leicht in etwas hinein, was nachher schwer wieder auszuwischen ist.«
Hier aber war die sonst so taktvolle Frau zu weit gegangen. Viktor fuhr fast zornig empor.
»So lassen Sie ihr doch das bißchen Träumen! So lassen Sie ihr doch das Restchen Glück! Wollen Sie denn an dies sterbende Kind denselben Maßstab anlegen wie an ein gesundes Bürgermädchen?! Und selbst wenn mich Addy ein wenig mehr verehren sollte, selbst wenn sich Bräutliches in ihrer reinen Seele regen sollte – – o Himmel, Frau Frank, lassen Sie doch mir und lassen Sie Addy dies unvergleichlich zarte Verhältnis! Oder trauen Sie mir nicht den nötigen Takt zu? Glauben Sie mir, es ist das Reinste, was ich je erlebt habe! Und ich weiß keinen schöneren Weg der Entsühnung, als diesem Kinde innig gut sein zu dürfen bis in den Tod!« Seine vibrierende sonore Stimme drohte unter den Erschütterungen des Tages in ein grimmiges Weinen überzugeben. Man hatte sein Heiligtum angetastet.
Er verließ das Zimmer. Aber die Freundin eilte ihm nach.
»Viktor!« rief sie, mit beiden Händen seine Rechte fassend, »ich bin in meinen Sorgen um das Kind kleinlich geworden, verzeihen Sie mir! Es soll ganz so bleiben, wie es bisher war. Schöner kann es nicht sein. Ich vertraue Ihnen von ganzem Herzen. Und kein Wort mehr über diese zarten Dinge!«
Der Erregte beugte sich herab und küßte Frau Franks bürgerliche Hände. Dann lief er hinaus, um sich auf einem Spaziergang durch die traurig herandämmernde Herbstnacht zu beruhigen.
* * *
Im Spätsommer 1792 begann zu Paris das Werk der Guillotine. Von jetzt ab kam sie auf Jahre nicht mehr außer Übung. Die Konventswahlen fielen in jakobinischem Sinne aus; Frankreich wurde am 22. September zur Republik erklärt. In der Kanonade von Valmy donnerte Kellermann die schwerfällig durch unermeßliche Regengüsse watenden Preußen zurück. Speier fiel in Custines Hände.
Albert, dessen rosige Gesundheit sich rasch wieder zu frischer Natürlichkeit des Benehmens zurückgefunden hatte, war eines Morgens verschwunden, nachdem er tags zuvor durch Andeutungen Abschied genommen.
»Wenn ich zur Armee abmarschiere,« hatte er gesagt, »wird nit lang g'heult. Eines Morgens findet ihr das Nest leer, und auf dem Tisch liegt ein Zettel: Adje bisamme!«
Und so geschah es. Nur lag auf dem Tisch kein flüchtiger Zettel, sondern ein warmherziger Brief, zum Vorlesen bestimmt, mit einem besondren Papier für die Mutter allein. Frau Johanna war sehr still. »Er wird als braver Soldat seine Pflicht tun«, war alles, was sie sagte.
Dann reiste auch Viktor nach Straßburg, um seine Prüfungen abzuschließen und hernach gleichfalls in die Armee einzutreten. Aber ihm widersetzte sich der alte Hartmann mit Entschiedenheit. »Du bist Nationalgardist – das ist einstweilen genug! Exerziere du auf der Metzgerau, in der Zitadell' und auf den Wällen – und warte, bis man dich bei der Armee braucht! Ich hab' nur einen Sohn.« Viktor brach den Streit hierüber ab, nahm seine Studien und Privatstunden wieder auf, diente straff in der Bürgerwehr und bezog seine Wachen. Die andren soldatischen Gelüste ließ er sich scheinbar ausreden. Und die Professoren, die er besuchte, bestärkten ihn darin. Es fanden sich glücklicherweise ruhige Inseln inmitten der haßvollen Unruhe. In Blessigs geselligem Kränzchen ward er wieder zum Griechischen und zur Beschäftigung mit schöner Literatur ermuntert. Durch Freund Redslob fand er bei Türckheims Zugang. Hier war, unter Frau Lilis milden Augen, auch jetzt noch eine edle Geselligkeit im Schwange; man trug vor und musizierte, man sprach über Kunst und Literatur, über Politik und Religion. Künstler wie der Maler Guérin, der freilich meist zu Paris lebte, oder der Bildhauer Ohnmacht, Gelehrte wie Koch, Blessig und Haffner waren im Hause des Bankiers Türckheim beliebte Gäste.
