Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Siebentes Kapitel

Humboldt

Am Sigolsheimer Wäldchen erging sich die Marquise von Mably, Arm in Arm mit ihrem Töchterchen Adelaide. Die Damen gingen langsam. Die Luft des Spätsommers war mild und müde; die Farbe des Himmels herbstlich bleich; Stengel und Gräser, Stauden und Büsche am Rain neigten sich versengt und zerknittert. Wandervögel zogen nach Süden. Hinter den Bergen warteten die herbstlichen Stürme.

Beide Damen liebten es, sich in freundliche Farben zu kleiden. Die Marquise zumal hatte eine Vorliebe für stattliche Hüte mit Bändern, Straußenfedern und großen, glänzenden Agraffen; auch schätzte sie blumenbestickte, kostspielige Kleiderstoffe. Sie wußte ihr anmutiges Persönchen zu einem geschmackvollen Kunstwerkchen zu gestalten. Addy hingegen war einfacher; das Mädchen liebte perlgrau oder meergrün schimmernde Stoffe von lichtem Gewebe und ließ sich gern von feinen Gazeschleiern umfliegen. Mit ihren taubenfrommen Augen, die das ovale Gesichtchen bedeutungsvoll zierten, wandelte sie wie eine ätherische Gestalt neben der eleganten, geschmückten und parfümierten Mutter einher.

Gemächlich folgte der große Bernhardiner. Und in ziemlicher Entfernung schritt der bejahrte, gemessene, schweigsame Diener, der Tücher oder Kleider auf dem Arm trug. Auf der Landstraße aber hielt die Kutsche. Es war ein Pastellbildchen aus dem ancien régime, wie diese drei Personen am sonnenstillen Herbsthügel dahinwandelten: ruhig, vornehm und dem Tode geweiht. Ihnen begegneten auf dem hellen Feldweg zwischen vergoldeten Reben und ziehenden Sommerfäden vier schwarze Gestalten. Es waren vier katholische Geistliche. Sie hatten sich heute zu einer Besprechung über den Ernst der Zeit zusammengetan und befanden sich nun auf dem Rückweg. Voran gingen die beiden älteren Herren, die Rektoren Pougnet aus Rappoltsweiler und Dupont aus Bennweier; ihnen folgten die beiden Abbés Liechtenberger und Hitzinger.

Erst als sie ziemlich nahe waren, bemerkten sie die Marquise und ihre Tochter. In demselben Augenblick wurden vier Hüte gezogen; und die Geistlichen standen mit entblößten Häuptern ehrfürchtig vor der vornehmen Katholikin. Rektor Pougnet, der die Marquise persönlich kannte, stellte seine Amtsbrüder vor. Leichtes Neigen des Federhutes und ein Nicken der angeschmiegten Addy. Dann deutete der weltgewandte Dupont, der im Hause Birkheim ein beliebter Gast war, den Inhalt ihrer Gespräche an. Wenn das französische Parlament von der Geistlichkeit den Eid auf die Verfassung verlange, wenn man sich dort Ernennungsrechte und dergleichen anmaßen werde, die seither nur dem Bischof und dem Heiligen Vater in Rom zugestanden – was wäre da wohl zu tun?

»Nicht gehorchen!« sagte die kleine Aristokratin kurz und bestimmt, ja mit einem Ausdruck von Fanatismus. In der Pöbelherrschaft, der wir entgegengehen, ist die Kirche der einzig feste Felsen. Halten Sie aus, meine Herren! Oder ist es eine Schande, Märtyrer zu sein?«

Sie kamen in ein Gespräch, das sie ein Viertelstündchen festhielt. Die andren drei Geistlichen hatten die Hüte auf einen Wink der Marquise längst wieder aufgesetzt; nur Hitzinger stand abseits, hielt den Hut in der Hand, vergaß Zeit und Raum und schaute Addy an. Das Kind wirkte mit einem unbeschreiblichen Zauber auf ihn ein. Es war in ihm nicht der Schatten eines unreinen Gedankens; der große und kräftige junge Priester mit den sinnlichen Lippen und den feurigen schwarzen Augen stand wie in Kontemplation versunken, wie in Anschauung des Heiligen, gleich jenem vergeisterten Mönch, dem sich wenige Augenblicke zu einem Jahrhundert ausdehnten.

Dann lösten sich die beiden hellen Frauengewänder aus der dunklen Gruppe; und auch die vier schwarzen Gestalten setzten ihren Weg fort. Jetzt erst, angestoßen vom Vikar Liechtenberger, erwachte Leo Hitzinger und drückte seinen Hut wieder auf das mächtige Haupt. Auf seinem knochigen und kühnen, von Leidenschaften zerrissenen Gesicht, das von fern an seinen Landsmann Kleber oder an den wilden Parlamentarier Danton erinnerte, lag ein zartes Leuchten.

Der Dämon in ihm hatte seinen Engel gesehen.

Wenige Wochen danach erhoben sich aus dem Atlantischen Ozean die herbstlichen Regentage und wandelten in schweren, schleppenden Gewändern über die europäische Erde.

Das Schlößchen Birkenweier stand eingeregnet. Der Park der Freundschaft lag verlassen; der Sommer der Leidenschaft war verraucht wie die Feuer auf den verödeten Kartoffelfeldern. Und der luftigste Tag des Spätsommers, der Pfeiffertag von Rappoltsweiler, war in diesem Jahre ohne viel Wirkung verhallt.

Hartmann, von Rothau zurückgekehrt, stand am Fenster, wo die dunkelrote wilde Rebe die Glut der Sommersonne in sich eingesogen hatte und sich nun wehrte gegen den Beutezug des Herbstes. Er dachte durch den Trommelmarsch des Regens hindurch an das ferne Steintal.

Der Gedanke an das stille und hohe Land dort hinter den Bergen war für ihn fortan ein Lebenshalt. Dort wuchs die Zeder. In jenem Hochland war der ruhige Freund zu finden, wenn das Flachland Schuld und Verwirrung schuf.

Im Geiste sah er, irgendwo hinter den Gipfeln des Tännchel oder des Brézouard, das eng eingenebelte Tal, durchtost von gelben, rauschenden, stürzenden Herbstwassern. Die ärmlichen Leute saßen in ihren umwetterten Häuschen an Webstühlen und Strickstrümpfen. Aber der unermüdliche Seelsorger war auch jetzt, in den frühen Dämmerungen und langen Nächten, die geistige Leuchte jener glücklichen Dörfchen.

Und Viktor sann weiterhin dem Gedanken nach, wie er in den Waldungen der mittleren Vogesen hier und da Holzschlitter bewundert hatte. Diese Männer müssen mit Kraft und Gewandtheit ihre wuchtig und rasch dahingleitenden Lasten zu Tale führen, wenn sie nicht niedergerissen und überfahren werden wollen. Die Bahn besteht in festgerammten Querhölzern, über die der schwerbeladene Holzschlitten bergab saust; der Schlitter steht vorn zwischen den hochgebogenen Läufen seines Fahrzeugs, die er wie Hörner mit beiden Fäusten rechts und links gepackt hält; und nun springt er, seiner hochragenden Last voran, mit Sicherheit von Holz zu Holz, immer die Ferse an den Querbalken der Schlittenbahn einstemmend und mit dem ganzen Körper zurückwuchtend. So lenkt und beherrscht er die hinter ihm folgende Holzlast. Würde er eins dieser Querhölzer verfehlen und ausgleiten oder hinstürzen, so ginge die wuchtig dahingleitende Ladung über den gefallenen Führer hinweg.

Dies bedachte der unfertige Lebenskünstler, auf seine sommerliche Ausfahrt zurückblickend. Und er träumte durch die nassen Scheiben nach dem Landhause der Marquise hinüber...

Das weiße Landhaus auf den Hügeln von Rappoltsweiler stand mit festgeschlossenen Läden. Der Garten mit seinen überquellenden sommerlichen Syringen und Goldregen war verwaschen und verwelkt. Frau von Mably hatte Viktors Rückkehr nicht mehr abgewartet. Wenige Tage zuvor war sie mit ihrer Tochter nach Paris abgereist.

Aber er besaß von ihr einen letzten Brief.

