Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Drittes Kapitel

Der Maire von Straßburg

Am Fuße des Münsters steht der fürstbischöfliche Palast der Rohans.

Der letzte Rohan, jener Freund Cagliostros, jener Kardinal Louis René von Rohan-Guemenée, der einst seine Augen zur Königin erhoben und durch den Halsbandprozeß das Ansehen der Königtums geschädigt hatte, saß in Baden als Verbannter. Das stolze Geschlecht, schon ums Jahr Tausend in der Bretagne begütert und hernach mit französischen Königen verwandt, hatte das weitläufige Zaberner Schloß ebenso aufgegeben wie diesen vornehmen Straßburger Rokokobau. Die Stadt hatte das Gebäude vor kurzem angekauft und in ein Rathaus verwandelt. Wo Klerus und Adel Feste gefeiert hatten, residierte nun zwischen Akten und Beamten der Maire von Straßburg.

Es war ein grauer Werktag, als sich Viktor Hartmann durch die vielbeschäftigten Menschen dieser glänzenden Bürgermeisterei hindurchforschte, um den Maire zu finden. Vom Trieb des Helfens angefeuert, kannte er keinerlei Zaudern. Doch stand er den politischen Verhältnissen zu fern und stellte sich die Möglichkeit einer Hilfe allzu einfach vor.

Als er sich vom Portier zu Schreibern und Unterbeamten hindurchgeredet hatte; als er vernommen, daß der Maire eine fünfstündige Sitzung hinter sich habe und gänzlich erschöpft sei; als er vom Friedensrichter Schöll, den er zufällig traf, einen Begriff erhalten, was alles für Arbeitslast auf den Schultern des Bürgermeisters laste: da stutzte der Idealist. Er stand in diesen hohen und geräumigen Sälen wie in einer neuen Welt. In seiner Kindheit war er einmal hereingewischt und entsann sich der rotseidenen Tapeten und glänzenden Kronleuchter aus Bergkristall – mit Kristallen, groß wie Hühnereier –, der römischen Kaiserbüsten, der marmornen Kamine, der goldverbrämten Stühle, der Vasen und Wandspiegel, der umfangreichen Bibliothek und irgendwo in all dem Prunk einer kleinen Kapelle mit einem roten Fünkchen darin: der ewigen Lampe.

Alles erloschen! Bürgerliche Arbeitsenergie hatte von dem Luxuspalast Besitz genommen.

Es ging dem Gelehrten eine Ahnung auf von der umwälzenden, sachenhaften Wucht der Revolution. Die Kühnheit dieses Unternehmens, das mit der Organisation und Gruppenbildung von Jahrhunderten mit einem Schlage aufzuräumen und Neues an die Stelle zu setzen entschlossen war, verwirrte ihn. Aber es lockte zugleich seine Energie heraus.

Schon war er im Begriff, sich für heute zurückzuziehen, doch zu einer günstigeren Stunde aufs neue einzudringen, als er sich angerufen hörte.

Es war der Maire selbst. Der neue Herr des Palastes trat mit der ihm angeborenen Würde aus einer der hohen Türen, Akten unter dem Arm, begleitet vom Greffier Hermann und dem Prokurator Mathieu. Viktor eilte auf ihn zu. Es war derselbe Dietrich, der sich vorgestern zwischen seinen Gästen elastisch bewegt und gestern Rougets Kriegslied gesungen hatte, der musikalische, geistvolle Baron der Gesellschaft. Auch die Kleidung, diese schwarzseidenen Strümpfe, dieser braune Frack mit weißer Weste, wich nicht erheblich von damals ab. Doch sein Gesicht war etwas verändert. Heute stand er kühl und herb, mit heruntergezogenen Mundwinkeln, was ihm einen nüchternen Ausdruck gab, dem ein Zug von vornehmer Abweisung nicht fehlte. Er kam aus dem Gefecht.

»Was treibt unsren gelehrten Hartmann in diese nüchternen Hallen?« fragte der Maire im Begriff vorüberzugehen und dem Besucher nur das Profil zukehrend. »Suchen Sie mich? Kommen Sie mit in mein Kabinett, ich hab' eine Minute Zeit.« Hartmann folgte. Die Begleiter entfernten sich. Der Maire legte die Papiere auf den überladenen Tisch und warf sich aufatmend in den Fauteuil.

»Nehmen Sie Platz!«

Viktor leitete mit Entschuldigungen ein. Aber Dietrich strich mit der Hand über das müde Gesicht und unterbrach ihn:

»Sie haben ja recht: man arbeitet wie ein Pferd. Aber Arbeit ist Bewegung, Bewegung ist Energie, Energie ist Leben. Pah, das bißchen Arbeit! Jedoch das andre, mein Werter: die Verleumdung, die Niedertracht!«

Hartmann hatte für die fesselnde Erscheinung dieses eleganten und energischen Politikers immer eine Zuneigung empfunden. Er sagte einige bedauernde Worte über jene neuliche Bemerkung im Dietrichschen Salon.

»Mir, der ich aus Büchern komme,« sprach er, »schwebt als Ideal ein Elsässer wie Tauler vor, der gewaltige Prediger, der in einem Jahrhundert voll Haß zwischen Kaisern und Päpsten als eine Friedensgestalt die Seelen ins Reich Gottes erhob. Entschuldigen Sie, daß ich damit in Ihrem Salon die Politik verglich!«

»Nicht weiter schlimm«, erwiderte der Maire, der nicht auf dergleichen Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts gestimmt war. »Sie sind eben schlecht oder gar nicht über unsre politischen Verhältnisse unterrichtet.«

Und der Mann, den vorhin irgend jemand »gänzlich erschöpft« genannt hatte, gab plötzlich mit Geist und Feuer und nicht ohne Selbstbewußtsein einen Überblick über den bisherigen Verlauf der Revolution.