Und sehr befreundet fühlte sich Viktor mit dem Professor Johannes Hermann, einem langen, hageren, lebhaft tätigen Naturforscher von bemerkenswerten Verdiensten, und dessen talentvollem Sohne, der soeben das medizinische Doktorexamen abgelegt hatte. Hier bei Hermann, im Naturalienkabinett, im Studium der Kräuterkunde, der Zergliederungskunst, der Chemie, auf wissenschaftlichen Exkursionen in die botanische Umgebung – hier, in so sachlicher Arbeitsstimmung, vergaß er oft gänzlich seiner persönlichen Gefühle und Gefühlchen. Und vergaß die strenge Frage, die in seinem Geiste immerdar hochaufgerichtet am Horizonte stand: die Frage nach Sinn und Geheimnis des rätselvollen Lebens überhaupt und nach der Pflicht des Grenzlandbewohners im besonderen, bei so verwirrendem Sturmwind aus Westen – die Frage nach seiner eigenen Stellungnahme zwischen politischem Zwang und seelischem Ideal.
Und doch verhehlte er sich nicht, daß ein Tieferes in ihm nach Ausdruck und Vollendung rang. Philosophie? Er wappnete sich seit Jena damit. Wissenschaft? Er hatte davon die Fülle. Kunst und Literatur? Er legte Wert auf Geschmacksbildung. Aber da war noch ein Tieferes – jenes Etwas, was vom Gedanken an das Steintal so wohltuend ausstrahlte, was ihn mit der Stille des Frankschen Hauses so wohltuend verband. War dies Tiefste dem Religiösen verwandt? Auch an religiösen Anregungen fehlte es nicht. Es war in den Kreisen um Blessig oder Türckheim eine veredelte Religiosität, wie er sie schon in Kolmar und Birkenweier geschätzt hatte. Sie legte ihren Schwerpunkt auf die Tugend; sie übte sich in Achtung vor der Kirche.
Wenn Viktor in der Thomaskirche am Sonntagmorgen neben dem Vater im Kirchenstuhl stand, indessen der steinerne Bau unter der Wucht der Orgel erzitterte, so ward er, auf die würdevollen Nachbarn um sich blickend, an die großen kirchlichen Zeiten dieser Stadt erinnert. Die grauen Köpfe, die da in feierlicher Haltung die Bänke entlang standen, hatten Ernst in ihren Mienen und Würde in ihrer Haltung; ihre Gestalten paßten zum Orgelklang und zum Dröhnen der ehernen Glocken. In diesen Elsässern war die große Tradition des bürgerlichen Christentums spürbar, es waren verkörperte Proteste gegen den Carmagnolentanz des Zeitgeistes. Und wenn Viktor Fugen von Meister Bach vernahm – feste Grundmelodie, kunstvoll umrankt von beherrschter Phantasie –, so schienen ihm die revolutionären Zeitgenossen diesem Manne gegenüber wie schwatzende Buben.
Viktor Hartmann war keine theologische Natur, kein Dogmatiker; das hatte sich während seines Theologiestudiums deutlich erwiesen. Aber sein Wesen war auf Ehrfurcht eingestellt; er brauchte Liebe; er fühlte sich nur wahrhaft lebenswarm im schöpferischen Element der gebenden und empfangenden Güte. Und das »höchste Gut« war ihm Gott.
