Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Sechstes Kapitel

Abschied vom Steintal

In Oberlins Studierzimmer lagen aufgeschlagen die Bibel und Miltons »Verlorenes Paradies«.

Der Pfarrer von Waldersbach wandelte in seinem langen schwarzen Rock sinnend zwischen der Fülle der ihn umgebenden Gegenstände. Er hatte seine praktischen Arbeiten unterbrochen und sich für heute den Büchern zugewandt. Der Tag war, nach der üblichen Morgenandacht, mit Holzhacken begonnen worden, wobei sein Sohn Gottfried mit Hand angelegt hatte; dann war Latein, Griechisch und Hebräisch an die Reihe gekommen. Eine Stelle im hebräischen Text hatte ihn zu Milton geführt; der englische Dichter hinwiederum leitete hinüber zum schwedischen Seher Swedenborg. Und da stand denn der Pfarrer vor seiner Bücherei, hielt die französische Ausgabe eines Werkes von Swedenborg in Händen und unterstrich mit grüner Tinte Aussprüche dieses erleuchteten Geistes. »Die göttliche Wahrheit entströmt der göttlichen Liebe, ungefähr wie Licht und Wärme aus der natürlichen Sonne auf die Erde überfließen; die Liebe ist vergleichbar der Wärme, die Wahrheit vergleichbar dem Lichte« ... Manchmal auch stutzte er, griff abermals zur Feder und Tinte und schrieb in seiner biegsam festen, klaren Schrift an den Rand des Buches Ergänzungen oder Einwände.

Das Jahr ging in den Herbst über. Der Nachmittag war lind unter dem etwas gedämpften Sonnenlicht. Die hohen weißen Zirruswölkchen durchsetzten den Äther wie ein Archipel von kleinen Inseln eines jenseitigen Ozeans. Kaum daß gegen Abend durch den weißen Duft die rote Sonnenscheibe hindurchdrang und das Tal mit einem goldbraunen Glanz übergoß.

Solche Tage der Innerlichkeit liebte der Pfarrer zwischen den vielen geschäftigen Werktagen, die ihm auferlegt waren. Die Stimmen des Innern sind dann reiner vernehmbar. Wie die Quellen bei Nacht deutlicher rauschen, wie die Fixsterne bei Nacht sichtbar werden: so machen sich die Stimmen der Seele feiner und reiner bemerkbar, wenn um und in uns Stille die nötige Bedingung schafft. Auch breitet sich dann über das Gemüt eine gelassene Freundlichkeit. Und in diesen Bezirk treten dann ungehindert die Gedanken und Gestalten der reinen Atmosphäre, die während der finstren Gewitter-Energien gewartet haben.

An diesem Nachmittag voll verhaltener und innerlicher Leuchtkraft kamen die Gäste aus Rothau, um sich vom Pfarrhause zu verabschieden. Es waren die drei älteren Schwestern Birkheim und Demoiselle Seitz nebst der jungen Luise von Dietrich, begleitet von Augustin Périer und Fritz von Dietrich, Luisens Vetter. Zu ihnen gesellten sich nun Leonie und Viktor, die am folgenden Morgen gleichfalls von Rothau mit den Birkheims abzureisen gedachten und ihre Sachen bereits in das dortige Schloß vorausgesandt hatten.

Den Ankömmlingen schien sich die Stimmung des sonnenstillen Himmels mitgeteilt zu haben. Sie waren auf Innerlichkeit gestimmt, redeten wenig und ließen die würdige Demoiselle Seitz in ihrer gesetzten Weise das Wort führen. Oberlin räumte Bücher vom immer belegten Sofa und bat seine Gäste Platz zu nehmen und die Gedanken mit ihm weiterzudenken, die ihn zurzeit beschäftigten.

Es fügte sich dabei, zufällig oder mit etwas Nachhilfe, daß Viktor neben Leonie, Augustin neben Henriette, Fritz Dietrich neben Amalie Birkheim zu sitzen kam. Octavie und Luise setzten sich Arm in Arm zu Oberlins ältester Tochter. Demoiselle Seitz in ihrer freundlichen Würde thronte im Lehnstuhl. So bildeten sie eine kleine Gemeinde und vereinigten ihre Blicke auf den Geistlichen.

Diese empfängliche Zuhörerschaft war ihm willkommen. Sein ausdrucksvolles und menschenfreundliches Gesicht bekundete, daß sein Inneres geladen war mit Gedanken und Gefühlen. In dieser nämlichen Stube hatte sich vor kurzem jener aufregende Vorgang abgespielt, der um ein Haar zur Verhaftung eines Verfolgten geführt hätte. Jetzt lag des Abbés verbrauchter Körper irgendwo in den Waldungen am Schneeberg begraben; und auch Addy war nicht mehr im Menschenland. Die Anwesenden aber waren im Begriff, wieder hinabzuziehen aus dem Himmel dieses Hochtales in die elsässische Ebene, in die immer noch ruhelose Revolutionswelt.