»Fragen Sie Ihren Vater,« schloß er, »was für glänzende Verbrüderungsfeste wir in diesen drei Jahren gefeiert haben hier in Straßburg! Wie freudig, gewillig, brüderlich alle Bürger ohne Ausnahme gestimmt waren! Es ist mir gelungen, unsre zähen Elsässer zu beflügeln, mitzureißen. Aber seit dem unglückseligen Fluchtversuch des Königs im vorigen Sommer, als man ihn von Varennes im Triumphzug nach Paris zurückbrachte, ist die republikanische Partei fanatisch an der Arbeit, alles gegenseitige Vertrauen zu vergiften. Was für Mühe gibt sich mein Freund General Lafayette, das Königtum zu halten! Aber an entscheidender Stelle versagt man. Und so wird unser tapfer durchgeführter Versuch, die französische Nation aus dem Absolutismus in eine besonnene konstitutionelle Monarchie friedlich hinüberzuleiten, von einer skrupellosen Minderheit bis aufs Messer bekämpft. Diese Beller wollen nun einmal die Republik. Das sind die ›Jakobiner‹ – seltsame Mönche das, nicht wahr, die dort in Paris im früheren Jakobinerkloster ihre Klubsitzungen abhalten! Danton, mit der Stimme eines Schlächters und den Lastern eines Roué; und im Hintergrund der kleine, grüne, giftige Advokat Robespierre, der auf seine Stunde wartet. Vorerst herrscht die Girondistenpartei. Uns aber haßt man als die Gemäßigten – Maß halten ist natürlich Sünde in einer Zeit, wo jeder durch Unmaß den andren zu übertrumpfen sucht! Und man wirft uns mit der Partei der ›Feuillants‹ zusammen. Wir aber sind weder Feuillantiner noch Girondisten: wir sind Straßburger! Wir wünschen die konstitutionelle Monarchie gesetzmäßig und in Ordnung eingesetzt und durchgeführt. Leider aber ist es so, daß die Pariser Parteien den Ton angeben.«

Der Maire trank ein Glas Wasser und fuhr fort: »Paris gibt den Ton an. Genau wie zu den Zeiten des Absolutismus. Ich trug mich mit der Hoffnung, daß nach der Schwächung der absolutistischen Despotie alle Provinzen und alle Stände an der Regierung teilnehmen würden, in echt liberaler Verteilung der Macht. Ich trug mich mit der ehrgeizigen Hoffnung, daß unser Straßburg, diese bedeutende Grenzstadt, gewichtig den Gang der Revolution mitbestimmen könne, sobald es uns gelänge, hier vorbildliche Reformen ins Werk zu setzen. Noch habe ich diese Hoffnung nicht begraben. Die westlichen Departements schauen alle nach Straßburg; sehen Sie da: Zustimmungsbriefe die Fülle! Aber unsre schöne städtische Einheit ist zerrissen – zerrissen durch eingewanderte Demokraten. Diese Hetzer sind Phrasendrescher aus dem inneren Frankreich; und einer der unangenehmsten dieser Patrone ist ein Pfaff aus dem Rheinland. Die nisten sich hier bei uns ein, kennen unsre Wesensart nicht und versuchen uns gleichwohl zu bevormunden. Da sie mich aber wachsam und ihrer plebejischen Tonart nicht geneigt finden, so geht natürlich ihr Bestreben dahin, gerade mich zu verdächtigen, zu verleumden, zu vernichten. Und da ist jedes Mittel recht. Hat einmal die Munizipalität keine Rechnung abgelegt, so bin ich natürlich schuld, obschon mich dieser Punkt gar nichts angeht. Sind die Pontons im Zeughause in schlechtem Stand, so habe ich das verschuldet, obgleich das Gesetz vom 10. Juli 1791 der Munizipalität ausdrücklich verbietet, sich in militärische Angelegenheiten einzumengen. Tat ich den Vorschlag – nicht etwa im geheimen Komitee, sondern in öffentlicher Sitzung des Gemeinderats –, die Frage zu untersuchen, ob nicht unsre Grenzstadt bei Annäherung der Feinde in Kriegszustand zu setzen sei: – so verwechselt man absichtlich Kriegs- und Belagerungszustand und schreit mich als Verräter aus, weil ich die Stadt der Militärbehörde ausliefern wolle. Reißt in Saargemünd das Husarenregiment Sachs aus und ich sende sofort 300 Mann, um die Lücke zu stopfen – so will ich natürlich die Stadt Straßburg ihrer Verteidiger entblößen, um sie desto leichter dem Feinde übergeben zu können! Ist das nicht Gesindel?!«

Der vornehme Mann, von Natur auf Harmonie gestimmt, war in starker Erregung. Es tat ihm wohl, sich einem neutralen Anfänger gegenüber zu entlasten. Jetzt rief ihn ein Sekretär hinaus. Und es entspann sich im Nebensaal eine lebhafte Erörterung.

Hartmann sah in die Welt der Politik. Zorn bemächtigte sich des jungen Moralisten. Er trat ans Fenster und betrachtete das ungeheure Hochgebirge des Münsters, das in erhabener Plastik über den Zeiten stand, den wechselnden Parteien nicht erreichbar. Der braune Sandstein war feucht und wirkte wie mit Schatten durchsetzt. Viktor dachte an ein Abendrot in Birkenweier, wie er mit dem inneren Auge dies gigantische Turmgebilde erschaut hatte. Doch hier in der gegenständlichen Nähe war alles derber und rauher. Der zurückgebliebene Greffier wickelte ein Brötchen aus einem Papier, trat kauend heran und machte sich mit Viktor bekannt.