Aber das Wirken in diesem Sinne war ihm unterbunden; denn rund herum war die Welt auf Haß gestimmt ...
* * *
Spät im Herbst, als der Garten entblättert lag, war Frau Frank mit den beiden Mädchen zögernd und ungern in die verwildernde Stadt zurückgekehrt.
Regendüstre Tage! Schon am 27. September» als zu Straßburg die soeben ausgerufene Republik mit Trommelschlag, Umzug und Illumination gefeiert werden sollte, versagte der Himmel seine Erlaubnis zur Beleuchtung des ehrwürdigen Münsters. Der alte Dom, geschaffen von gläubigen Geistern, verhielt sich dunkel und düster; Regen peitschte sein vielzackig Gestein; Weststurm pfiff durch die Lücken und Lichtungen des hochstrebenden Baues. Die Fahnen hingen in Fetzen; Trommeln und Trompeten klangen unfreudig; nur die dumpf dröhnenden Kanonen auf den nassen Wällen bedeuteten die eigentliche Feststimme, die fortan diesem ehernen Zeitalter gemäß war.
Die Bürger waren trüb und ahnungsvoll. Als man ihnen erlaubte, bei den Neuwahlen der Munizipalität frei zu wählen, also auch die Entlassenen vom 27. August wieder zu berufen, machten sie gründlich von diesem Rechte Gebrauch. Kein einziger Jakobiner kam in den Straßburger Gemeinderat. Zum Bürgermeister aber wählten sie Dietrichs Freund, den Bankier Bernhard Friedrich Türckheim, Lilis Gatten.
Dietrich hatte sich inzwischen, im Vertrauen auf sein reines Gewissen und auf ruhigere politische Lage, in Hüningen gestellt. Er wollte es verhüten, daß er auf die Emigrantenliste gesetzt und daß dadurch das Vermögen seiner Familie staatlich eingezogen wurde. Ein Offizier begleitete ihn nach Paris. Dort war man auf eine so freimütige Rückkehr nicht gefaßt; die neugewählten Gesetzgeber wußten gar nicht, warum eigentlich der frühere Maire von Straßburg angeklagt war. Aber Dietrichs Gegner, darunter der radikale Elsässer Rühl, ein Mitglied des Parlaments, trugen ein neues Anklageheft zusammen. Zum Verdruß der Jakobiner schickte man den Gefangenen nach Straßburg zurück, damit er dort gerichtet werde.
Im Gasthof zum Geist, wo sich Herder und Goethe zum erstenmal gesprochen hatten – grade gegenüber dem Nikolausstaden, wo einst sein Ahnherr Dominikus eine leidgeprüfte Seele ausgehaucht –, nimmt Dietrich vorläufige Wohnung, bis das für ihn bestimmte Gefängnis in Stand gesetzt ist. And nun bekundet sich Straßburgs Dankbarkeit. Täglich strömen Besucher aus und ein, die dem gefangenen Ex-Maire dankend die Hand zu schütteln das Bedürfnis haben, die sich nun erst recht zu ihm bekennen, die ihm Blumen bringen und dafür sorgen, daß Straßburgerinnen sein Essen bereiten, denn – man fürchtet Gift. Und der neue Maire Türckheim ist männlich genug, in seiner Eröffnungsrede auch seines Freundes zu gedenken: »Entrissen ist er aus unserer Mitte, der Unerschrockene, der unsre Ruhe und an den Rheinufern die französische Revolution gesichert hatte.«
Unter den Besuchern waren auch Hartmann und sein Vater. Sie fanden den Gefangenen in einer edlen Fassung; bei ihm war seine Gattin, die fortan seine Gefangenschaft zu teilen gesonnen war. Es wurde nur weniges gesprochen; man freute sich über die Anhänglichkeit der Straßburger. Und Frau Luise sagte wehmütig lächelnd zu Viktor: »Was für unmusikalische Zeiten, nicht wahr!«
Als sie das Haus verließen, hatten sie einen rührenden Anblick, der viel Volk zusammenrief. In langer Prozession wanderten die Waisenkinder zu dem eingetürmten Maire, um ihm zu danken für das viele Gute, das er ihnen während seiner Amtsführung erwiesen hatte. Der alte Hartmann, als er den langen Zug dieser kleinen Menschenkinder sah, wischte sich die Augen und sprach den ganzen Abend kein Wort mehr.