Noch in Rothau, unter dem bedeutenden Eindruck jener Unterredung mit Oberlin, hatte Viktor mit leidenschaftlicher Herzlichkeit an die Marquise geschrieben. Was an Dank und Güte, an Zerknirschung und Sorge in ihm war, strömte nun in dies Schreiben eines nur noch liebenden, nicht mehr begierigen Herzens aus. Und es gelang dieser unwiderstehlichen Beredsamkeit, eine Antwort aus der rätselhaften Frau herauszulocken. Zwar begann sie mit einem gemessenen »Je vous remercie, monsieur«; aber die kühne kleine Frau enthüllte nun in flinken, festen Sätzen, die wie geschliffener Stahl blitzten, ihre wahrhaft verzweifelte Lage: daß »der Marquis« bedenklich krank sei, infolge von Mißhandlungen, die ihm der Pariser Pöbel zugefügt; daß er sich in Paris verborgen halte und nun, da ihn seine Kreaturen verlassen, keinen Menschen habe, der ihn pflege; daß die Besitzung in der Provence gefährdet oder bereits verwüstet sei; daß für Addy ein fachmännischer Arzt ersten Ranges besorgt werden müsse, weil des Kindes Herz zu Besorgnissen Anlaß gebe – daß mithin Energie notwendig sei, um solchen Anfällen zu begegnen. Sie gedenke das zu übernehmen. Daher reise sie heut' abend nach Paris ab. Und sie schloß den Brief mit den Worten: »Ich verkenne nicht, was Sie mir in diesem Sommer gewesen sind. Es ist jetzt nicht die Stunde, darüber zu sprechen. Ich schreibe zwischen Kisten und Koffern, und draußen wartet der Kutscher. Dies aber will ich Ihnen sagen, mein Freund, und will Sie mit dem Höchsten ehren, was ich noch zu geben habe: sollte ich erliegen, sollte mein Liebstes hienieden, mein Kind Addy, schutzlos zurückbleiben – dann – ich bitte und beschwöre Sie – seien Sie meiner Addy ein väterlicher Freund und Beschützer! Sie werden einer Frau, die vor allen Dingen Mutter ist und nichts auf Erden so rein geliebt hat wie ihr Kind, diese letzte Bitte nicht versagen. Und vergessen Sie nicht über all denen, die Sie künftig lieben werden, den Sommer von 1789 und Elinor von Mably.«

Der Vereinsamte zerfloß in Tränen, als er diesen Brief las. Die Reste von Selbstsucht und Empfindlichkeit, die seine unreife Natur verunziert hatten, verbrannten auf diesen Altären der Energie und Opfergröße. Ja, sie war die Stärkere! Ja, diese Frau war genial, war großzügig. Niemand kannte sie, wie er sie kannte. Er sah sich von dieser echten Aristokratin, in der altfranzösische Tugenden aufblitzten, gedemütigt und erhoben zugleich, weil geehrt. Neben solchem elastischen Heldenmut einer opferfähigen Mutter war er in der Tat ein »Parvenü«, ein Emporkömmling. Der junge Deutsche sah nicht mehr die sinnlichen Flachheiten der Französin; er sah verklärend nur noch ihre Vorzüge und faltete die Hände in Gebeten der Fürbitte.

Viktor zitterte, wenn er bedachte, daß sich die Rücksichtslose nun den Stürmen der Revolution aussetze. Ein solches Naturell war nicht darauf angelegt, Worte zu wägen. Es liefen in jenen Tagen Einzelheiten über die neuesten Pariser Ereignisse um: man sprach vom Weiberzug nach Versailles, von wüsten Vorgängen im Schloß und Beleidigungen des Königspaares durch die Canaille; vom triumphierenden Herüberholen der königlichen Familie in die Tuilerien. Der Pöbel begann dort mitzuregieren. Im ruhigeren Elsaß aber schien sich die Neuordnung der Dinge friedlich zu vollziehen.

»Ich darf diesen qualvollen Gedanken nicht länger nachhängen«, sprach Viktor endlich zu sich selber. »Sonst wird mir dies alles zur Lebenshemmung. Ich muß mit alledem abbrechen! Ich muß fort, muß hinaus! Diese erste Ausfahrt ins Leben ist mißglückt, – also fort zu neuem Versuch! Es ist nie zu spät, Oberlin hat's gesagt. Ich habe nur meinem Vater zuliebe Theologie studiert und bin nur aus Verlegenheit Hofmeister geworden – wohlan, ich gehe wieder zur Universität und vervollkommne mich in meinen Lieblingsfächern Botanik, Naturforschung, Heilkunde, Lebensphilosophie überhaupt. Dieser Sommer war phantastisch, sündig und unnatürlich – aber er hat eine fortwirkende Erschütterung in mein vorher dumpfes Leben gebracht, so daß ich ihn nicht zu lästern vermag. Denk' ich dein, Elinor, so denk' ich an Rosengärten, an Mondnächte der Troubadours, an ritterliche Abenteuer in den Wäldern der Bretagne – an wilde, süße Poesie, von der mein stumpfer Geist vorher nichts wußte. Und doch, und doch! Gott verzeihe mir! Gott gebe mir Gelegenheit, gut zu machen, was ich nicht bereue und doch mit schwerem Herzen durchdenke. Kleine gute Addy! Ach, du gute Addy, ich will dir ein Freund sein, wie es nie einen treueren gegeben hat! Denn deine Mutter, ich ahne das, deine hinreißend süße Mammy geht in den Tod!«

Sie hatten ihm »Paul und Virginie« mitgeschickt, ein soeben erschienenes idyllisches Buch, das in jener unidylischen Zeit Aufsehen erregte. Beide, Mutter und Tochter, hatten vorn ihre Namen nebeneinander eingetragen: »ihrem Freunde Viktor Hartmann, Herbst 1789.« Er las das Buch und bezog vieles daraus auf seinen eigenen Zustand. »Alle empfindsamen und leidenden Wesen fühlen den Drang, sich in die wildesten Einöden zu flüchten, gleich als ob Felsen Wälle wären gegen das Unglück, als ob die Stille der Natur die leidigen Stürme im Innern beruhigen könnte. Allein die Vorsehung hatte der Frau de la Tour eines aufbewahrt, welches weder Reichtum noch Größe gewähren: eine Freundin«– ein lebendiges, liebendes, verstehendes Menschenherz, ja es ist das Heiligste des Erde! »Tiefe Stille herrscht in ihrem Umkreise; hier ist alles friedlich, die Luft, die Gewässer und das Licht. Kaum führt das Echo das Rauschen der Palmen an unser Ohr.« ... Alles Empfindsame, das in diesem Sohn eines empfindsamen Zeitalters lebte, entlud sich noch einmal in wehmutvollen Tränen. »O Elinor, o Addy, meine Freundinnen, die ich so liebe und die ich wieder verloren! Wenn ich wieder einmal auf die Erde kommen sollte, wie die Indier lehren, dann will ich mit euch auf das fernste Eiland Isle de France ziehen und dort am Busen der Natur schuldlos glücklich sein!«

Eine Adresse hatte Frau Elinor nicht hinterlassen; sie hatte sogar gebeten, sie nicht durch Zuschriften in ihrer Aufgabe zu stören. »Das will allein getan sein.«

Der Sommer war in jedem Sinne zu Ende ....

Viktor wusch sich die Augen und ging hinüber, um in der Kutscherwohnung nach dem kranken François zu sehen.

Seit der Weinlese bei Jebsheim lag der Kutscher im Fieber. Der Hauslehrer setzte sich zu ihm, schickte den Gärtner fort und versprach, ein Stündchen zu wachen. Es machte ihm Freude, Unglücklichen gut zu sein, auch wenn sie nicht viel taugten, wie dieser arme Bursch, der in nicht immer schönen Ausdrücken von verlorener Liebe phantasierte. Denn Katharinas Pfirsichwangen waren aus Birkenweier verschwunden und nach dem Hanauer Ländchen heimgekehrt; das heitre Mädchen hatte sich in aller Form mit dem Kutscher Hans der Frau von Mably »versprochen«; ihr Verlobter jedoch, einer wanderkühnen Sippe entstammend, war vorerst noch mit seiner Herrin nach Paris gezogen, um sich die Revolution aus der Nähe zu betrachten.

Viktor saß mit seltsam verwandten Gefühlen am Lager des Fieberkranken. Die Nußbäume rieben ihr Astwert am Moosdach der Kutscherwohnung; der Regen rieselte am Fenster und sang um die alten Wasgauburgen sein wuchtig Lied. Nun fehlte bloß noch, dachte der Krankenpfleger, daß Leo Hitzinger naß und müde aus dem erloschenen Sommer hereintrete und sich dort an die andre Seite der schmalen Bettstelle setze, um schweigend mit mir auf unsern Leidensgenossen herniederzuschauen.