»Muß man sich denn das gefallen lassen von diesen Jakobinern?!« schrie ihn Viktor an. »Kann man da nicht mit einem Donnerwetter dazwischenfahren?!«

»Klingt sehr einfach, aber wie denn das?« bemerkte der Alte. »Sie haben da draußen einen Hauptschreier der Jakobiner, den Redakteur Laveaux vom ›Courier de Srasbourg‹, ins Cachot gesteckt. Kennen Sie die Geschichte? Na, nun geben Sie da mal einen guten Rat! Kommt da vorige Woche der katholische Pfarrer von Börsch mit verbundenem Kopf auf den Spiegelklub und heult den Radikalen vor: ›Die Konstitutionellen von Börsch haben mich verprügelt, verwichst, verwamst – guckt euch mal meinen Kopf an!‹ Ha, das ist so ein Futter für den Welschen Laveaux. Er springt auf die Tribüne und läßt wieder einmal am Maire und den Departements kein gut Haar. Man solle, meint er, auf die Absetzung der Departementsverwalter dringen, die solche Männer wie den verprügelten Pfarrer nicht zu schützen wissen; und falls diesem Gesuch nicht entsprochen würde – tant pis, so sollten die patriotischen Bürger selber ausziehen und unter dem Schutz der Gesetze die Aristokraten und unbeeidigten Priester totschlagen! Hein? Nicht übel! Auf das hin hat ihn Scholl als einen Aufruhrstifter eingesteckt. Was macht Laveaur? Er spektakelt, und alle seine Freunde spektakeln: ›Wie? Aufruhr hätt´ ich gepredigt?! Ich hab ja deutlich hinzugefügt: ›unter dem Schutz der Gesetze!‹ Sehen Sie den Filou?! Ich wette mit Ihnen, man muß ihn laufen lassen.«

Der Maire trat wieder ein.

»Meine Zeit ist leider um«, sprach er zu Viktor. »Sie hatten ein Anliegen?«

Der Sekretär verschwand. Viktor erzählte zaudernd, denn er spürte, daß er hier nicht an rechter Stelle war.

Dietrich unterbrach ihn denn auch bald.

»Nein, mein Lieber, das ist nichts für mich. Das ist Sache der südfranzösischen Abgeordneten. Oder ist die Dame Elsässerin? So könnte man sich an unsren Vertreter Schwendt oder an den Kolmarer Reubell wenden. Nein? So mag das irgendeiner von den Girondisten versuchen. Sprechen Sie mit Birkheim darüber!... A propos, noch eins: Ihr Vater bleibt im Klub der Jakobiner?«

»Ich habe fast noch nichts mit ihm über Politik gesprochen.«

»Sagen Sie ihm doch, er solle vernünftig sein. Er hat Einfluß unter den Gärtnern, er war früher unter den fünfhundert Schöffen, er billigt meine Politik. Warum kommt er nicht zu uns, in den Klub der Freunde der Konstitution?«

»Weshalb hat sich eigentlich die Volksgesellschaft gespalten, Herr Maire?«

»Weshalb? Da müssen Sie Herrn Eulogius Schneider fragen. Oder Laveaux, Laurent, Teterel, Rivage, Alexandre und andre Gegner meiner Politik. Diese haben die vornehmeren Elemente aus der gemeinsamen Gesellschaft hinausge– wie soll man sagen? – hinausverleumdet. Man riet mir einst in Rothau, der Maire solle über den Parteien bleiben. Unmöglich! Ich bin der Exponierteste von allen. Ich muß eine Gruppe um mich haben, auf die ich mich verlassen kann, und will nicht Freund sein mit Plebejernaturen wie diesem Zyniker Schneider, der mir unangenehm ist. So bin ich im Januar mit ausgetreten und habe mich dem neuen Klub angeschlossen. Einmal, vor wenigen Wochen, habe ich zwar noch einmal eine Aussöhnung versucht; wir sind eines Abends einmütig vom Auditorium aufgebrochen und in den alten Klub nach der Langstraße gewandert, um angesichts der Kriegsgefahr eine Einigung vorzuschlagen. Das war eine demütigende Stunde, mein Lieber. Wir mußten erfolglos wieder abziehen.«

Dietrich reichte seinem Besucher die Hand.

»Au revoir, mon cher! Sie sehen, wie ernst unsre politische Lage hier ist in Straßburg ... Und sehen Sie: so rächt sich der vertriebene Kardinal Rohan, in dessen Gemächern wir hier stehen! er hat seinen Priestern verboten, der französischen Regierung den Bürgereid zu leisten. Wir mußten also diese widerstrebenden Priester absetzen, was mich bei den Katholiken verhaßt machte, und mußten an ihrer Stelle neue berufen. Freund Blessig empfahl mir den freisinnigen Priester und Professor Eulogius Schneider aus Bonn als Vikar unsres neuen Bischofs Brendel. Wohlan, ich rief ihn her, gestattete ihm Zugang in meine Zirkel – und nun ist dieser abtrünnige Pfaff mein schlimmster Feind. So rief ich mir meinen Feind ins Nest. So rächt sich Rohan.«

Dämmerung sank über die glühenden Giebel und flammenden Wasserläufe. Viktor sah sich wieder am Ausgangstor des Stadthauses und war seinem Ziele keinen Schritt näher gekommen. Wohl aber hatte er einen Einblick getan in die Wirbel der Politik. Seine Rauflust erwachte. Doch als ob sich dem Kantianer die Unzulänglichkeit persönlichen Willens gegenüber elementaren Vorgängen sinnbildlich darstellen sollte, ward ihm der Ausgang versperrt. Bewegte Menschenmassen drängten sich auf dem Münsterplatz; Trommeln und Musik beflügelten marschierende Kolonnen; dröhnender Männergesang schlug an den vielzackigen Domwänden empor. Viktor, der Einzelmensch, sah sich machtlos an die Wand gepreßt und spähte ärgerlich nach dem Grunde dieser Vergewaltigung aus.