Aber die Jakobiner schäumten. Diese Veranstaltungen, die durchaus wieder im Geiste der Dietrichschen Epoche gehalten waren, suchten sie als eine wohlberechnete Komödie verächtlich zu machen. Gleichwohl spürten sie erbittert, daß es im Grunde elementare Ausbrüche des altreichsstädtischen Bürgergeistes waren. Sie entsandten Deputierte nach Paris; sie verlangten, hinweisend auf diese Protestkundgebungen, daß Dietrich nicht in Straßburg gerichtet werde, da hier Befangenheit oder Aufruhr zu befürchten wären, sondern in gesicherter Stadt des Innern – in Besançon, das gut jakobinisch war, in Besançon, wo Dietrichs Feind Karl von Hessen als Platzkommandant Einfluß besaß! Außerdem forderten sie neue Kommissäre, die den Straßburger Gemeinderat sichten sollten.
Es war wider alles Gesetz. Aber nicht das Gesetz herrschte, sondern die Partei. Und so wurde ihrem Wunsche willfahren.
Dietrich wird nach Besançon gebracht; seine Gattin begleitet ihn und teilt mit ihm das Gefängnis. Und es kommen nach Straßburg die neuen Kommissare Rühl, Dentzel, Couturier, die den vom Volke gewählten Gemeinderat einfach wieder absetzen.
Am 21. Januar aber donnert die Nachricht in diese aufregenden Gewaltsamkeiten hinein: sie haben den König guillotiniert! Jetzt legt es sich wie Erstarrung über die alte Stadt am Rhein. Die von den Kommissaren an Stelle der widerrechtlich abgesetzten Mitglieder neu ernannten Vertreter der Bürgerschaft weigern sich, soweit sie nicht Jakobiner sind, einer solchen Regierung zu dienen. Das bessert nichts; die Jakobiner besetzen nun auch diese Stellen mit den Ihrigen. Und an die Spitze des Gemeindewesens setzen sie, an Stelle des vornehmen Türckheim, den noch nicht fünfundzwanzigjährigen Savoyarden Monet, der kein Wort Deutsch versteht. Die Stadt Straßburg ist jakobinisch.
Ebenso werden nun auch Departements-, Finanz- und Gerichtsverwaltung mit jakobinischen Elementen besetzt. Da man nicht genug Leute zur Verfügung hat, drängen sich mitunter mehrere Ämter auf dieselbe Person zusammen. Auch der zweimal vom Volke zum öffentlichen Ankläger beim niederrheinischen Gerichtshof erwählte Bürger wird von den Pariser Bevollmächtigten fortgejagt; an seine Stelle tritt Eulogius Schneider, der frühere bischöfliche Vikar. Fünfzehn der Vornehmsten unter diesen Abgesetzten sehen sich zudem in das innere Frankreich verbannt. Türckheim selbst muß sich mit Frau Elisa und den fünf Kindern nach seinem lothringischen Gut Postorf bei Finstingen zurückziehen. Jene fünfzehn aber begeben sich zornmütig vor die Schranken des Pariser Parlements und verlangen in eindringlicher Rede, daß man sie wieder nach Straßburg zurücklasse. Dies geschieht. Im übrigen – bleibt alles, wie es die Jakobiner bestimmt haben.