Aber der Abbé war nach einem Dorf im Ried versetzt worden und trug seine Seelenstimmung an den Ufern des herbstlich brausenden, randvoll dahinschäumenden Rheinstroms entlang.

* * *

An einem Novembertage saß in Pfeffels Besuchszimmer ein vornehmer, schlanker und in seinen gesellschaftlichen Formen trotz aller Jugend sehr gehaltener und beherrschter Gast. Die Gesprächsleitung, ursprünglich von dem anregenden und liebenswürdigen Hausherrn ausgehend, wurde immer mehr von diesem Jüngling übernommen, dessen gehaltvolle Bildung im Bunde mit einer seinen Wärme des Empfindens zugleich fesselte und erhob.

Dieser durchreisende Gast zeichnete sich nachher als ein Herr Wilhelm von Humboldt, aus Tegel bei Berlin, in Pfeffels Fremdenbuch ein.

Hartmann hatte aus einem unliebsamen Anlaß in Kolmar zu tun. Sigismund, ein guter Junge, der seinen ehemaligen Erzieher Viktor liebte, gab in der Militärschule denn doch zu mancherlei Klagen Anlaß und sah gegenwärtig im Arrest. Der Hofmeister, vom Fieber des Sommers befreit, betrachtete die Wirklichkeit der Dinge nun ruhiger und schlichter, aber zugleich auch milder; konnte doch er selber ein Lied davon singen, wie leicht der Mensch in Schuld und Irrsal gerät, während er doch nur reine Liebe und ruhige Freundschaft gesucht hatte. Er sprach mit dem Baron über den Luxus in der Juristenstadt Kolmar, über den Hochmut der sogenannten » Conseillers«, der Gerichtsherren vom Appellationshof; er glaubte zu bemerken, daß etwas von diesem üppigen Auftreten auf die Bürgerschaft abfärbe; er vernahm Pfeffels bekümmerte Geständnisse, daß ihm die Erziehung grade von Söhnen nahestehender Familien oft schlecht gelinge; er entsann sich, daß ihm ein befreundeter Hofmeister, der eines Generaladvokaten Sohn erzog, geklagt hatte: »Hier behandelt man mich wie einen Lakaien, und ich bin doch als Sohn eines deutschen Hofrats Besseres gewöhnt.« Und diese Tänze, Redouten, Konzerte, Festessen, Komödien mit all dem umständlichen Kleiderprunk!

Viktor faßte die Revolution fachlicher ins Auge. In dieser großen Bewegung ereignete sich Elementares, herauswachsend aus natürlichen Bedingungen. Ein Mord, der im vorigen Winter die Stadt entsetzt hatte, tauchte wieder in seiner Erinnerung auf: der achtzehnjährige Sohn eines hohen Beamten war von einem anderen jungen Menschen erstochen worden. »Was Wunder!« sagte der Baron, der ein gesundes Urteil hatte, wenn er auch selber mit den Seinen den Ton der Welt mitmachte. »Diese jungen Leute laufen mit dem Hausschlüssel herum, ohne daß sich die Eltern um ihre nächtlichen Abenteuer bekümmern. Da gründet man denn eine Saufgesellschaft, die sie selber ›Lumpengesellschaft‹ benamsen – na, und in einer solchen durchgeschwärmten Nacht ist das Unglück passiert.«

Unter solchen ernsten Gedanken, bedrückt von der nüchternen und harten Wirklichkeit und voll von einer aufgewirbelten und unbefriedigten Sehnsucht, betrat der gute Junge in seiner gewohnten unauffälligen Stille das Pfeffelsche Haus. Und hier kam er nun mitten in ein gehaltvolles Gespräch, das seinen ermatteten Geist wunderbar beflügelte. Die Stimme dieses Herrn von Humboldt war von einer eigentümlichen Überzeugungskraft; sie setzte den Gegenstand, dem sich sein Geist zuwandte, in ein zugleich warmes und klares Licht. Auch erinnerte sie ihn an jene beiden Stimmen, die den Suchenden bisher am reinsten berührt hatten, so daß der übliche Spannungszustand, in dem er sich gegen die Menschheit befand, einem wohligen Vertrauen Platz machte: an Oberlin und jene Frau Frank, mit der er dort in Rothau einige Worte gewechselt hatte.

»Mit meinem ehemaligen Hofmeister Campe, dem Pädagogen,« erzählte Herr von Humboldt, »habe ich die französische Revolution in ihrem eigenen Lager beobachtet. Ich komme auf Umwegen von Paris. In Mainz haben wir uns getrennt; von dort bin ich über Heidelberg und Stuttgart nach Zürich gereist und habe Lavater besucht.«

»Nun, da bin ich neugierig«, rief Pfeffel mit horchend emporgezogenen Brauen. »Sie pflegen, soweit ich mich bis jetzt in Sie hineingefühlt habe, Menschen und Dinge gewissenhaft zu beobachten. Und was für Eindrücke und Erkenntnisse haben Sie mitgebracht?«

»Es ist eine weite Reise von der Berliner Aufklärung bis zum Mystiker Lavater«, versetzte der Besucher lächelnd. «Mich hat schon der Philosoph Jacobi in Pempelfort von den Einseitigkeiten der Aufklärer befreit, nicht minder Freund Forster in Mainz. Aber darum möchte ich doch, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten, nicht in die entgegengesetzte Einseitigkeit übergehen; möchte mich überhaupt von Dogmen und Parteien freihalten und mein Wesen rein und treu entwickeln. Da sind mir denn im leidenschaftlichen Paris wertvolle Erkenntnisse aufgegangen. Die Revolution wird für die europäischen Staaten sehr bedeutsam werden, das ist mir gewiß. Und Campe, ein wirklich gutmütiger, sanfter, verträglicher Mann, dabei heiter und aufgeräumt, hat denn auch in Rousseaus Sterbezimmer zu Ermenonville Tränen der Rührung geweint, hat im Gewimmel des Palais Royal mitgeschwärmt, hat auch in den Volksversammlungen und im Gebaren der Straßenbevölkerung überall die Segnungen der Revolution entdeckt. Ich aber habe immer mehr eine andre Vorstellungsart in mir wachsen gefühlt. All diese Dinge da drüben in Paris erscheinen mir belanglos gegenüber dem, was sich mir immer deutlicher als die Kardinalfrage der Menschheit offenbart hat.«

»Und diese Kardinalfrage wäre –?«

»Die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit.«

Pfeffel klatschte in die Hände.

»Herrlich, mein junger Freund! Haben Sie das Lavater erzählt?«

»Ich blieb vierzehn Tage an des »schimmernden Sees Traubengestaden«, wie Klopstock in seiner schönen Ode singt«, erwiderte der Besucher. »Ich habe den Herrn Diakonus am Petersplätzchen häufig aufgesucht. Grade von ihm, dem Gegner der flachen Aufklärung, habe ich mir ein gerechtes Bild zu machen gesucht. Aber wie ich Ihnen schon angedeutet habe: es ist doch wohl nicht ganz die Weise, die ich für mich selber brauche. Herr Lavater ist sehr moralisch, sehr enthusiastisch, sehr wohltätig; indessen kann ich mir Naturen denken, die noch etwas anderes brauchen. Wie soll ich dies andre nennen? Vielleicht Freude an der Plastik. Vielleicht Bedürfnis nach Maß und Gehaltenheit im Sinne der griechischen Kunst, wobei ich denn an Winckelmanns Schönheitslehre denke, an die edlen Formen eines Apollo von Belvedere, eines Zeus, einer Hera und Aphrodite.«

Pfeffel wiegte besinnlich den Kopf.

»Das ist mir überaus interessant. Ich spüre ordentlich, wie es in Ihnen nach etwas Neuem und Selbständigem ringt. Das würde in etlicher Beziehung über den Kreis hinausweisen, in dem ich mich selbst zu bewegen pflege, etwa zu Basel, Zürich oder Freiburg.«

Und der blinde Dichter verbreitete sich unwillkürlich und mit dem gemütlichen Behagen des Alters über seinen badischen Freundeskreis.