Es war ein Volontärbataillon. Im Geschwindschritt französischer Infanterie kam es von der Krämergasse her und flutete nach der Kalbsgasse vorüber, um irgendwo, in der Fischertorkaserne oder draußen in der Zitadelle, Quartier zu beziehen. Soldaten anderer Waffengattungen, Nationalgardisten, Gassenvolk und Neugierige aller Stände strömten herbei, begleiteten den Marsch und vermehrten das Gedräng und Getöse. Das wälzte sich gleich einem trübflutenden Hochwasser zwischen den Steinmauern dahin. Unglaubliche Gesichter! Und unglaubliche Uniformen! Sie zogen in der fahlen Dämmerung, während das Abendrot noch auf der Münsterspitze saß, in gespensterhaften Reihen rasch vorüber, die Flinten mit den blitzenden schlanken Bajonetten auf den Schultern, singend, mit einer seltsamen Wildheit immerzu singend. Sie schauten gradaus, sie schauten nicht rechts noch links in die Vivats der mitgeschwemmten Menschenmasse. Sie hatten irgendein fernes Ziel im Auge, das sie mit einem schrecklichen und abstrakten Fanatismus zu verfolgen schienen. Ihr Haar war nicht mehr in den Zopf gezwängt, wie bei den exakten Linienregimentern; es flog wirr und schwarz um die schlecht rasierten Gesichter. Und so war auch die Marschordnung ein aufgelöster, freier Rhythmus. Nur in den breiten, weißen, über der Brust gekreuzten Bandelieren, woran Säbel und Patronentasche an die Beine klatschten, waren sich alle gleich. Auch der blaue Rock und die rot, weiß und blau gestreifte Langhose war den meisten eigentümlich. Dort aber trug einer statt des dreieckigen Hutes eine Pelzmütze, dort ein andrer einen Raupenhelm; der dort hatte einen grünen Rock irgendwo erbettelt oder ergaunert und darunter eine knallrote Weste; jenem flatterte ein langes blaues Tuch um den Hals; viele hatten sich Bündel auf den Rücken geschnürt, als wären's reisende Handwerksburschen; nicht wenige trugen Brotlaibe an die Bajonette gespießt; dort hämmerte ein blutjunger Trommler; der dort schleppte einen steinernen Schnapskrug mit. Knaben zwischen ergrauten Schnauzbärten; gut uniformierte Burschen besserer Stände zwischen halben Briganten; dann Markedenterwagen, Bagage, Offiziere zu Pferd und allerlei Nachzügler – – und da ist der jauchzende, singende, tosende Troß vorbei!

Die Menge wälzt sich nach und wird wie ein Strudel eingeschluckt von den Gassen hinter dem Lyzeum ...

»Und was sagst du dazu, Combez? Ist in alledem nicht eine wilde Poesie?«

Viktor hörte durch die nun auffallende Stille diese Worte hinter sich fallen. Er kannte die Stimme, drehte sich um und sah einen Offizier der Nationalgarde Arm in Arm mit einem Kavallerieoffizier einherschlendern.

»Frühinsholz?«

»Wahrhaftig! Und du bist Hartmann!«

Ohne Umstände schloß der Nationalgardist den Jugendfreund in die Arme und küßte ihn auf beide Wangen.

»Viktor, Papiersack, wie kommst du hierher? Nicht mehr in Jena? Das da ist mein Freund Combez, Eskadronchef bei den Jägern zu Pferd. Und der Zivilist da, lieber Rittmeister, der wie Papier knistert, wenn man ihn anfaßt, ist mein Schulkamerad Hartmann, ein grundguter, gewissenhafter Kerl, der vor lauter Allerweltsstudium nie fertig wird, weder mit sich noch mit dem Examen noch mit dem Leben – kurzum, ein Zukunftsmann! Na, Viktor, Alterle, und was sagst du zu den Volontären? Und steckst noch nicht im Rock der Nationalgarde?!«

Es war Johann Georg Frühinsholz aus Schiltigheim, der den Freund so stürmisch begrüßte.

»Combez, wir nehmen ihn mit in die ›Laterne‹! En avant!«

Der sechzigjährige Schnauzbart Combez, der sich schon im Siebenjährigen Krieg herumgehauen hatte, und der zwiefach so junge Frühinsholz, ursprünglich Theologe und später Offizier in den Revolutionsschlachten, nahmen den Kandidaten heitren Mutes unter die Arme und entführten ihn nach dem Gasthof zur Laterne.

Es verkehrten dort viel Offiziere. Und so sah sich Viktor plötzlich in eine Welt hineingerissen, der er noch im Dietrichschen Salon mit kühler Ablehnung gegenübergestanden hatte. Er war hier unter Elementen, die nicht zu grübeln, aber um so flinker zu handeln gewohnt waren. Und was ihn erschreckte und entzückte zugleich, war dieses: etwas in seinem Blute gab Antwort!