»Ihr kehrt mit ein wenig Bangen in eure Welt zurück«, sprach Vater Oberlin. »Ihr seid durch die schrecklichen letzten Jahre erschüttert worden in eurem Vertrauen auf die Menschheit. Da ihr gut seid, so setztet ihr auch bei andren Güte voraus; aber ihr habt Raubtiere kennen gelernt. Da mußten denn freilich eure erschütterten Kinderherzen umlernen; und ihr habt mit Schrecken wahrgenommen, daß auf dieser Erde Engel und Teufel in derselben Menschengestalt nebeneinander und durcheinander wohnen ... Dies bedachte ich soeben, als ich in Swedenborgs Werken las, in diesen außerordentlichen Büchern, in denen ich Lichter, Belehrungen und Erkenntnisse so wunderbarer Art gefunden habe, daß ich Gott nicht genug dafür danken kann. Meine lieben Freunde, nun bitt' ich euch aber um eins: werdet nicht irre an der Liebe und Weisheit Gottes! Vielmehr untersucht einmal eure früheren Begriffe von Gott und Welt, sonderlich ihr jungen Damen, die ihr in einem holden Feenschloß wohlbehütet aufgewachsen seid – laßt mich einmal deutlich reden: untersucht einmal, ob eure Begriffe nicht vielleicht zu schöngeistig gewesen seien? Ihr habt oder hattet unter Führung unsres lieben Freundes Pfeffel einen seelenvollen Freundschaftsbund. Ihr nanntet – wenn mein Gedächtnis recht hat – unsern Augustin Périer den ›Lorbeer‹, mich die ›Zeder‹; dort sitzt ›Eglantine‹, die wilde Heckenrose, und neben Octavie die weise ›Pallas‹ Seitz. Das alles war für jene Zeit und jenes Alter wunderschön; und eure Losung: ›Vereinigt, um besser zu werden‹, gilt für alle Zeiten. Aber ihr seid aus dem Spiel in den Ernst getreten. Ihr habt nun Gelegenheit gehabt, eure Grundsätze zu bewähren und zu berichtigen. Würdet ihr irre werden an der Menschheit, so wären eure Grundsätze nicht die rechten, so wäre eure Liebe nicht im Göttlichen gegründet. Irre werden an der Menschheit und die Hände in Bitternis untätig in den Schoß legen – das würde heißen: irre werden an der Gottheit. Wie könnten wir aber irre werden an Gott, der die großen Sonnen leitet und das kleinste Kraut nicht vergißt? In uns selber sind Stoffe zu Revolutionen, wir verzweifelten oft an uns selber – aber wir rafften uns immer wieder auf und arbeiteten weiter, ›um besser zu werden‹. Darum nehmt nun, ich bitte euch, dies Wort mit hinaus: wenn ihr jemals auch nur einen einzigen Menschen kennen gelernt habt, dem ihr von Herzen gut sein könnt und den ihr achtet, so haltet um dieses einen Menschen willen euer Herz warm für die ganze Menschheit! Also noch einmal, wir wollen nicht bitter sein wegen der Greuel dieser Revolution, die ein Ungewitter war. Dies Versprechen wollen wir uns geben, wir alle, die wir in irgendeiner Form darunter gelitten haben. Nicht wahr?«

»Ja, das wollen wir!« rief der junge Franzose Périer elastisch und hell, sprang nach seiner gewohnten Weise auf und schlug die Hände zusammen. Und Pallas erhob sich und ergriff Oberlins ausgestreckte Rechte; Octavie, auf der andren Seite, ergriff des Pfarrers Linke; die andern schlossen sich an – und im Augenblick hatte sich eine Kette gebildet: – ein neuer Perlenkranz!

»Nicht verachten, sondern lieben!« rief Oberlin laut. »Dies laßt eure Losung sein draußen in einer Welt, die unter Haß und Ängsten leidet! Und wo man eure Hilfe nicht will – unbitter vorübergehen!«

Die schönen jungen Mädchen, deren Busen unter den leichten Umhüllungen wogten von schmerzvoller Erinnerung und sehnsüchtiger Hoffnung auf Besseres, waren eine Gemeinde der Zukunft. Sie reihten sich jenen stillen, warmen und schöpferischen Menschen ein, die in Frankreich, Elsaß und Deutschland von innen heraus das Werk der Erneuerung versuchten, ausgehend vom heiligen Hain des eigenen Herzens und der Familie. Sie standen hier um die Zeder Oberlin, wie einst um den Dichter Pfeffel, genannt Belisar, dem sie nach wie vor Treue hielten, der aber letzterhand nicht die eindrucksvolle Kraft der Persönlichkeit besaß, wie sie der auf den Felsen des Steintals wachsenden Zeder eigentümlich war.