»Wir haben da in Heitersheim bei Freiburg einen idyllischen Garten, worin wir Freunde einen besonders lauschigen Platz den Poetenwinkel getauft haben. Er gehört meinem Freund Ittner, dem Kanzler des dortigen Malteserordens. Nichts Schöneres als ein Gespräch mit geist- und gemütvollen Freunden! Es ist das Paradies auf Erden!«

»Ja, so ist es«, stimmte Humboldt mit Wärme bei. »So wandelte Plato mit seinen Schülern am Ilissos – Plato, den ich ganz besonders liebhabe. Aber Frauen müssen dabei sein. Ich kann Ihnen nicht sagen, wieviel Gutes ich der Teilnahme edler Frauen verdanke.«

»Sehr wahr,« rief der Dichter, »was wären wir ohne die Teilnahme seiner Frauenherzen! Und da begreife ich nun in der Tat Ihr Bedenken wider die französische Revolution: ob nicht bei so viel zerstörendem Haß die Taten und Worte der Liebe außer Übung kommen und verkümmern? Wie anders da drüben in unsrem Badener Ländle! Da plaudern wir mit Ittner über griechische und römische Literatur; Ittners Tochter serviert den Damen Milch und Kaffee und den Männern etliche Flaschen aus dem Schloßkeller; da liest mir etwa der junge Dichter Hebel aus Jacobis ›Iris‹ vor; der Rat Schnetzler, Laßberg und andre unterhalten sich über irgendein gelehrtes Thema. Der Garten selbst wetteifert durch seine Gewächse mit dem Reichtum an Gedanken und Empfindungen, die in den Gesprächen blühen. Er ist voll von in- und ausländischen Pflanzen, von Feigen, Mandeln, Pfirsichen, Pflaumen und schweren Weintrauben. Der Poetenwinkel – Sie müssen sich das deutlich vorstellen – liegt am Abhang eines mit Bäumen besetzten Hügels; es ist da eine kleine Felspartie, aus natürlichem Gestein; über den Thronsitz breitet ein Holderbaum seinen undurchdringlichen Fächer aus; eine kanadische Pappel steht in der Nähe und winkt wie eine Fahnenstange weit über die Rheinebene hin. Rechter Hand befindet sich eine Pyramide aus Tuffstein, die ist mit Efeu bewachsen. Auch ein wilder Ölbaum steht daneben, dessen gelbe Blüten in silberschuppigem Kelch die ganze Umgebung mit Wohlgeruch erfüllen. Sie sehen da ferner die rote virginische Zeder, den Lebensbaum, eine karolinische breitblättrige Linde – –«

Hier unterbrach sich der Blinde lächelnd.

»Allein ich sehe, daß ich in beschreibende Kleinmalerei ausschweife. Halten wir die großen Ideen fest, zu denen Sie, Herr von Humboldt, besondere Neigung zu haben scheinen. Ich wollte nur bemerken: Gesegnet sei unsere sonnige Rheinebene! Doppelt gesegnet sei das Land, das gute und große Herzen sein eigen nennt! ... Und nun, wo standen wir denn gleich?«

»Wir sprachen,« antwortete Herr von Humboldt, »von der plastischen und geschmackvollen Bildhauerarbeit am inneren Wenschen. Ich wollte etwa dieses bemerken: so leuchtend weiß und planvoll und ebenmäßig schön wie die griechischen Marmorbilder müßte nun der innere Mensch gestaltet werden und formend in den äußeren überstrahlen. Etwas von dieser marmornen Ruhe und feinen, klaren Plastik fehlt mir in Lavaters Naturell, Diktion und Gedankenwelt. Dies sage ich jedoch von meinem persönlichen Bedürfnis aus; ich möchte nicht ungerecht erscheinen, denn ich habe z.B. Lavaters Physiognomik viel zu verdanken in Ansehung der Menschenbeobachtung. Aber ich glaube, daß ich für meine Natur eine gedrängtere Lebensform herausmeißeln muß. Verargen Sie mir diese Worte über Ihren edlen Freund, Herr Hofrat?«

»Keineswegs, mein Verehrtester! Sie sprechen da lichtvoll ein Lebensideal aus. Ich möchte sagen: es ist mein eigenes Erziehungsprogramm – und doch ist darin eine neue Nuance, ein Etwas, das von Pädagogik und Moral allein nicht gegeben werden kann, etwas, das Sie ganz richtig mit der hellenischen Kunst, mit der Plastik der Griechen in Verbindung bringen. Der Plastik stehe ich naturgemäß ein wenig ferner, da sie ganz und gar auf das Auge eingestellt ist.«

»Und dabei wissen Sie so anschaulich zu beschreiben?« versetzte Humboldt verbindlich. »War nicht auch Homer blind?«

»Ja, Homer!« entgegnete der Fabeldichter aufseufzend. »Das Geheimnis liegt leider tiefer. Homer war ein großer Dichter, Pfeffel ist ein kleiner Schriftsteller, der viele Fabeln und Epigramme zusammenreimt, Dramatisches aus dem Französischen übersetzt oder auch selber ohne Glück einiges Dramatische versucht hat, der sich in Erzählungen und andrer Prosa übt – und alles in allem für die Weltgeschichte nicht weiter von Bedeutung ist. Was ich an meinen lieben Zöglingen tun konnte, nun, das wurde mit dem Herzen getan und ist in Gottes große Chronik eingeschrieben. Aber alles bei mir und in dieser trauten elsässischen Ecke ist ein bißchen eng, mein wertester Herr. Edel, seelenvoll, gut sind diese Menschen, vornehm sind unsre Herzensfreundschaften, möge die Nachwelt uns nicht unterschätzen! Wir haben mitgewoben am Zeitgeist guter Art. Aber Neues will sich nun herausgestalten, Größeres, Weitwirkendes, was den kommenden Umwälzungen standhält als ein Bildungsideal ersten Ranges. Etwas Derartiges scheint man überall zu ahnen. Allein was Sie mir da sagen, scheint mir vorerst noch – verzeihen Sie mir diese Bemerkung – ein zu sehr aristokratisches Bildungsziel, erreichbar nur solchen Menschen, die schon durch ihre finanzielle Unabhängigkeit die Welt mit ihren Bildungsmitteln offen um sich ausgebreitet sehen. Paßt es aber auch für den schwer arbeitenden Durchschnitt?«

Humboldt schwieg achtungsvoll und erwog diesen Einwand. Und Hartmann, der gefesselt lauschte, dachte hier an seinen immer tätigen Oberlin, dessen Charakterbild gleichwohl so plastisch und ruhevoll heraustrat, an Oberlin, der bei mannigfaltiger persönlicher Bildung dennoch seine Arbeitskraft jenen geringen Wasgaudörfern widmete und bis ins kleinste hinein aufmerksam und sorgfältig seinem Tagewerk nachging.

»Erwägen Sie wohl,« fuhr Pfeffel fort, »wieviel Rauhes und Häßliches Tag für Tag loshackt auf dies arme sogenannte Marmorbild, das leider nicht in einem heiligen Hain steht, sondern fronen und schaffen muß in den herben Wirklichkeiten des Lebens! Da geht es nicht ohne Schmutzflecken, Unebenheiten und Temperamentsfehler in Wort und Werken ab. Und hier setzt nun für mich eine Kraft ein, mein lieber Herr, die unsrer verwundeten Seele nicht vom Griechentum allein gespendet werden kann. Hier steht für mich die größere und geistigere Plastik des göttlichen Heilandes, dessen Gestalt von universaler, von kosmischer Bedeutung ist. Alle Bildungsideale gehen auf ihn zurück, der weit über das heiter oberflächliche Griechentum hinausweist, wennschon auch dort ein Plato und Pindar ernste und tiefe Weisheit geprägt haben. Aber die Augen des Madonnenkindes scheinen mir tiefer zu sein als die Augen des Zeus von Olympia.«

»Es möchte in Wahrheit das Höchste sein, wenn eine zukünftige Menschheit den Berg Akropolis zu Athen und den Berg Golgatha zu Jerusalem versöhnen könnte«, bemerkte nun Viktor, einen Ausgleich versuchend. »Das Ideal wird das gleiche bleiben, wie es unser schweizerischer Nachbar Pestalozzi in seinen »Abendstunden eines Einsiedlers« geprägt hat: allgemeine Emporbildung der inneren Kräfte zu reiner Menschenweisheit.«

»Das ist es«, sprach Humboldt. »Darum beginnt die französische Revolution mir zu widerstreben: vor lauter Reformeifer verzerren diese Tribünenrhetoriker sich selbst, vernachlässigen ihr persönliches Menschentum und erfüllen sich und die Welt mit Geräusch, Chaos und widrigen Dissonanzen. Das ist keine Bildung.«

Viktor badete sich mit Wonne in dieser großgeistigen Luft. Das Gespräch wandte sich auf Winckelmanns Kunstgeschichte, in demselben Jahre 1764 erschienen wie Glucks »Orpheus«, dann auf den Wiener Musikus Haydn und die beruhigende Wirkung der Musik; man streifte die Kantsche Philosophie, wobei Humboldt Bewunderung, Pfeffel Bedenken verriet, die er erst neulich – fügte er gegen Hartmann hinzu – »unsrer gemeinsamen Freundin Immortelle« auseinandergesetzt habe.