Frühinsholz war nicht so ungestümer Art, wie er sich bei der ersten Begrüßung angelassen hatte. Dieser soldatische Elsässer war tapfer, bescheiden und ein gradherzig treuer Kamerad. Man konnte sich prächtig mit ihm unterhalten. Der einfache Combez liebte ihn zärtlich; und auch auf Viktor wirkten solche offenen und braven Naturen äußerst anziehend. Kandidat Hartmann wurde lebendig; die andere, die lebhaft leidenschaftliche Hälfte seiner Seele, die sich tagsüber eingeschlossen hielt, sprang heraus – wie dort in den Sommernächten am Gebirge, wie dort im Gespräch mit Lerse und Humboldt, wie oft auch in bedeutenden und erhitzenden Unterhaltungen zu Jena. Er wurde kühn und männlich; er ward erfaßt vom erobernden Wanderdrang nach unbegrenzten Fernen und unbekannten Möglichkeiten. Wie es sich oft in ernsten Naturen und Nationen ansammelt, um jählings in einem hinreißenden Elan genial herauszubrausen und Revolutions- oder Völkerschlachten zu schlagen.

Sie sprachen von Wert und Wucht des Krieges.

»Nicht aus den Parlamenten,« so faßte Frühinsholz ihre Gedanken zusammen, »nicht aus Bürgermeistereien noch aus Zeitungsredaktionen wird das Genie der Zeit hervorgehen. Ich sag' euch: es erscheint in Uniform! Alexander hat mit dem Schwert den gordischen Knoten zerhauen, nicht mit dem Papiermesser. Wenn ich an Klebers Löwenstimme oder an des noblen Hoche Zornkraft denke – morbleu, da ist Zukunft! Combez lacht, weil ein Theologe den Krieg feiert? Aber ich sage Ihnen, Combez, Krieg und Kirche sind Vettern: haben nicht Schwert und Kreuz dieselbe Form? Wird nicht in beiden, im Krieg und in der Kirche, das Blut geschätzt, dies heiligste Element des Lebens? Und in beiden wird geopfert! Opfer ist das Erhabenste in der Welt, das Gegenteil und die Vernichtung des gemeinen Egoismus. Die Mutter opfert sich für ihr Kind, der Soldat für seine Nation. Und drum hat der alte Pindar unrecht: nicht ›Wasser ist das Beste‹, sondern das Allerbeste in der Welt ist das heilige Blut

Sie gerieten ins Feuer. Und Combez rief plötzlich: «Hartmann, Sie haben das Zeug zum Soldaten! Versprechen Sie mir, wenn wir Sie brauchen im Felde, so kommen Sie nach!«

»Ich komme!« rief Viktor feurig.

Das Lokal füllte sich bei vorrückendem Abend. Viele rauchten Tonpfeifen; im dicken, stockenden Rauch stand ein gleichmäßig tosender Lärm. An einem Nebentische saßen Artilleurs von der Metzgertorkaserne, vermischt mit Genieoffizieren. Einer hatte eine Blumenverkäuferin um die Taille gefaßt, kaufte ihr alle Blumen ab und verteilte die Maiglöckchensträuße an seine Kameraden. Ein andrer, neben Desaix' bizarrem Gesicht auftauchend, grüßte mit dem Glas zu Viktor herüber, der sich des rotblonden Kopfes sofort entsann.

»Ah, Kapitän Rouget de l'Isle!«

»Sie haben neulich brillant erzählt!« rief der Kapitän. »Nicht wahr, das Dietrichsche Haus: Stimmung! Ich werde viel verlieren; ich bin nach Hüningen versetzt. Waren Sie inzwischen dort?«

»Bei Dietrichs? Nein.«

»Sie werden Frau Luise in einem Labyrinth von noch nassen Notenblättern finden. Eine talentvolle Frau! Sie stellt von einem Lied, das ich gefunden habe, Partituren her für Klavier und andere Instrumente.«

»Ein Lied? Was für ein Lied?«

»Ein Kriegslied natürlich. Na, nicht viel. Wir lassen's bei Dannbach drucken. Und am Sonntag wird's die Kapelle der Nationalgarde auf dem Paradeplatz spielen.«

»Das sollten Sie uns singen,« rief Viktor.

»Holla, Rouget de l'Isle hat einen Kriegsgesang komponiert?«

Es redete sich herum. Und im Nu sah sich der Dichterkomponist umringt von Kameraden aller Waffengattungen, die ihn ermunterten, das Lied zu singen.

Es war in dem sonst ruhigen Gasthof in diesen letzten Tagen eine laute, kriegerische Stimmung eingekehrt. Eine wogende Stimmung war es. Ein Lied voll Kraft und Schwung wurde von selbst getragen, wenn es sich wie eine Kriegsgaleere diesen Wogen anvertraute.

Und so sprang Rouget de l'Isle ohne Ziererei auf einen Stuhl und sang in das verstummende Rauchgewölk seinen ungestümen Gesang. Und der fremdartige, energisch-düstere, gleich einem Trompetensignal aufstörende Kehrreim ward in Empfang genommen von begeisterten Offizieren, der Saal dröhnte, und eine Ahnung von den künftigen Wirkungen dieses Schlachtengesanges ging durch die Zecherversammlung: »Aux armnes, citoyens! Formez vos bataillons!«...

Viktor brachte aus diesem lebensprühenden Abend Bedeutendes mit nach Hause. Er hatte dort in der Mairie einen Eindruck erhalten von dem zerreibenden Kleinkampf der Tagespolitik. Nun aber ahnte er die Erlösungskraft einer großen und wilden Schlacht, wenn Parteien und Nationen sich rettungslos in die Sünden der Mißverständnisse und der Gehässigkeiten verstrickt haben.

* * *

Am nächsten Tage betrat Baron von Birkheim, den Viktor vergeblich im Gasthof zum Raben und bei den Oberkirchs in der Blauwolkengasse gesucht hatte, unerwartet das Hartmannsche Haus.

Vater und Sohn empfanden den Besuch als eine Ehrung.