Als sie die Hände wieder lösten und Platz nahmen, ergab es sich, daß Leonie und Viktor weltvergessen die ihrigen ineinander behielten, ohne daß jemand darauf achtete oder daran Anstoß nahm. Die junge Braut bewährte ihr schönes Talent des stark teilnehmenden Zuhörens; sie saß in ihrer graden Haltung, und ihre Mienen und leuchtenden Augen verrieten das innere Gedankenspiel. Auch in Viktors fein vergeistigtem Angesicht war eine Helle heraufgewachsen, die ihn jünger und heitrer erscheinen lieh als je zuvor. Es war in beiden eine innere Schönheit aufgegangen. Sie waren das erste Brautpaar in diesem Kreise, in dem sich noch andere finden sollten. Sie waren ein erstes Zukunftspaar im Sinne Oberlins.

Hatte der Hochlandspfarrer etwas von diesem verklärenden Leuchten gemerkt? Er sprach jedenfalls recht anmutig im Verlauf der weiteren Unterhaltung von einem Entwicklungsgesetz im Seelenland. »Seelen, die den Aufstieg zu Gott begonnen haben«, führte der absonderliche Mann aus, »werden vermöge der in ihnen wirkenden und wachsenden Leuchtkraft nicht etwa älter, wie es in der Körperwelt der Fall ist, sondern gleichsam jünger. Denn es ist dort nicht Zeit noch Raum, es herrscht dort der Zustand. Je reiner aber unser Tun und Denken, um so strahlender unser Geist, um so sonniger unser Herz – und siehe, darum um so jünger und um so schöner! Also voran, ihr lieben Mädchen, die ihr vereint seid, um besser zu werden! Ihr werdet mit wachsendem Erfolge nur immer schöner! Und zwar von einer Schönheit, die nie vergeht, sondern wächst, je näher ihr der göttlichen Sonne kommt, denn eure Schönheit wächst von innen heraus!«

Der manchmal drollige Augustin Périer, dem das Stillesitzen schwer fiel, klatschte mit den Fingerspitzen Beifall, blickte sich triumphierend um und rief: »Herrlich!« Man mußte unwillkürlich über ihn lächeln; er tat, als hätte er selber diese Weisheit ausgesprochen und erwarte nun, daß man ihn belobige. Die Versammelten, die bisher ihre Spannkraft und Aufmerksamkeit auf Oberlin gesammelt hatten, gaben dieser Entspannung ins Harmlose heiter nach.

Es fügte sich reizend an, daß in diesem Augenblick die Haushälterin Luise Scheppler den Kopf zur Türe hereinstreckte und mit dem freundlichsten Lächeln von der Welt zum Abendessen einlud: »Die Kartoffeln werden sonst kalt.«

Diese gefährdeten Kartoffeln mitten in hochgeistiger Unterhaltung weckten wieder ein vergnügtes Lachen. Amélie fand, Luise Scheppler, die etwas verblüfft und errötend stehen blieb, sehe geradezu goldig aus.

»Deck' die Servietten drauf, Luise,« rief Papa Oberlin etwas ärgerlich lachend, »so werden sie warm bleiben.«

Und als sie gegangen war, fuhr er fort:

»Wird sie nicht immer jünger und in ihrer Art schöner, unsre grundbrave Luise? Ihr Wesen hat eine einzige Richtung: mit allen Kräften ihres gesunden, reinen und muntren Naturells ihrem Heiland zu dienen, indem sie sich ganz ihrem Pfarrer und dessen Familie widmet. Sie ist jetzt – wartet einmal, wie lange ist sie denn bei mir?«

Er nahm das Pfarr-Register herunter.

»Mein Gedächtnis ist manchmal unscharf. Also – da haben wir's ja – Bellefosse ... Jean Georg Scheppler ... Catherine Marguerite Ahna ... sehr arme, gottesfürchtige Leute, sind einmal in ihrem Häuschen eingeschneit worden... ihr drittes Kind ist Luise, geboren am 4. November 1763, dient im Pfarrhause seit dem 16. Juni 1779, ist also nun schon seit ihrem fünfzehnten Jahre in meinem Hause.«

Er stellte das Register wieder in die Reihe.