Und am Ostersonntag des Jahres 1792 war es, als die Stadt Straßburg zum ersten Male mit einem Instrument bekannt gemacht wurde, das in Paris bereits seit Monaten in blutiger Tätigkeit war. An diesem Auferstehungstage errichtete man auf dem Paradeplatz, unweit vom Gasthof zum roten Hause, die Guillotine. Drei Bauernburschen aus der Gegend von Molsheim, die bei der Einberufung zum Militär Zusammenrottungen angeführt hatten, wurden enthauptet.
Die Elsässer konnten es kaum glauben. Sie strömten von Stadt und Land herbei, um sich von dem widernatürlichen Schauspiel zu überzeugen. Alle Gassen und Gäßchen, die dort münden, alle Fenster und Dachluken, die wie runde schwarze Augen auf den sonst militärisch belebten Platz zu schauen pflegen, waren mit Menschen besetzt. Langsam, unter eintönig abgehacktem Trommelgeräusch, nahte der unglückselige Zug. Voraus ritt, in blauer Uniform und roter Schärpe, Pistolen im Gürtel, den Säbel in der Hand, einen Federbusch auf dem Hut, der ehemalige Geistliche Euloglus Schneider. Dann wurden, zwischen Soldaten, die das Gerüst umstellten, die drei gebundenen Jünglinge herbeigeführt, die ersten Revolutionsopfer im Elsaß. Hinter ihnen schlich ein Trupp Mitgefangener, die zwar meist freigesprochen, aber doch noch gezwungen waren, das Schicksal der Rädelsführer aus unmittelbarer Nähe mit anzusehen. Man hatte den drei Verurteilten, um den Eindruck zu verstärken, Trauerflore um die weißen Hemdärmel und an die Mützen gebunden. Die Schlachtopfer blieben standhaft, küßten das Kruzifix und legten sich unter das Fallbeil.
Eulogius winkte, die Beilschläge dröhnten, die Trommeln fielen ein – und der Scharfrichter hob die abgehackten, bluttriefenden Häupter in die Ostersonne. Spärlich erklang, nach Pariser Vorbild, der Ruf: Es lebe die Republik!
Die Masse auf Platz und Dächern stand in eisiger Betäubung. Man hatte Adelaide den Winter über mit ausgesuchter Zartheit behütet. Hartmann erinnerte sich nicht, jemals ein so feingestimmtes Weihnachtsfest gefeiert zu haben. Tante Lina zerging in Tränen der Rührung; man sang alte deutsche Weihnachtslieder, man las das schlicht-erhabene Evangelium der Liebe. And Viktor hatte mit Frau Frank zusammen sein erfinderisches Gemüt angestrengt, um bei der Auswahl der Geschenke Nützliches mit Sinnigem zu verbinden.
Aber in den Ostertagen griff Niedrigkeit in diesen reinen Bezirk. Die Zwillinge, sonst in ihrem Hinterhof hausend, pflegten durch eine Seitentür aus und ein zu gehen, die in ein Gäßchen lief. Die Ankunft der fremden Schönheit lockte sie mehr und mehr ans Hoftor; dort lungerten sie herum, mehlbestäubt und mit aufgestülpten Hemdärmeln, um die beiden Mädchen recht nahe zu sehen und womöglich ein Späßchen zu wagen. Viktor kam rasch dahinter; dem sonst so friedfertigen Gelehrten schoß das Blut zu Kopf, und er flammte die Burschen übel an.