»Ich wohne weder dort noch bei den Oberkirchs,« bemerkte der Edelmann zu Viktor, »sondern im Hause des alten Dietrich, des Stettmeisters, am Nikolausstaden. Und habe dort« – fügte er in seiner offenen und leutseligen Männlichkeit hinzu – »eine etwas unruhige Nacht verbracht. Ich hatte die Sache Mably zu leicht genommen. Nun hat mich ja Stuber inzwischen wissen lassen, wie schön sich das alles zu lösen scheint. Und dann wollt' ich Ihnen sagen, daß meine Frau und Octavie einen guten Einfall hatten, wie man die junge Mably ohne Aufsehen ins Elsaß schaffen kann. Es ist nämlich in Grenoble ein junger Wann aus guter Familie, ein gewisser Périer, der sich als Privatzögling bei Pfeffel angemeldet hat. Wir werden ihm schreiben und das Kind mit ihm einladen. Er bringt die Kleine nach Kolmar; und Sie, Hartmann, holen sie bei uns ab und bringen sie zu dieser guten Frau nach Barr. Nicht wahr? Wobei ich indessen ausdrücklich hinzufügen will, daß unser Haus der Kleinen ebenso gern offenstünde, wenn sie nicht besonders dringlich der Stille bedürfte.«

»Und die Mutter?« rief Viktor. »Herr Baron, sollen wir denn die Marquise verkümmern lassen?«

Der alte Hartmann war in den Keller gegangen, um eine Flasche seines besten »Gutedel« heraufzuholen.

»Die Marquise?« Der Baron legte seinem ehemaligen Hofmeister bedächtig die Hand auf die Schulter. »Ihr Mitgefühl in Ehren, mein Lieber, aber da steckt noch der weichliche Hartmann. Zunächst kann ich Sie versichern, daß einige Abgeordnete umsonst versucht haben, etwas für die exaltierte Frau zu tun. Sodann darf ich Ihnen jetzt ruhig gestehen, daß es mir damals nicht entgangen ist, wie sehr jene kapriziöse Dame unsern guten Hartmann verwirrt hat. Indessen: ich ließ den Degen in der Scheide. Beißt er's nicht selber durch, dacht' ich, na, um so schlimmer für ihn! Nun, und jetzt? Wollen Sie sich abermals die Fittiche versengen? Wissen Sie, was sie mir ausdrücklich geschrieben hat? ›Ich will nicht freigebettelt sein, merke sich das jedermann!‹ Wollen Sie nun den dortigen Gewalthabern beweisen, daß diese fanatische kleine Frau jene Wirtschaft nicht haßt? Aber sie sagt's ja den Herren ins Gesicht!«

»Es ist aber Selbstmord! Sie sollte leben um ihres Kindes willen!«

»Ja, ihr Kind!« nickte Birkheim. »Da ist in der Tat der Punkt, wo man einsetzen muß. Sorgen wir für ihr Kind, so haben wir der Mutter das Beste getan, was man ihr unter diesen Umständen tun kann.«

»Ich muß Ihnen recht geben, aber es ist grausam!« beharrte Viktor. »Und dieser Frau tun alle unrecht, alle ohne Ausnahme! Ich allein hab' ihr in die Seele gesehen!«

Der alte Hartmann trat wieder ein.

»Mein Sohn schwärmt manchmal«, bemerkte er gelassen. »Heute früh sprach er mir von den Herrlichkeiten des Soldatenstandes. Na ja, ich hab' nichts dawider; aber man muß auch die Rückseite sehen: die Laster und liederlichen Krankheiten und andre böse Sachen. Im Raspelhaus dahinten hat manche Kindsmörderin geweint; und der Schuft, der sie elend gemacht, sitzt in irgend einem Wirtshaus und singt Schelmenlieder.«

»O nein, Papa!« rief Viktor zurück. »Ich halte mich weder mit Schwärmen noch mit Bejammern oder Vorurteilen gern auf. Das hab' ich mir abgewöhnt. Ich suche vielmehr sofort den Punkt, wo ich selber helfend einspringen kann, ich suche die Tat, ich suche meine persönliche Pflicht – wenn es sein muß, auch als Soldat!«

Der Oberst a. D. Birkheim, der selber einst in seiner kleidsamen Panzer-Uniform das Regiment Royal-Alsace kommandiert hatte, nickte ihm zu. Das Gespräch tauchte in die Waldungen der Politik unter. Viktor nahm erregten Herzens nur wenig Anteil; doch gab er des Bürgermeisters Frage weiter, warum sein Vater im Jakobinerklub verharre.

»Warum? Freilich bleib' ich drin, mein lieber Viktor!« versetzte der Alte eigensinnig. »Die Revolution hat an jenem Tage begonnen, als die beiden oberen Stände, Adel und Klerus, zu hochmütig waren, um mit dem dritten Stande gemeinsam zu beraten. Sie haben sich getrennt, aber der dritte Stand ist zäher gewesen; er ist geblieben – und hat die Herren gezwungen, zu ihm zurückzukehren. Das hat's entschieden. Als dort Mirabeau im Namen des dritten Standes dem Großzeremonienmeister des Königs zurief: ›Sagen Sie Ihrem Herrn, daß wir auf Befehl des Volkes hier sind und nur der Gewalt der Bajonette weichen‹ – da hat die Energie gesiegt. Denn Revolution ist Energie, Herr Baron. So hat sich auch hier in Straßburg die vornehme Bürgerschaft gesondert von den roheren Teilen. Ja, und jetzt? Jetzt sitzt die Intelligenz dort an der Neuen Kirche – und die derbe Kraft hier in den Spiegelsälen. Es sollen aber alle zwei zusammenwirken, Kraft und Intelligenz! Drum bin ich grad zu Leid geblieben!«

Der alte Herr stopfte mit heftigem Stoß eine Prise in die breitflüglige Nase und stand straff wie ein Soldat. Mit einem »voilá« klappte er die Dose zu, ohne sie jemandem anzubieten.