»Ihr müßt euch das Leben in unsren armen Hütten vorstellen: von früher Kindheit an Arbeit, Armut und Krankheit. Da kommt dann die Religion wie ein Sonntagsgast aus der Höhe und sucht empfängliche Herzen. Diese Luise ist mir im Konfirmanden-Unterricht aufgefallen; ebenso meiner Frau, die sich gern von dem fröhlichen kleinen Mädchen durch die Dörfer begleiten ließ. Wir haben fünf Dörfer zu besorgen, haben bei schlechtem Wetter entsetzliche Wege zu machen und müssen oft bis an den Gürtel im Schnee waten, gepeitscht von scharfen Winden. Hierzu gehört jene Freudigkeit, die auf ewigem Grunde wächst. Und diese Spannkraft besitzt unsre Luise. Meine Frau führte Näh- und Strickschulen ein und lief von Dorf zu Dorf; dabei half dieses Mädchen. Dann kam, lebhaft befürwortet von der braven Sara Banzet, die uns früh verlassen hat, und andren dieser prachtvollen weiblichen Energien, wie sie hier im Steintal unter der Sonne der Religion aufgeblüht sind, die Idee der Kleinkinderschulen auf. Unter der Führung meiner Frau galt es, auch die ganz kleinen Kinder ihren mühsam arbeitenden Eltern abzunehmen und in zwangloser, jedoch geordneter Weise zu beschäftigen. Auch hier hat Luise mit Freudigkeit und Talent zugegriffen. Nachts und in der Frühe hat sie sich selber weitergebildet; hat mit ihrer festen, etwas groben, aber sehr deutlichen Schrift ihre Lieblingslieder in ein besondres Heft geschrieben und hat das Erlernte auch andre gelernt. Und wenn das Pfarrhaus versorgt ist, wenn Reisbrei, Mehlsuppe und Kartoffeln gekocht sind, so wirft dieses Wesen, diese einfache Dienstmagd, die Schürze ab und eilt als Conductrice durch die Dörfer, um die Kleinen zu unterrichten. Reichsgottesarbeit, nicht wahr?! Nach dem Tode meiner Frau, als ich mit den sieben Kindern allein stand, kam sie zu mir und bat, mir fortan ohne Gehalt den Haushalt leiten und die Kinder erziehen zu dürfen.«

Der Pfarrer zögerte ein wenig. Dann nahm er aus einer der säuberlich geordneten und mit Rückentitel versehenen Mappen, die mehrere Bücherbretter füllten, einen Brief.

»Liebe Freunde,« sprach er, »ich begehe keine Unzartheit, wenn ich diesem schönen Kreise einige Sätze aus dem Briefe vorlese, den mir Luise damals geschrieben hat. Hören Sie also: ›Da ich nunmehr unabhängig bin‹, schreibt sie, ›keinen Vater und also keine Verpflichtungen mehr gegen ihn habe, so ersuche ich Sie, teurer Papa, mir die Gunst nicht zu versagen, mich als Ihre Tochter anzunehmen. Ich bitte Sie, mir keinen Lohn mehr zu geben. Zur Erhaltung meines Körpers bedarf es wenig. Meine Kleider, Strümpfe und Holzschuhe werden einiges kosten, aber wenn ich etwas dergleichen bedarf, werde ich es von Ihnen verlangen, wie ein Kind es von seinem Vater begehrt.«

Der Pfarrer, der mit gedämpfter Stimme gelesen hatte, brach ab; es ging eine zarte Bewegung der Teilnahme durch die Anwesenden. Und Oberlin, der noch ein zweites Blatt in Händen hielt, fuhr fort: »Ehrlicherweise müßte ich Ihnen auch gleich einen zweiten Brief unsrer Luise vorlesen, einen Brief, der mich beschämt hat, denn ich hatte dieses Bauernmädchen unterschätzt. Da sie nämlich von mir durchaus kein Geld mehr annahm, so ließ ich es ihr durch einen guten Freund auf dem Umweg über Straßburg senden. Aber sie kam rasch dahinter und schrieb mir diesen zweiten Brief voll stolzer Würde und voll rührender Innigkeit. Aber das ist so zart, daß ich dies Papier verborgen halten will. Jenes Geld hat sie den Armen geschenkt. Und ich nahm mir die Lektion zu Herzen und erkannte, daß auch in diesen Armen und Einfachen Adelstugenden mächtig sind, meine Freunde! ... Jetzt kommt aber schnell, sonst werden die Kartoffeln kalt!«

Er hatte das Wort »Adelstugenden« mit lauter Stimme hinausgesprochen und dabei einen Rundblick über die ganze Versammlung geworfen. Es zuckte wie ein Blitz über die Gäste hin; sie ahnten den Sinn der Revolution.

Die Kartoffeln waren unter den schneeweißen Servietten warm geblieben, »wie die Herzen unter den weißen Kleidern«, scherzte Augustin, als man sich in der unteren Stube zu Tisch setzte. Die älteste Tochter stellte sich als Hausfrau dar, zerlegte, bediente, ermunterte zum Essen mit einer so natürlichen Anmut und ungekünstelten Bescheidenheit, daß die adligen jungen Damen von ihr entzückt waren. Auch sie war in ihren Gebärden und Worten keine Enthusiastin, so wenig wie ihr ruhiger Vater. Ein maßvolles Urteil, eine milde Festigkeit zeichneten überhaupt den menschlichen Bezirk aus, auf den sich Oberlins Wirkung erstreckte. Hier drängte sich dem wenig hervortretenden, nunmehr in der Stille nach dem Sturm angenehm ausruhenden Viktor ein Vergleich mit Birkenweier auf. Wie schwer hatte er dort Anschluß gefunden! Welche Neigung zu vornehmer Absonderung in damaligen Adelskreisen, in denen nur Künstler und Gelehrte von Ruf neben dem Adel als Zierden eines Salons geduldet und zur Unterhaltung herbeigezogen wurden. Und da saß man nun einträchtig um Oberlins Tisch, Adel und Bürgertum. Leonie neben Octavie, Gottfried Oberlin neben Luise von Dietrich, Henriette von Birkheim neben dem bürgerlichen Périer, dem sie einst als Gattin folgen sollte. Es wäre niemand eingefallen, hier noch einen Standesunterschied zu empfinden. Die abendlich getönte Luft verdichtete sich zu einem rosigen Glanz, der sich mit gleichmäßiger Freundlichkeit über alle verbreitete. Man achtete nicht genauer auf die Lichtquelle, sondern ließ sich wohlig die Stirnen vergolden und freute sich, wie schön die bereits von innen erstrahlenden Menschen in dieser gefälligen Beleuchtung aussahen.