»Die Zwillinge werden frech«, sprach er zornig zu seinem Vater. »Schon die Blicke dieser Kerle beschmutzen. Hast du keine Augen im Kopf, Papa, und siehst nicht, wie sie jahraus, jahrein dahinten Liederlichkeiten treiben? Setz die Sippe vor die Tür!«
»Solang sie zum Hintertürchen aus und ein gehen,« knurrte der Alte, »hab' ich nichts einzuwenden. Jetzt aber wird's mir freilich auch zu scheckig. Die Alte sitzt in jedem Jakobinerklub auf der Tribüne und schimpft auf die Aristokraten. D i e ganz besonders geht mir auf die Nerven.«
Jener blutige Ostersonntag wühlte die Phantasie der niederen Seelen auf und entsetzte die vornehmeren Naturen. Alle Welt sprach von der Guillotine; die Cafés und Wirtshäuser strotzten von erregten Gästen. Und am Ostermontag, als die beiden Mädchen von einem stillen Gang nach dem Münster, wohin Leonie die kathotische Freundin zu begleiten pflegte, zurückkamen, drang die Gemeinheit auch in Addys heiligen Bezirk. Die Brüder Hitzinger, reichlich betrunken, kamen gleichzeitig mit den beiden Freundinnen am Hoftor an, und der eine rief dem vornehmen französischen Mädchen erst auf elsässisch, dann, damit sie's nur ja verstehe, in mangelhaftem, aber verständlichem Französisch zu, ob die Citoyenne das Spielzeug auf dem Paradeplatz gesehen habe? »So haben sie's deinem Papa und deiner Mama gemacht,« johlte der Tropf, »den Kopf herab! A-bas la tête! So geht's dir auch noch, Mamsell! Ça ira, ça ira, de-n-Aristokrate de Kopf »era«!«
Totenbleich kam Addy nach oben. Leonie weinte und streichelte die Freundin.
»Ist es wahr? Haben sie's so meiner Mutter gemacht?!« schrie das Kind unter durchdringendem Schluchzen und klammerte sich an Frau Frank. »Und geschieht das auch mir?«
Frau Frank erschrak auf den Tod. Sie nahm das erregte Mädchen in die Arme, hauchte ihre eigene Kraft der vom Herzkrampf geschüttelten Kranken ein, wiegte sie zärtlich und brachte endlich die erschöpft Eingeschlummerte zu Bett. Dann ging sie zum alten Hartmann hinunter und erzählte den Vorfall.
Der alte Herr hatte tagsüber geschwankt zwischen Neugier und Zorn, bis die Neugier den Sieg davongetragen hatte. Vom Fenster eines Freundes aus hatte er die Hinrichtung mit angesehen. Die Zeremonie, der abtrünnige Geistliche auf dem Gaul und der standhafte Tod dieser drei Jünglinge hatten ihn auf das kräftigste erschüttere. Er hatte sich bei Freunden leichter zu reden gesucht; aber sein ehrlich Gemüt rang umsonst nach Gleichgewicht.
Und nun kam Frau Frank. Als er die Roheit vernommen, brach das Wölfische seiner Natur mit Ungestüm heraus. In Filzschuhen und Hausrock stürmte der Alte die Treppe hinunter, traf in der Wohnstube der Bäckersleute nur den kränkelnden Alten und sein Weib und donnerte sie mit den wildesten alemannischen Flüchen an. »Am ersten Juli geht ihr Pack mir aus dem Haus! Ihr Pack, ihr Lumpenpack, ihr Bagage! Wo steckt der liederlich' Kaib?!« Er schnaubte in den Hinterhof, willens, den Schuldigen persönlich zu züchtigen; hätten die Zwillinge nicht die Türe verriegelt, es wäre wohl gar zu einem unwürdigen Faustkampf gekommen. So aber vertobte der Alte seine Wut an der Türe und ließ sich endlich von der entsetzt herbeigeeilten Schwester keuchend wieder hinausleiten. Frau Frank hatte sich zurückgezogen.