»Der Maire hat auch hierin zu vornehm Partei genommen,« fuhr er fort, »der Maire hat seine Person überhaupt zu viel dem Lob und dem Tadel ausgesetzt. Sie hätten ihn sehen sollen bei den Festen der Revolution, etwa bei der Einsetzung der Munizipalität vor zwei Jahren. Er hat eine prächtige Figur gemacht, alle Achtung! Ich seh' ihn noch, wie er auf dem Gerüst steht, dort auf dem Paradeplatz, und eine Glanzrede hält: »Wir wollen jede Erbitterung und jeglichen Parteigeist opfern auf dem gemeinsamen Altar des einen großen Vaterlandes« – worauf er alle seine Gemeinderäte umarmt und worauf auch wir Bürger alle auf dem weiten Platz uns gerührt umarmt haben. Arm in Arm sind wir dann miteinander nach dem Münster und in die Neue Kirche marschiert. Dort sprach Blessig. Sie kennen Blessig! Es war wie im Theater; wunderschön! Da seh' ich wieder unsern Maire, wie er auf eine Aufforderung des Predigers hin an den Altar läuft, um ihn her Nationalgardisten mit gezogenem Degen, und die Hand schwörend an den Altar legt: »Mitbürger, meine Brüder! Was ich unter freiem Himmel, vor Gott und unsrem Volke angelobt habe, das wiederhole, bestätige und beschwöre ich aufs neue hier an dieser heiligen Stätte: mit Gut, Blut und Lebensgefahr will ich die Konstitution und Freiheit beschützen« – – und wieder Umarmungen, und alles ein Herz und eine Seele! O Himmel, ich gesteh´s ehrlich: wir Alten haben Tränen geweint. Und immer Dietrichs Name vorn dran. Ein andermal, auf dem Paradeplatz, im letzten Herbst, bei der Feier der Vollendung der Konstitution, kommt eine Deputation von zwölf Frauen, an ihrer Spitze eine neunzigjährige Matrone, geführt von einem zwölfjährigen Mädchen, sie steigen auf das Gerüst – und die Matrone überreicht dem Maire einen Blumenstrauß, das Mädchen aber setzt ihm eine Bürgerkrone auf. Dietrich hat freilich den Kranz bescheiden auf die Konstitutionsurkunden gelegt. Aber es war doch wirksam und geschmackvoll organisiert. Alles vergöttert den gewandten Maire, der einen Überschuß hat von – wie soll ich sagen? – von repräsentativer Kraft, von gefährlichem Talent, sich selber alle Last und alle Ehren aufzuladen. Wenn die Waisenkinder öffentlich auf der Schloßterrasse gespeist werden, ist Dietrich dabei und hilft sie bedienen; wenn irgendwo ein Volksball stattfindet, so tanzt der Maire mit seiner Frau sicherlich eine Anglaise mit. Aber die Radikalen verachtet er. Und diese wissen genau: fällen wir Dietrich, so fällen wir das vornehme Bürgertum.«

Der alte Hartmann war nicht unbedeutend. Er achtete Dietrich, aber in seinen Worten war Kritik. Birkheim spürte das und fiel ein: »Sie meinen, er hätte der Volksgesellschaft gleich nicht beitreten sollen? Und wäre dann auch nicht in die Lage gekommen, sich von den Jakobinern zu trennen?«

»So ist's,« erwiderte der Gärtner. »Jetzt hat er Partei genommen und hat die Gegner erst recht erbittert.« »Und wären diese Republikaner wohl nicht seine Gegner, wenn er ferngeblieben wäre?«

»Hm, 's ist wahr.«

»Sehen Sie, Herr Hartmann, drum mein' ich: von Schuld oder Unschuld kann man da nicht reden. Dietrich ist das Musterbild eines vornehmen Bürgers – und diese Gattung soll eben vom Jakobinertum beseitigt werden. Alles hängt nun davon ab, wer in Paris siegt.«

»Kann sein,« versetzte Vater Hartmann.

Der Frühsommer, der in den Rheinsümpfen blühte und in den Störchen und Tauben gen Himmel stieg, sah neue Freiwilligenbataillone nach Norden marschieren. Im Hof des Stadthauses hatten sie sich eingeschrieben. Von Ansprachen und Musik befeuert, verließ einer nach dem andern die Reihen der Nationalgarden, stieg auf die Tribüne, trug seinen Namen ein und ward unter Musiktusch von Bürgermeister und Stadtvätern umarmt. Ältere Bürger brachten Geldspenden zur Ausrüstung unbemittelter Volontäre. Der Maire war auch hier allen voran; er schickte beide Söhne, Fritz und Albert, in den Krieg. Auch das Unglaubliche geschah, daß einer der Zwillinge Hitzinger, von Vater Hartmann bearbeitet, die Tribüne erkletterte; und tags darauf schloß sich ihm, zur Verzweiflung des Bäckers und der tobenden Mutter, auch der unzertrennliche zweite an. Doch wußte der lächelnde Hausgeist des Hartmannschen Erdgeschosses damals bereits, daß beide schon im Herbst wieder auf ihrem trauten Strohsack liegen werden – »krank, verlumpt und verlaust«, wie der zornige Papa Hartmann feststellen wird.

Es war noch kein Schwung in jenem Kriegsjahre. Viktor meldete sich als Nationalgardist bei seiner Sektion und übte auf den Wällen oder auf der Metzgeraue.