Allen Kindern Oberlins, die mit zu Tische sahen, war eine fesselnde Besonderheit eigen, eine glückliche Mischung von geistiger Energie und seelischer Milde. Die Kleineren nebst zwei Pensionärinnen waren um einen Nebentisch gruppiert. Oberlin hatte immer Zöglinge oder sommerliche Besucher im Hause. Und es war ein Wunder, wie der gering besoldete, aber freilich ausgesucht sparsame Landpfarrer neben aller ausgedehnten Hilfstätigkeit noch in so weitgehendem Maße Gastfreundschaft üben konnte.

Wie gewöhnlich vor dem Essen betete Oberlin auch jetzt und flocht einige Wünsche für die scheidenden Gäste mit ein. Dann sang man gemeinsam einige Strophen, wobei Luise Scheppler mit angenehmer und tonreiner Stimme voranging. Die Melodie war einförmig; aber sie hatte etwas Beruhigendes und versetzte die Anwesenden in eine einheitliche rhythmische Stimmung. Man empfand das Zusammensein als ein Abschiedsmahl. Doch kam keine Wehmut auf; jene unbefangene Heiterkeit, die sich oben im Studierzimmer verbreitet hatte, hielt vor. Und so plauderte Oberlin von äußeren Dingen. Der Naturfreund erzählte, daß er mehr als achtzig nutzbringende Kräuter in seinen Bergen gefunden und gesammelt habe; er trank einen Tee, der aus solchen Kräutern zusammengesetzt war.

»Wir leben hier hauptsächlich von vegetarischer Kost,« sprach er, »obenan Milch und Schwarzbrot, dann Kartoffeln – unsre Steintäler Kartoffeln sind berühmt –, Hafer, Reis, Mehlpudding, Obst, Beeren. Und nicht zu vergessen Granitwasser und frische Bergluft. Unser junges Volk gedeiht dabei und ergötzt uns durch rote Backen, heitre Herzen und Lieder, die der Alltagsarbeit Schwung und Leichtigkeit geben. Nicht wahr, Kinder? Wenn's zu toll wird, so wirft mal Papa dem Übeltäter das Käppchen an den Kopf; aber das war mehr früher ... Unsere Steintäler sind zäh, wollten nicht ans Baumpflanzen; aber ich habe ihnen durch eigenes Vorangehen gezeigt, daß Obstbäume hier vorwärts kommen. Und bei der Armenunterstützung machte ich zur Bedingung, daß jeder so viel Bäume gepflanzt haben müsse, als seine Familie Köpfe zählt. Ungern griffen sie zu, als wir die Hausspinnerei einführten! Erst als meine Frau voranging, ließen auch sie sich langsam in Bewegung schieben ... Ja, ja, meine Freunde, der Pfarrdienst hier war wohl Aufopferung und ein immerwährender Frondienst. Aber das Reich Gottes ist weder Schwärmen noch schöngeistiges Genießen, sondern Wirken in Liebe und Weisheit, in Schönheit und Güte. Und ein wirkender Mensch, der einmal in dieser Aufwärtsbewegung begriffen ist, schwingt weiter und weiter, durch Äonen, bis in das Herz Gottes.«

Aber man mußte an das Scheiden denken. Die Sonne hatte sich in die westlichen Bergwaldungen niedergelassen. Die Scheidenden hatten ihre Namen in Oberlins Fremdenbuch eingetragen; und im abendlichen Glanz, der die Studierstube füllte, saß als letzter und jüngster der Franzose Augustin Périer und ergoß sein dankerfülltes Herz in begeisterte Worte.