Am andern Morgen schnob die robuste Frau Hitzinger ins erste Stockwerk empor, innerlich unsicher, äußerlich dreist. Sie verlangte Rechenschaft; sie brachte persönlich die Vierteljahrsmiete und hoffte – mit der ganzen Wucht ihrer Beleibtheit auftretend, eine gewaltige Kokarde an der kecken Schneppenhaube –, Bürger Hartmann werde sie und ihre Familie um Pardon bitten. Aber sie kannte den Bürger Hartmann unvollkommen. Schon als sie ihm das Bündel Assignaten hinwarf, ward sein so wie so gerötetes Gesicht rotblau. Und nun prasselte ein wahres Schnellfeuer auf die »Jakobinerin« und die »miserable Bäckersippschaft«, die nun schon zum drittenmal mit dem schlechtesten Staatspapiergeld zahle, selber aber klingendes Geld zusammenscharre. »Da – und da! Die Hälft' davon nehm' ich nit! And am ersten Juli geht ihr mir aus dem Loch 'raus! Miserables Brot backt ihr, es ekelt einen davor, aber in den Klubs und Wirtshäusern jäschte und die rote Mütze auf den Grindkopf setze – das könnt ihr!« – ein so vernichtend Schnellfeuer, daß Frau Hitzinger unter Pulver und Rauch verschwand. Sie war dem Amerikaner nicht gewachsen.
»Dü denksch noch an unsri Assignate, Citoyen!« rief sie von unten und schwang das Papierbündel. Dann entwich sie zu ihrem kummervollen Gemahl.
Viktor erfuhr das Vorgefallene erst am Dienstag Vormittag. Er flog in Ängsten zu den Freundinnen hinauf, war aber freudig überrascht, Mutter und Tochter beim Packen und Addy zwar leidend, aber mild und müde lächelnd in ihrem Fauteuil zu finden. Sie hatte ein Blatt Papier in der Hand; Viktor erkannte seine Handschrift.
»Ich lese wieder einmal das Gedicht »Adelaide« von Matthisson,« sagte sie, »das mir Herr Pfeffel in Kolmar gesagt hat, und das Sie mir abgeschrieben haben. Bitte, lesen Sie es mir vor!« Sie empfand nach der Häßlichkeit des gestrigen Tages ein gesteigertes Bedürfnis nach Liebe.
Viktor legte den Arm um die Lehne ihres Sessels und las das klangschöne Gedicht mit gedämpfter Zartheit und seelenvollem Ausdruck:
»Einsam wandelt dein Freund im Frühlingsgartcn,
Mild vom lieblichen Zauberlicht umflossen,
Das durch wankende Blütenzweige zittert,
Adelaide!
In der spiegelnden Flut, im Schnee der Alpen,
In des sinkenden Tages Goldgewölken,
Im Gefilde der Sterne strahlt dein Bildnis,
Adelaide!
Abendlüftchen im zarten Laube flüstern,
Silberglöckchen des Mais im Grase säuseln,
Wellen rauschen und Nachtigallen flöten:
Adelaide!
Einst, o Wunder! entblüht auf meinem Grabe
Eine Blume der Asche meines Herzens;
Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen:
Adelaide!
Beide junge Menschen waren allein in der Wohnstube. Addy atmete schwer; sie kämpfte mit einem großen Verlangen und heftete ihre meergrauen Augen unablässig auf den Freund. Plötzlich legte sie beide Arme zart um seinen Hals und flüsterte innig:
»Viktor, haben Sie mich so lieb, wie in diesem Gedichte steht?«
Der Überraschte behielt seine Fassung, löste langsam ihre Arme und erwiderte gütig:
»Addy, was haben Sie mir einmal in Barr geantwortet, als ich Sie etwas Ähnliches fragte? Wissen Sie es noch?«
»Ja, ich weiß es noch.«
»Viel lieber!« Ein Wonnelaut war ihre Antwort und abermals ein ungestümes Umklammern. Er wendete das Gesicht ab; sie küßte mit kaum merklicher Berührung seinen Hals und legte das Köpfchen an seine Brust.
»Recht ruhig bleiben, nicht wahr, Addy? Unser Liebling soll gesund werden!«
»Ja!« rief sie, »gesund werden! Und übermorgen fahren wir nach Barr! Und mein Freund kommt nach, nicht wahr?«
So endeten die Ostertage des Jahres 1793.