»Immortelle? Ein schöner Name!« warf Humboldt ein.

»Es ist ein Freundes- oder Bundesname für ein Fräulein von Rathsamhausen«, erklärte Belisar.

Dies gab Veranlassung, eine niedliche Übereinstimmung festzustellen. Der Berliner Gast wußte von einem ähnlichen Bunde und Freundesbriefwechsel zu erzählen; auch einige Thüringer Damen gehörten diesem Freundschaftskreise an; die letzteren gedachte er nun vom Elsaß aus in Erfurt zu besuchen. Und indem er gleich danach im Fremdenbuch blätterte, stieß er mit einem Ausruf des Erstaunens auf die Namen Karoline und Charlotte von Lengefeld.

»Das ist ja ein anmutiges Zusammentreffen! Diese Damen sind hier durchgereist?! Eben diese sind es ja, die ich bei Fräulein von Dacheröden in Erfurt treffen werde.«

»Diese Damen besuchten mich mit ihrer Mutter im Frühling 1784«, bemerkte Pfeffel. »Sie kamen ebenso wie Sie aus Zürich von Lavater und, wenn ich nicht irre, vom Genfer See.«

Humboldt, der spätere Gatte jener Karoline von Dacheröden, erzählte sogleich von ihren freundschaftlichen Beziehungen zum Dichter Schiller, der seit Mai dieses Jahres – in demselben Monat, als zu Paris der Revolutionssturm begann – zu Jena als Professor der Geschichte auf dem Katheder stand. Man sprach von den dortigen Professoren Reinhold, dem Dolmetscher Kants, von Schütz, Paulus, Griesbach, Hufeland; Humboldt gedachte der Anregungen, die er dem Professor Heyne in Göttingen verdanke, und sprach wärmste Freundesworte von Forster in Mainz. Man berührte die Gedankenwelt Herders, die Dichtungen Schillers, besonders den »Don Carlos«, und hernach Goethes, dessen »Werther« von Pfeffel mißbilligend abgelehnt wurde. Auch Hartmann griff ein und verteidigte den »Werther«, durchbebt von persönlichen Erinnerungen; man erwähnte mit Feuer Homer und Ossian und war wunderschön im Zuge.

Plötzlich jedoch wurde die Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart gelenkt. Trommeln, Hörner und Marschgeräusch rückten durch den grauen Regentag heran.

»Kommt etwa die Militärschule von einem Ausmarsch zurück?« fragte Humboldt.

»Es scheint mir eine Abteilung der neuen Bürgergarde zu sein«, entgegnete der aufhorchende Blinde. »Da ist mein Freund Lerse so recht in seinem Element. Sie haben ihn zum Major unserer Kolmarer Nationalgarde ernannt, und er hat's angenommen, was mich eigentlich freut, denn Lerses Gesundheit macht mir Sorgen, er Überarbeitet sich leider. Ja, das Soldatentum gedeiht bei uns. Von den Mitgliedern des hohen Rates, der hier residiert, bis herab zum jüngsten Militärschüler bezieht nun jeder die Wache und sorgt für öffentliche Ordnung.«

Humboldt und Hartmann traten ans Fenster. In der Tat bog eine größere Abteilung der Kolmarer Nationalgarde, in nicht immer gleichmäßigen Umformen, vermischt mit den schlanken blauen Kolonnen der Militärschüler, in die Gasse ein. Kommandoruf – die marschierende Masse hält an, die Trommeln schweigen; Major Lerse verabschiedet sich und gibt einem andren das Kommando über die Bürgergarde. Erneuter Trommelmarsch, die Bürger marschieren weiter: und der Subdirektor nebst seinen Jünglingen, mit bespritzten Gamaschen und tüchtig durchgeregnet, rücken in den Hof der Militärschule ein.

So sah man sich denn aus hochgeistigen Regionen wieder in die rauhe Gegenwart zurückversetzt. Neben Lerse war irgendein geschmeidiger, nerviger Mann von fremdartigem Typus einhermarschiert, unter seinem karierten Plaid mit Enthusiasmus ausschreitend, trotz grauer Haare einem großen Jungen vergleichbar. Mit gelassener Eleganz marschierte dahinter ein Offizier in französischer Uniform, der gleichfalls den Übungen beigewohnt hatte. Beide Herren wurden gleich darauf angemeldet, von Major Lerse in die stille Stube eingeführt und dem Direktor nebst den Anwesenden vorgestellt. Der erstere war ein schottischer Graf aus der Landschaft Argyll, der einen verwandten Militärschüler besuchte; der andre ein Oberst aus dem inneren Frankreich. Sie brachten frischen, derben Regengeruch mit herein. Und sofort wurde nun die Unterhaltung laut, flach und gegenständlich. Man erörterte die Leistungen der Nationalgarde, die Segnungen der Revolution; man sprach vom elsässischen Adel im allgemeinen und den Straßburger Geselligkeiten im besonderen. Franz Lerse, der etwas angegriffen aussah, zog sich vorerst zurück, um sich umzukleiden.

»Man amüsiert sich brillant in Straßburg«, versicherte der Offizier. »Eh, ich kannte sie ganz gut, die Tanzmeister Sauveur, Le Pi und Le Grand! Sie leiteten gelegentlich ganz exzellente Redouten und Maskenbälle. Haben Sie mal einen Maskenball im Komödienhause am Broglieplatz mitgemacht, meine Herren? Nun, das Parterre wird in die Höhe geschraubt und mit der Bühne in gleiche Ebene gebracht: Sie sehen also da in einem Hui einen großen Festsaal, der durch Kronleuchter allerliebst beleuchtet ist. Die Damen von Stand sind natürlich maskiert, die Chapeaux mögen es nach Belieben halten. Eh, bien, ich erinnere mich einer Frau von Reich, die als Zauberin kostümiert war und aller Welt sehr witzige Dinge zu sagen wußte. Es war da ein Fräulein von Waldner, jetzt Baronin Oberkirch – sehr viel Esprit – eine Frau von Sinklaire, von Rathsamhausen, von Klinglin – Sie sehen, ich habe die Straßburger Gesellschaft in ausgezeichneter Erinnerung. Drollig war es, als in der Mitte aus einer Versenkung eine Anzahl Zuckerhüte auftauchte; es waren Masken, müssen Sie wissen, die erst unter allerlei Neckereien im Saal herumspazierten, endlich die Hüte abwarfen und sich als Leute aus den besten Ständen entdeckten. Amüsant, nicht wahr?«

Humboldt war einem feinen Genuß keineswegs abhold; aber dies Gespräch ermüdete ihn, zumal der Schotte ein halsbrechend Französisch zum besten gab. Dieser keltische Sonderling sprach zunächst von einem dichterischen Genie, das in Schottland aufgetaucht sei, einem einfachen Pächter, aber melodienreich wie der Bergwind und in Edinburg der »Löwe der Saison«. Den Namen hatte er wieder vergessen; doch glaubte er es dem Dichter Pfeffel schuldig zu sein, zunächst mit einem literarischen Gegenstande zu beginnen. Er verstand offenbar wenig von Literatur und freute sich, als dies erledigt war. Und doch war in ihm eine natürliche Poesie, ein phantastischer Zug. Er sprach wirr und ungeschult von seinen Reisen, von Stürmen der Nordsee, von Gasthöfen, Pferdewechsel, groben Postkutschern und immer wieder von Schottlands wilder Schönheit, wobei er nach jedem dritten Wort den französischen Freund nach dem Ausdruck fragte. Besonders die »highlands«, seine schottischen Hochlande, besaßen sein Herz. Und hier sprach er plötzlich in allem sprachlichen Dilettantismus einen Gedanken aus, der auch Humboldt und Hartmann aufhorchen und Pfeffel beifällig nicken ließ. In den Hochlanden – dies etwa meinte der Schotte – wohnen die Gälen oder Kelten; die Kelten sind seelenvoll, phantastisch, musikalisch; sie lieben die Freiheit und die Natur; sie sind abenteuerlich, ritterlich und suchen das Unbekannte, wie einst die Ritter der Tafelrunde. In der feisten Ebene sitzen die Angelsachsen und gründen Staaten und haben fette Höfe. So ist es überall in Europa: in den Wäldern und Bergen sitzen die Idealisten, Dichter und Musikanten, auf den fetten Höfen und in den Städten voll Gier und Genuß und Luxus lassen sich's die Realisten wohl sein. Wehe, wenn eine Nation die wilden freien Wälder und die singenden raschen Gewässer vergißt! »Erlauben Sie mir, meine Herren, Sie aufzufordern, mit mir auf die freien, stolzen, dem Himmel benachbarten highlands ein Glas zu leeren!«

Man hatte bisher über all dem Geplauder den auf dem Tische stehenden Wein kaum berührt. Nun mußte man wohl dem Schotten den Gefallen tun. Hartmann, der mit seinen ältesten Schülerinnen eifrig Englisch trieb, freute sich über des Schotten Lieblingswort »highland«, Hochland, dessen Aussprache ihn durch Lautklang an den Heiland und alles Heilende überhaupt erinnerte.