»Ich werde« – schrieb er in Oberlins Fremdenbuch – »niemals den dreifach guten Mann vergessen, den ich in diesen Bergen bewunderte. Ich werde bis zum Grabe und jenseits des Grabes mich an den glücklichen Tag erinnern, an welchem dieses Heiligtum der Tugend für mich das Heiligtum der Freundschaft wurde. Die Erinnerung an Oberlin wird mir zur Aufmunterung im Guten und zum Schütze wider das Böse dienen. O verehrungswürdiger Oberlin, den ich liebe wie einen Freund und verehre wie einen Vater, ich preise den Himmel dafür, daß er mich Dir so nahe gebracht hat, in demselben Augenblick, wo ich mich auf ein durch Schiffbrüche furchtbares Meer wagen will. Lebe wohl, mein Freund, mein Vater! Der Segen Gottes bleibe auf Deinem Hause! Und wenn ich Dich hienieden niemals wieder sehen soll, so nimm mit jener festen Hoffnung vorlieb, daß ich Dich im Schoße jener zweiten Existenz wiedersehe, wo die selige Vereinigung aller getreuen Anbeter des guten und ewigen Herrn und Meisters stattfindet.«

Der hübsche begeisterungsfähige Jüngling war hierin eines Sinnes mit dem ernsten Elsässer Hartmann, der ihn zu der längst schon wartenden Gesellschaft herunterrief. Man brach auf. Oberlin selbst gedachte sie noch zu begleiten bis auf die Perhöhe. Die Gesellschaft, auch Leonie und Viktor, begab sich zu Fuß nach Rothau, um dort zu übernachten und in aller Frühe über Schirmeck und Mutzig nach Barr zu fahren, von wo für die Familie Birkheim nebst Périer Schloß Birkenweier leicht zu erreichen war.

Die Leute standen vor den Türen und es gab manchen Gruß und manches Händeschütteln. Der Lehrer Sebastian Scheidecker, ein vortrefflicher Mitarbeiter Oberlins, war noch rasch aufgetaucht; Catherine Scheidecker aus Fouday stand gleichfalls unten, und Viktor wurde der Abschied von ihr schwer; die kleine alte Catherine Gagnière, eine der ältesten Schulvorsteherinnen des Steintals, ließ es sich in ihrer Lebhaftigkeit nicht nehmen, ein Streckchen mit die Perhöhe hinaufzuwandern. Und als die vielen Abschiedsworte, Dankbezeugungen und all das Tücherschwenken und Händewinken vorüber war, schritt nun die Gesellschaft durch Waldersbach hinaus, den steinigen Höhenweg hinan. Als letzte standen vor dem Hoftor Luise Scheppler und Addys Pflegerin Catherine Scheidecker, erstere winkend, letztere die Augen wischend. Dann lag das Dorf dahinten.

»Die Lehr- und Wanderjahre sind zu Ende, Leonie«, sprach Viktor. »Jenseits der Perhöhe wartet das Leben.«

Die Abendröten im Elsaß sind wunderschön; die Abendröten im Steintal nicht minder. Der Rosenglanz über den duftig blaudunklen Bergen schien nun erst recht zu wachsen und die Wandernden mit himmlischen Blumen zu überstreuen. Die ostwärts weichenden Wölkchen röteten sich. Das Himmelsblau trat kraftvoll hervor, goldüberhaucht, in allen Farben schimmernd und wechselnd, vom Orangegold bis zum dunklen Purpur. Die Erde verharrte in ihrer erhabenen Ruhe. Der Bergwind schlief in irgend einer Mulde oder hob sich nur sachte einmal hinter nickenden Halmen empor. Aber der Himmel wanderte mit; Rosenwölkchen zogen den Scheidenden ins Elsaß voraus.

Während Augustin, der junge Dietrich und die Damen um die lustige alte Gagnière eine lebhafte Gruppe bildeten, schritten Oberlin und Viktor allein voraus.

»Was soll ich dir zum Abschied noch Gutes und Herzliches mitgeben, mein lieber Viktor?« fragte der Pfarrer.

»Ich habe noch eine Sorge, die mir Vater Oberlin ins Klare bringen könnte«, erwiderte Viktor.

»Wie heißt die Sorge?«

»Grenzland heißt sie.«

»Du mußt deutlicher sprechen, lieber Philosoph.«

»Nein, es ist keine Sorge mehr, ich drücke mich ungenau aus«, führte Viktor aus. »Ich möchte nur noch einmal von Papa Oberlin bestätigt hören, daß ich auf dem rechten Wege bin. Wir Elsässer wurzeln mit unsrer Stammesart, unsrer Volkssprache, unsrer besten Bildung im deutschen Geistes- und Gemütsleben. Aber staatlich gehören wir nun zu Frankreich. Ich habe für diese Nation mein Blut vergossen und gedenke ihrer Verfassung treu zu bleiben; denn ich möchte unser Grenzland nicht zwischen Österreich, Preußen oder einem Emigrantenführer zerrissen sehen. Und doch sind unsre besten Kräfte drüben in Deutschland; ich habe dort Freunde, ich habe dort Führer und große Männer und Meister gefunden. Und unsre Sprache ist deutsch wie unser Empfinden. Wie nun? Wo geht der Weg?«

Oberlin blieb stehen, legte dem jungen Freunde die Hand auf die Schulter und sagte ausdrucksvoll:

»Vom Grenzland ins Hochland.«

Dann schritt er weiter.

»Das ist es!« rief Viktor. »Eben das wollt' ich sagen und fand nicht das rechte knappe Wort. Aus dem Grenzland Galiläa kam Christus und war das Licht der Welt. Denn seine wahre Heimat war nicht Politikland, sondern Seelenland. Nicht wahr, Vater Oberlin? Ist es nicht eben dies, was Sie damals in Rothau dem Maire Dietrich dargelegt haben?«

»Eben dies«, versetzte der Pfarrer. »Die andren verwunden – heile du diese Wunden! Sei Sonntag in ihrem Werktag! Bleibe über den Leidenschaften und halte immer einen Vorrat von hochherziger Liebe bereit! Als ich hierher kam, mußte ich erst das Kauderwelsch der Steintäler in brauchbares Französisch umsetzen, um dann durch das Mittel der Sprache hindurch Fühlung zu finden mit den dahinter wohnenden Seelen. Diese aber, die Seelen, sind die Hauptsache. Unsere Muttersprache ist deutsch; ich schreibe meine Tagebücher meist in deutscher Sprache. Männer, die ich hoch verehre, gehören der deutschen Sprache an. Wir Elsässer sind nun seit Ludwigs Gewaltstreich in einer eigentümlichen Zwischenlage und Unnatur. Aber es hülfe wenig, diese realen Machtverhältnisse philosophisch aufzudecken und politisch zu bekämpfen. Seien wir praktisch! Nützen wir unsre Lage, so gut es geht, zum Wohle des Ganzen. Vor allem: der Weg nach oben und nach innen ist frei. Wird es dir im Grenzland zu eng, so suche das Hochland des Geistes und der großen Herzen! ... Sieh, Viktor, du hast mir von einem gewissen Humboldt und vom Dichter Schiller erzählt. Wenn ich dich recht verstanden habe, so deutet meine Denkart in eine ähnliche Richtung. Nur dürfte für mich, der ich im Praktischen stehe, ihre Art vielleicht zu philosophisch sein, ich weiß das nicht. Für mich ist, ebenso wie bei Swedenborg und bei der Theosophie aller Zeiten, Seelenland eine Welt der Gestalten und der Zustände, nicht der Begriffe und Ideen. Darin bin ich zu Hause; das ist meine höhere Heimat. And dann hast du mir einmal vom Kapitän Rouget de l'Isle erzählt, der das Kriegslied gedichtet hat; ihr habt, sagtest du, gesprächsweise als Zweck und Trieb der revolutionären Bewegung das Suchen nach dem Genialen erkannt. Glaube mir, Viktor: es ist auch ein Geniales, dieser dumpfen Menschheit den Weg in das Land der großen Herzen zu zeigen, worin es weder Angst noch Haß noch Tod gibt, sondern Mut und Leben, Licht und Liebe!«

Sie waren auf der Perhöhe angelangt. Nun blieben sie zwischen den wehenden Gräsern stehen, um die Gesellschaft nachkommen zu lassen. Leonie hatte sich als erste gelöst und schritt rascher; Viktor rief ihr zu, und nun standen alle drei beisammen auf dem Bergsattel, von dem sich zur Rechten und Linken das Gelände zwischen Climont und Donon ausbreitet. Sie schauten noch einmal über Waldersbach, Belmont und Bellefosse und dachten an Addy. And Viktor und seine Braut fühlten sich in edlem, gefaßtem Ernst auf der Grenzscheide zwischen den Erhabenheiten des Jenseitslandes, in dem sie Freunde besaßen, und den Anforderungen des diesseitigen Lebens, das gleichfalls durch Freundschaft verschönt war. Sie gedachten beiden die Treue zu halten.

Die andren kamen heran, lachend und unbesorgt. Catherine Gagnière hatte ihr Leben erzählt, ein Leben voll Feuer, Energie und Selbstbezwingung.

»Ich habe immer bedauert, so klein zu sein,« sagte sie. »Wär' ich ein Mann, ich wär' Soldat geworden – wie unser Papa Oberlin ja auch Soldat werden wollte. Aber Gott hat meine Lebhaftigkeit gedämpft, ich hab' in jungen Jahren einen phlegmatischen und langsamen alten Mann heiraten müssen. Oh, das war hart! Ich hab' mich an der Erde gewälzt vor Wildheit und Kummer. Aber Gott wollte mich eben durch diese Ehe erziehen. Es war der beste aller Männer; meine Lebhaftigkeit beruhigte sich indessen nur langsam durch Gebet und Nachdenken. Als er gestorben war, bezahlte ich seine Schulden und gab die Hälfte des Nachlasses seinen Erben, obwohl ich es nach unsrem Ehekontrakt nicht nötig hatte. Und dann widmete ich mich unter Papa Oberlins Leitung der Arbeit am Reich Gottes, besonders an den Kindern und den Kranken.«

Die Damen waren im Lauf des Gespräches erstaunt, wie scharf diese Frau, die nicht ohne Humor war, in alle Winkel und Kniffe des Menschenherzens Einblick bewies. Sie war über all ihren Lebenserfahrungen nicht bitter geworden, zeichnete sich vielmehr durch jenen heitren und höflichen Freimut aus, der in diesem Revier nicht selten war.