Die Unterhaltung mit dem schlecht Französisch, zur Hälfte Englisch und gar nicht Deutsch redenden Schotten war anstrengend. Und so verabschiedete sich Herr von Humboldt auf das höflichste und mit ihm Hartmann. Auch die beiden andren Herren zogen sich zurück. Lerse, der als Zivilist wieder eingetreten war, brachte die Gesellschaft ans Tor. Und Humboldt, als er sich nun mit ihm und Hartmann, nach Entfernung der beiden Fremden, allein sah, lud mit der ihm eigenen formvollen Liebenswürdigkeit die beiden Elsässer zu einem stillen Glas Wein in seinen Gasthof ein. Beide sagten zu. Und so wanderten sie in den Gasthof zum schwarzen Berg. Dort, unter dem Einfluß der bald wieder sehr lebensvollen Unterhaltung, entschloß sich Hartmann vollends, frischweg in die Weite hinauszuwandern, die sich in den heutigen Gesprächen so ermutigend aufgetan hatte. »Ich gehe nach Deutschland, ich nehme meine Studien wieder auf!« rief er entschieden. »Die Sache ist abgemacht! Ich tauge nicht zum Theologen und bin zu unfertig zum Erzieher. Ich fahre nach irgendeiner Universität, ich studiere Naturwissenschaft, Medizin und Philosophie.«

Lerse war eine sachliche Natur; er sammelte Münzen und ähnliche Gedenkzeichen der wechselnden Zeiten und Völker, spürte auch etwa alten Erdhügeln nach, wobei ihn Hartmann einmal durch Leitung der Ausgrabungen gewillig unterstützt hatte. Jetzt besah er den studentisch ausbrechenden jungen Kollegen lächelnd von der Seite.

»Wissen Sie,« sprach er, »was mir Buchhändler Neukirch oder sonst jemand hier in Kolmar neulich hinterbracht hat? Eine Philisterin habe so recht unwillig ausgerufen: »Der Lerse arbeitet zuviel, ist immer wieder unpäßlich, hat's wahrscheinlich auf der Brust – der heiratet ja doch nicht mehr, da muß man halt dem Hofmeister der Birkheims einen Wink geben, daß er eine von Pfeffels Töchtern nimmt und hernach das Institut leitet!« Na, Hartmann, neidlos unterbreit' ich Ihnen den Vorschlag. Wie nun? Haben Sie inzwischen den Götz gelesen? Wissen Sie noch, was ich Ihnen in Birkenweier empfohlen habe, worauf Sie dann an die schöne Frau von Türckheim appellierten?«

Hartmann lachte in seiner herzlichen und etwas schüchternen Art.

»Töchter hat das Land genug, z.B. Pfarrer Pabst in Ostheim oder Pfarrer Erichson in Jebsheim, da könnte man sich ja wohl mit etlicher Anstrengung in eine gesegnete Pfründe hineinheiraten. Aber Sie kennen mich genügend, Herr Hofrat, um zu wissen, daß Behaglichkeit nicht mein Ziel ist.«

»Das glaub' ich Ihnen gern,« nickte der arbeitsame Junggeselle Franz Lerse, »so wenig wie das meinige.«

»Und vor dem theologischen Spießbürgertum graut mir ganz besonders«, fuhr Viktor fort. »Ich habe in Pfarrhäusern neben mancher schöngestimmten Weihnachts-Winternacht der Liebe oft recht viel üble Laune und geistigen Stillstand gefunden. Ich sah manche Geistliche rennen und laufen, als ob Leben und Seligkeit von einer wohldotierten Pfarrstelle abhinge – – aber nach dem einen Kleinod, sich selber zu Menschen-Idealen zu erziehen, sah ich nur wenige trachten. And grade danach steht mein sehnlich Verlangen!«

»Darf ich Sie beglückwünschen, mein werter Herr?« fiel hier Wilhelm von Humboldt ein. »Ihrer hat sich Eros bemächtigt, der Gott der Liebe, den aber Plato tiefsinnig deutet als den Drang nach Vollendung. Folgen Sie dieser Sehnsucht, wandern Siel Gehen Sie nach Jena! Befriedigen Sie in Reinholds Vorlesungen über Kant dies Heimweh nach den ewigen Ideen! Lernen Sie Schiller lieben! Ich selbst werde mich vorerst zwar zum Staatsdienst nach Berlin bequemen und am Kammergericht Referendarius werden. Aber ich sehe schon den Zeitpunkt voraus, wo mir Thüringen gleichfalls wichtig werden dürfte, insofern ich mich nämlich ins Privatleben zurückzuziehen gedenke, um aller Lebensmoral erstes Gesetz zu befolgen: Bilde dich selbst! Und hernach erst das zweite: Wirke durch das, was du bist, auf andre ein!«

So entzündeten diese drei Söhne der Zeit gegenseitig ihr inneres Feuer. Die Welt ward ihnen warm und weit; machtlos rann über Kolmar der trübe Regen.

Humboldt glaubte den beiden Elsässern eine Verbindlichkeit äußern zu dürfen.

»Es ist in diesem aparten Lande,« sprach er wohlwollend und vorsichtig zugleich, »eine sehr hübsche Mischung von französischer und deutscher Art. Die Natur ist deutsch in Gegend und Menschen. Die Gesichter bieten deutsche Züge dar, und ebenso ist das Benehmen der Menschen von süddeutscher Wärme. Damit ist nun ein französisches Wesen verbunden und gleichsam darauf gepfropft. Das kann unter glücklichen Umständen – wie ich bemerkt zu haben glaube – eine sehr interessante und angenehme Mischung sein. Von einer anderen Seite betrachtet, könnte man auch vielleicht anders darüber urteilen und grade über die Vermischung das Verdammungsurteli aussprechen. Denn es ist nun leider in vielen Fällen weder echte Deutschheit noch wahres französisches Wesen. Das kann in Zukunft noch zu recht schwierigen Fragen Anlaß geben.«

Lerse wich der hier angeschnittenen Frage aus.

»Sie sollten, Herr von Humboldt,« sprach er, »unser Hanauer Ländchen kennen lernen und überhaupt den Menschenschlag und die Gebräuche im ganzen unteren Elsaß. Sie würden vollends die Empfindung haben, in einem völlig deutschen Lande zu sein. Unsere schönen Bauerndörfer dort auf den Hügeln bei Buchsweiler, nicht wahr, Hartmann, eine Pracht! Oder gehen Sie nur ins württembergische Reichenweier hinüber, kaum zwei Stunden von hier, so sind Sie mitten im deutschen Reformationszeitalter. Überhaupt: kann es eine geflicktere Karte geben als unser jetziges Elsaß? Da sind, von der Ritterschaft und den Reichsstädten abgesehen, begütert das Haus Darmstadt, Pfalz-Zweibrücken, Württemberg, Baden, der Bischof von Straßburg, das Bistum Speier, auch Leiningen, Hohenlohe – ich weiß nicht, wer noch alles! Die Suzeränität Frankreichs spürten wir bisher kaum. Was jetzt allerdings anders wird. Warum, fragt' ich mich oft, sollte sich nicht ein reifes Europa zu einem ähnlichen europäischen Völkergebilde zusammentun? Dazu kommt noch, daß wir im Elsaß in Katholiken und Protestanten zerspalten sind, wozu nun wohl noch die Emanzipation der Juden kommen wird. Was für Kämpfe um Glaubens- und Gewissensfreiheit hat dieser Boden gesehen, von den Tagen der Augsburgischen Konfession bis zu den Schwedenkriegen unter Horn und Bernhard von Weimar und den Dragonaden des vierzehnten Ludwig!«

Franz Lerse verbreitete sich in kerniger Darstellung über die Geschichte der Reformation in Kolmar, die er vor kurzem in einer besonderen Studie behandelt hatte. Er sprach markig und nervig; sein wenig schön gezeichnetes Gesicht verschönte sich unter dem Feuer von innen; er wußte die Belagerung Kolmars unter Gustav Horn, die Händel zwischen Evangelischen und Katholiken mit Anschauungskraft und nicht ohne Sarkasmus zu schildern. »Seit Luther und Lessing,« schloß er, »arbeiten wir daran, das Wesen der Gewissensfreiheit und einer edlen Toleranz herauszugestalten. Welche Beispiele von Intoleranz beflecken die Religionsgeschichte! Bilden wir charaktervolle freie Seelen heraus, so ergibt sich eine edle Bildung von selbst. Denn der charaktervolle und doch weitsichtige Mann ist in seinen Überzeugungen ruhig und gefestigt, hat also keine Angst vor den Überzeugungen andrer. Die Konfessionen sind Systeme: er läßt die Systeme achtungsvoll auf sich beruhen und trachtet vor allem danach, das Gute, das sie lehren, zu tun – auf das Tun legt er allen Nachdruck. Menschen der Leidenschaft und Erbitterung sind unfreier Pöbel; vom Mann und Christen verlang' ich Maß und Beherrschung. Ich selbst bin Protestant. Begegnet mir aber einer aus einem andren Lager und ich spüre aus seinem Wesen denselben Drang nach Emporläuterung der animalischen Menschheit zu einem humanen Menschentum – wohlan, so rufe ich diesem Mitwandrer nach der Gottesstadt Grüße zu.«

Humboldt war unter Friedrich dem Großen emporgewachsen und solchen Gedankengängen nicht fremd.

»Uns in der Mark Brandenburg,« sprach er, »ist ein freies Gewissen in Religionsdingen eine Selbstverständlichkeit. Unser großer Philosoph in Sanssouci ließ jeden nach seiner Fasson selig werden und verlangte nur eine allerdings peinliche Pflichterfüllung. Und doch scheint mir nun in Preußen auch der Pflichtbegriff eine Gefahr zu werden: schon droht nun dort der Staat eine Despotie auszubilden, wie sie hier im Süden Deutschlands und Europas von Absolutismus und Hierarchie zugleich ausgeübt ward. Ich fürchte, daß darunter die menschliche Persönlichkeit ebenso verkümmert wie unter jedem andren tyrannischen Mechanismus. Große Geister dieser letzten Jahrhunderte haben schwer um die innere Würde des Menschen gerungen – und immer wieder drohen Systeme und Methoden das Geniale in uns zu vergewaltigen. Hier, mein' ich nun, setzt Deutschlands welthistorische Mission ein; denn es ist bei uns in allen Ständen mehr Hinneigen zu Ideen und zu Idealen; und am reinsten und unmittelbarsten lebt man in den Idealen – ja, wenn es nicht zu fromm und mystisch klänge, würd' ich sagen: in Gott.«

So sprachen diese drei Männer von dem, was man damals die Ideale der Humanität nannte.

Spät erst ließ sich Hartmann sein Pferd vorführen, nahm eine Laterne unter den Reitermantel und jagte, großer Entschlüsse voll, umblitzt vom Licht und umblitzt von Gedanken, wie der wilde Jäger nach Birkenweier zurück.

* * *

Viktor Hartmann hatte sich entschieden. Hinweg von dem Abenteuer der französischen Revolution! Hinüber zu dem deutschen Abenteuer einer persönlichen Läuterung und harmonischen Steigerung aller guten Kräfte!

»Zwischen dem Steintal und dem Saaletal, das fühl' ich, wird sich fortan mein Lebensbezirk abgrenzen. Entringe dich dem Fieber der Zeit! Suche deine Seele! Bilde dich selbst!«

Dies etwa waren seine allgemeinen Erkenntnisse, mehr gefühlt als klar geschaut. Sie waren noch nicht das Tiefste, das ihm zu erleben beschieden war. Aber sie verdichteten sich zu dem Entschluß, willenskräftig an einem neuen Ende anzufangen.

Am andern Morgen, noch bevor der späte Tag durch die Gardine drang, saß der Hauslehrer bereits am Rokoko-Schreibtisch und verfertigte beim Lichte seines Lämpchens, in schlanker und fester Handschrift, ein Abschiedsgesuch an den Baron von Birkheim. Als dies mit liebevoller Sorgfalt und genauer Begründung erledigt war, schrieb er einen zweiten Brief an seinen Vater nach Straßburg. Hier wurde knapper motiviert. Der alte Herr Hartmann war ein herber und etwas trockener Charakterkopf, der als Gärtner zwischen seinen Pflanzen und Gemüsen schweigen gelernt hatte und eine wortknappe Gemütsart auch bei andren schätzte.

Birkheim, dem der Diener den Brief brachte, nahm die unangenehme Überraschung erst nicht ernst. Sein Hauslehrer, der »alte Hypochonder«, hatte schon mehrmals bei pädagogischen Mißerfolgen mit Kündigung gedroht, hatte sich aber jedesmal wieder besänftigen lassen. Diesmal aber traf der Baron auf eine heitre Entschiedenheit. Langsam zwar pflegten sich Hartmanns Erkenntnisse durchzuringen, aber sie saßen dann fest. Und seine Entschlüsse kamen meist spät, falls nicht mitunter im Jähzorn oder ähnlicher Aufwallung gefaßt, aber sie wurden dann mit Beharrlichkeit durchgeführt.

Auch der Jugend ward über ihres Lehrers Absicht das Herz schwer. Sie hatten sich doch sehr an seine Art gewöhnt und wußten ihn zu schätzen, was sie nun durch allerlei rührende Abschiedsgeschenke zum Ausdruck brachten. Die Baronin ging mit schönem Beispiel voran: sie selbst trug auf den Armen einen kostbaren Tuchstoff in Hartmanns Zimmer und bat ihn, das Kleid anzunehmen und zu ihrem Andenken zu tragen. Sigismund brachte eine Dose; die Mädchen ließen ihre Silhouetten schneiden und malten ihm allerlei zierliche Kleinigkeiten. Ihm war Henriette in ihrer einfachen Natürlichkeit besonders lieb; zu Octavie fand er nur langsam das rechte Verhältnis; er hielt das hochgewachsene, schöne und von manchem Besucher verwöhnte Mädchen noch immer für standeshochmütig und sinnlichen Eitelkeiten zugänglich. Vielleicht spielte Eifersucht mit; sie beachtete ihn vielleicht zu wenig und hielt sich lieber zu gewandten Gesellschaftsmenschen. Aber grade hier hatte er in den letzten Wochen eine angenehme Erfahrung gemacht, die ihm denn doch bewies, daß er bei seinem häufigen Subjektivismus seinen Schülerinnen nicht immer tief genug ins Herz schaute. Octavie hatte ihm ihren Entschluß mitgeteilt, von nun ab ein Tagebuch zu führen. Er hielt es erst für Mädchentändelei und achtete kaum darauf; aber aus der Wärme ihrer Worte entnahm er, daß sich das junge Mädchen ernstlich zu vertiefen bestrebt sei. Gern ging er darauf ein und ermunterte sie in ihrem Vorhaben. Es war am Vorabend ihres Geburtstages.

»Wohlan, mein gnädiges Fräulein,« sprach er zuletzt, »ich werde mir gestatten, Ihnen zum morgigen Tage ein von mir selber geheftetes und genähtes Journal von schönstem Papier zu überreichen. Mögen Sie gute Gedanken und freundliche Erlebnisse darin verzeichnen können!«

Säuberlich trennte er noch desselben Abends die wenigen beschriebenen Blätter heraus und legte sie zu den früheren Tagebuchheften. Er durchflog jenes zuletzt Geschriebene mit schmerzlichem Lächeln. «Das fruchtbare Land, das sich zwischen Rhein und Wasichengebirge gleich einem wohlbebauten Garten erstreckt ... ich bin stolz darauf, Elsässer zu sein ... Es ist zu wenig Liebe in der Welt ... Es verkehrt in unsrem Schlosse eine Frau Marquise v. M., diese sagte mir, daß mir nicht die Bücher, sondern die Liebe die Augen öffnen würde.« Und mit einem Seufzer des Dankes blieb sein Auge auf dem ernsten Satze haften, den dieser Sommer erfüllt hatte: »Ich sehne mich nach einem Freund und Führer, der mich stark und frei machen könnte.«

Das übrige Journal oder Tagebuch mit den unbeschriebenen Blättern legte er seiner Schülerin auf den Geburtstagstisch.