Der »Lorbeer« Périer, der einem geistreichen Wettkampf nie aus dem Wege ging, fühlte sich angereizt, ihren Betrachtungen über die Ehe zu widersprechen.

»Topp, wir wollen einmal Mann und Frau spielen!« rief die Sechzigjährige und titulierte sofort das dreimal so junge Bürschchen »mein Mann« und »mein Augustin«. Dieser ging darauf ein; der Streit flog hin und her; das junge Volk war aufs äußerste belustigt.

»Gestatte mir, liebe Frau,« rief Augustin, »dir in Erinnerung zu bringen, daß nach des Apostels Wort das Weib dem Manne gehorchen soll. Hast du etwa deine Bibel vergessen, Catherine? Wie sagt Sankt Paulus? Der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib ist vom Manne – nämlich aus unsrer Rippe seid ihr verfertigt! He, und nun?«

Aber die grauhaarige Gagnière war schlagfertig und bibelfest.

»Ganz recht, lieber Mann, das Wort steht im Korintherbrief. Aber dort heißt es weiter: wie das Weib von dem Manne, also kommt auch der Mann durch das Weib – denn auch du hast eine Mutter, mein lieber Augustin, und hättest ohne das Weib nicht den Vorzug, auf der Welt zu sein und mich hübsche kleine Person deine Frau zu nennen!«

Alles lachte über die »hübsche kleine Person« mit den Spinnwebhaaren und dem faltigen Gesichtchen. Augustin kapitulierte.

»Mit euch Steintälern läßt man sich besser auf keinen biblischen Wettkampf ein. Wie aber, wenn ich nun hartnäckig bliebe? Und wenn keins von beiden nachgäbe?«

Katharina richtete sich plötzlich aus dem Scherz zu einem hoheitvollen Ernst empor und sprach erhaben:

»Das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft. Auch das steht im Korintherbrief. And steht dort ferner geschrieben: Ist aber jemand unter euch, der Lust zu zanken hat, der wisse, daß wir solche Weise nicht haben, auch nicht die Gemeinde Gottes.«

Mit diesem ernsten Ton ging man auseinander. Oberlin gedachte noch ein Streckchen mitzuwandern; die alte Steintälerin kehrte um.

Augustin umarmte sie herzlich und mit Anmut. »Ich umarme in Ihnen das ganze Steintal und bitte Sie, im Gebete meiner zu gedenken, wenn ich in Paris weile.«

Sie versprach, ihn täglich in ihr Gebet einzuschließen, verabschiedete sich von allen und wanderte zurück in das helle Tal.

»Nur eine Bäuerin von außen, nicht wahr,« sprach Oberlin, »aber von innen eines jener Menschenkinder, die eine Krone tragen.«

Man schritt auf der Höhe des Kammes entlang. Zur Rechten öffnete sich der Blick auf das liebliche Wildersbach und darüber hinaus auf den Struthof. Die beiden Gipfel des Donon standen dunkelblau am blassen Nordhimmel. Über das Hochfeld kam der Mond.

»An diesem Felsen, von dem ich euch noch lange nachschauen kann, laßt uns Abschied nehmen«, sagte der Pfarrer. »Die Nacht wird hell werden. Ihr kommt ohne Schwierigkeit nach Rothau hinunter, und ich kehre in mein Tal zurück. Jedes an seine Arbeit – und im Herzen jedes des andren in Liebe gedenkend. Ihr habt mir manche Anregung in meine Welt gebracht, habt Dank dafür! Und seid gesegnet, meine guten Freunde!«

Er umarmte alle nacheinander mit väterlicher Freundschaft und nannte sie mit ihren Vornamen. Und sie erwiderten seine Umarmung mit Verehrung. Den Damen war das Herz schwer; sie waren plötzlich nach der lauten Heiterkeit gänzlich still geworden. Sie suchten vergeblich nach passenden Worten und stammelten nur Grüße an die Zurückgebliebenen, Danksagungen und was sonst ein empfindungsvoller Abschied an unzulänglichen Worten einzugeben pflegt. Es war, als ob sie ihre natürliche Heimat verließen und wieder in die Fremde müßten.

»So wie hier im Steintal,« begann Viktor nach einer Pause, als sie nun ohne Oberlin in der Kühle weiterschritten, »so müßten die Menschen in aller Welt miteinander leben: so in göttlicher Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit! Das wäre die rechte Republik.«

Und er blieb stehen. Die Erinnerung an alles, was er im Steintal erlebt hatte, packte ihn. Doch als er, die Hand über den Augen, nach der Höhe zurücksah, rief er laut:

»Schaut empor!«

Oberlin stand noch auf der Höhe und schaute seinen Gästen nach. Der Fels unter ihm und seine grade Gestalt hoben sich scharf, schwarz und deutlich von dem hellen Himmel ab. Hinter ihm das verblassende Abendrot; zu seiner Rechten der Vollmond.

Alle standen und prägten sich das erhabene Bild ein.

»Die Zeder!« sagte Octavie.


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