Und Octavie von Birkheim saß noch an demselben Abend an ihrem eleganten kleinen Schreibtisch und begann ihr Tagebuch mit folgenden Worten:

Birkenweier, 22. Oktober 1789.

»Ich bin heute achtzehn Jahre alt. Achtzehn Jahre bin ich auf der Welt, o Gott! Habe ich meine Zeit gut angewandt? Dieser Gedanke betrübt mich. Oh, wenn ich das immer bedacht hätte, ich wüßte heute mehr, als ich weiß, ich wäre besonnener, vielleicht tugendhafter.

»Höchstes Wesen, das in meiner Seele liest, vergib mir meine Sünden! Ich entsinne mich zwar keines bestimmten Verbrechens, aber vielleicht sehe ich die Dinge in zu schönem Lichte. Vielleicht nicht so, wie sie sein sollten. Ich habe recht oft gefehlt, recht oft zur Unzufriedenheit meiner Umgebung gehandelt. Gott, vergib mir!

»Ich bin kein Kind mehr, ich muß nun mit eigenem Denken anfangen; auch bemühte ich mich darum seit etlicher Zeit. Ich denke nach über alles, was ich vernehme, ich überlege, ob es wohl richtig sei. Aber dieses Aufmerken läßt mich mitunter in einem Fehler entgleiten, vor dem ich mich hüten muß, wenn ich bis zu hohem Grade wahre christliche Liebe besitzen will, wie es doch mein Wunsch ist; denn es ist sehr häßlich, seines Nächsten Fehler zu sehen. Es ist mir untröstlich, daß sie mir nicht entgehen, und ich bin manchmal grausam genug, auch noch andre darauf aufmerksam zu machen; ich gestehe sogar, daß mich das ein wenig amüsiert. Ich will sehr gern dieses boshafte Vergnügen opfern, um mich von diesem Fehler zu befreien; und lieber will ich, obschon es mir schwer fällt, dumm scheinen, als geistreich und bösartig.

»Ich gelobe, in diesem Tagebuch von meinen Fehlern zu sprechen. Das Geständnis, obwohl für mich allein, kostet mich etwas, aber das macht nichts; ich werde von Zeit zu Zeit mein Journal wieder durchlesen; und mein Drang, mich vervollkommnet und von Fehlern befreit zu sehen, wird mir Eifer und Mut geben, mein Besserungswert fortzusetzen.«

So schrieb Octavie von Birkheim in ihr Tagebuch. ...

Hartmanns Vater, ein Straßburger Gärtner von der alten reichsstädtischen Art und Gattung, war über seines Sohnes Entschluß noch mehr überrascht als die Schülerinnen zu Birkenweier. Er hatte gehofft, seinen einzigen Sohn demnächst in Amt und Würden zu sehen, und hatte sich auf den Augenblick gefreut, wo er durch eine Predigt seines Jungen in der Neuen Kirche oder in Sankt Thomas recht kräftig erbaut würde. Nun entschloß sich sein Viktor, dieser wunderliche »Hans im Schnokeloch« (der will, was er nicht hat, und hat, was er nicht will), von neuem anzufangen! Der alte Herr, sonst knapp und sachlich, raffte sich zu einem umständlichen Briefe auf, in den ein kleiner Gegenstand beigepackt war. Er sagte dem Sohne unverblümt die Meinung. Aber die beiden Hartmanns, an Eigensinn und Selbständigkeit einander ebenbürtig, hatten sich längst daran gewöhnt, sich gegenseitig Bewegungsfreiheit einzuräumen. Und so schloß Johann Philipp Hartmann diesen Teil seines Briefes mit einem kurzen: »Enfin, mach, was du willst!«

Dann aber verbreitete sich der Alte redsprächig über seine neuen Mieter. »In meinem Hause hier ist ebenfalls eine Veränderung zu gewärtigen, indem daß ich den zweiten Stock an eine achtbare Witwe nebst Sohn und Tochter vermietet habe. Und ist es doch eine wunderliche Schickung in der Welt, daß ich diesen drei Leuten oftmals begegnet bin, wenn ich durchs Judentor am Schießrain vorbei nach Schilke und Robertsau hinausspaziert bin, wo sie Verwandte und ich meinen Garten habe. Da ging dann die Dame in schwarzen Kleidern, mit einem Trauerflor den Rücken hinunter, und das Mädchen in Halbtrauer zu ihrer Rechten, und der Sohn zu ihrer Linken. Was für einen guten Eindruck machen doch diese drei stillen Menschen, Hab' ich da jedesmal denken müssen. Einfach und vornehm – voilà! Und diese kommen jetzt zu mir und sagen, daß sie dich in Rothau gesehen haben, und sind meine Mietsleute.«

Bei diesem Schreiben lag ein Goldring, aus dem ein Stückchen herausgeschnitten war.

»Meine neuen Mieter,« schrieb der alte Herr weiter, »sind grade zu einer wunderlichen Operation gekommen, nämlich der Goldschmied hat mir just meinen Verlobungsring vom kleinen Finger abgeschnitten, indem durch eine Wunde der Finger geschwollen war. Diesen Ring hat mir deine Mutter am Weihnachtsabend vor vierzig Jahren angesteckt; wir haben uns damals verlobt, und ich bin noch auf zwei Jahre in die Fremde gegangen, hab' aber den Ring am Finger behalten und seither durch vierzig harte Arbeitsjahre getragen. Was denn jetzt mit dem Ring anfangen? sag' ich zur Frau Frank und mach' ein Späßel dazu. Schenken Sie ihn Ihrem Sohn, sagt sie, er kann einen Stein hineinsetzen lassen und ihn einmal seiner Braut schenken. Eh bien, und sie und das schlanke junge Ding, das so gute graue Augen hat, lachen dazu, und wir packen dann den Ring auch schön miteinander ein, wobei mir Frau Frank geholfen hat. Es sind gute Leute, ganz meine Art, kein welsches Gebabbel, kein Jästen und Hasten, aber herzlich und gern zum Helfen bereit. So nimm denn nun diesen Ring als ein Geburtstagsgeschenk, mein lieber Viktor! Halte ihn in Ehren, wie ich ihn in Ehren gehalten habe! Denn deine Mutter ist eine brave Frau gewesen, verschafft wie ein Specht in der Haushaltung, von früh bis spät, und hat alle Sorgen, als es uns noch miserabel ging, rechtschaffen mit mir geteilt. Auf ihrem Todesbett hat sie mit schönen alten Gesangbuchversen den Pfarrer und uns alle dazu getröstet und gestärkt. Halte den Ring in Ehren, Viktor! Und was uns zwei anbelangt, so weißt du, daß ich bin und bleibe Dein Dich liebender und auf Deine Ehrenhaftigkeit vertrauender Vater Johann Philipp Hartmann.«

Viktor betrachtete den Reif mit heiliger Rührung. Nun war der Sommer der adligen Leidenschaft dahin – und doch blieb ihm da nun ein Ring in der Hand: ein schlichter bürgerlicher Ring. Frau Frank hatte ihn eingepackt; die reinen Augen ihres Töchterchens Leonie hatten darauf geruht; seine verklärte Mutter hatte ihn an einem Weihnachtsabend dem Vater an die Hand gesteckt; der Vater hatte ihn durch vierzig schwere Arbeitsjahre getragen.

»Es ist eine Seele in diesem Ring«, sprach Viktor leise. »Ich lasse ihm einen lichten Bergkristall einsetzen, den ich dahinten im Steintal gefunden habe. In seine Innenseite lass' ich ein Wort eingravieren, das mich fortan geleiten soll. Wenn ich mich einmal verloben sollte, so wird ihn meine Braut erhalten. Ist es mir hingegen nicht beschieden, jene von Urbeginn her im Himmel für mich bestimmte Seele zu finden, von der Oberlin so schön gesprochen hat – nun, mein Ring, so behalt' ich dich am Finger und nehme dich mit in mein Grab.«

Ende des ersten Buches


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