Anfang Juni geschah es, daß der alte Hartmann ein Druckblatt nach Hause brachte und schweigend vor seinen eifrig studierenden Sohn auf den Schreibtisch legte. Es war eine Reimerei von Eulogius Schneider. Viktor hatte von dem Gedicht und der Wut, die es unter Dietrichs Freunden hervorgerufen, bereits vernommen. In Etampes war ein Maire namens Simoneau von aufrührerischem Pöbel ermordet worden. Ihn verherrlichte Eulogius bei einer Straßburger Gedächtnisfeier. Aber Schneider schändete die Würde der Poesie und des Todes; sein Trauerlied auf den Maire von Etampes war ein Schmählied auf den Maire von Straßburg.

»Keiner lebte noch im Frankenreiche,
Keiner starb so tugendhaft wie er:
Ach, daß ihm an Bürgersinne gleiche
Jeder Volksbeamte, jeder Maire!

Er versuchte nicht das Volk zu blenden
Durch Betrug und falschen Andachtschein,
Und das fromme Christenmahl zu schänden,
Um bewundert und gewählt zu sein.

Er verlangte nicht von seinen Söhnen,
Das zu glauben, was ihm Torheit schien;
Führte nicht, um einem Hof zu frönen,
Heuchelnd sie zum fremden Priester hin.

Er beherrschte nicht des Volkes Wahlen,
Er betrog den schlichten Landmann nicht;
Sagte nicht, bei Gläsern und Pokalen:
Bürger, schreibt, was euer Sultan spricht!«...

So ging es durch viele Strophen; so lobte das Gedicht und verleumdete zugleich. Dietrichs eheliches Leben wurde ebenso verdächtigt wie seine politische Tätigkeit. Viktor zerknitterte das Papier.

»Was sagst du zu diesem ehemaligen Franziskanermönch, Viktor?«

»Verse und Gesinnung sind miserabel.«

Hartmann, der Alte, mit seinen etwas barocken Manieren, hatte seine schweigsame Stunde. Er schnupfte und bot dem Sohne die Tabaksdose dar. Sie standen hier der Gemeinheit gegenüber; beide haßten dergleichen auf den Tod.

»Was meint er übrigens mit dem Schänden des Christenmahls?« fragte Viktor nach ingrimmiger Pause.

»Aha!« brach der Alte los, »da beißt wieder einer an! Du bist heute schon der Dritte, der so fragt! Auf diese Fragen: was meint er mit dem – was meint er mit jenem? hat's ja eben der Reimer abgesehen! Man schimpft erst, man stutzt dann, fragt, tuschelt, zuckt die Achseln – und die Verleumdung sitzt! Ein paar Brauseköpfe haben geschworen, diesen Schneider in Stücke zu hauen; aber der Maire ist dahinter gekommen und hat solch unvornehme Hauerei verboten ... Von jener Sache weiß ich nur soviel: Dietrich soll sich in Paris als Katholik gebärdet haben und hat, sagt man, seine Söhne um ihres Fortkommens willen katholisch taufen lassen. Hier in Straßburg hat man nun darauf gespannt, ob er wohl zum protestantischen Abendmahle gehen würde. Es ist kurz vor den Wahlen gewesen; die Protestanten haben die Mehrheit. Nun, und er ist ja auch gegangen – und da haben sie's ihm als Wahlspekulation ausgelegt. Was kann man wissen! Jedenfalls ist da etwas Unklares; er hat nicht den Charakter seines glaubenstreuen Ahnherrn Dominikus. Meines Erachtens ist Dietrich weder Protestant noch Katholik, sondern halt ein gebildeter Freigeist. Und ehrgeizig mag er auch sein. Wer aber von seinen Feinden ist nicht ehrgeizig?«

Der Alte schwieg. Doch tags darauf, als sie beim Mittagessen einander gegenübersaßen, ließ er nebenbei die Bemerkung fallen:

»Ich bin aus dem Jakobinerklub ausgetreten.«

So lange die Franks über ihm wohnten, war die Schwüle der politischen Luft noch zu ertragen. Unter irgend einem leicht gefundenen Vorwand stieg Viktor die Treppe hinauf, gewöhnlich dann, wenn er sie oben beim nachmittäglichen Sticken und Nähen wußte. Doch Anfang Juni siedelten sie nach Barr über. Und damit wich viel Sonnenschein aus dem Hartmannschen Hause und setzte sich drüben an den blühenden Bergen fest. Auch täuschte der anregende Verkehr bei Pfarrer Blessig oder bei Lehrer Friese vom protestantischen Gymnasium, bei Pasquay in der Schlossergasse und besonders beim naturwissenschaftlichen Professor Hermann sowie eigenes Arbeiten und Unterrichten über manches hinweg. Doch unaufhaltsam nahte der Zusammenbruch.

Mitte Juni erhielt der Maire amtliche Kenntnis von den gegen ihn umlaufenden Anklagen. Minister Roland schrieb ihm, es habe sich das Gerücht verbreitet, daß der Maire und einige Verwalter die Stadt Straßburg den Feinden zu überliefern gesonnen seien. Dietrich verlas dem Gemeinderat diesen Brief und erbat sich Urlaub, um sich sofort zu rechtfertigen. Nach langer Debatte beschloß man, ihn nicht nach Paris ziehen zu lassen, weil er in Straßburg unentbehrlich sei. Dafür setzte der Gemeinderat eine Protestschrift wider die Verleumder auf, gerichtet an die Nationalversammlung, endigend mit den Worten: »Wir erklären Ihnen, und durch Sie dem ganzen Frankreich, daß Dietrich und die anderen öffentlichen Beamten, welche bei dem Minister des Innern angeklagt sind, allezeit unser Zutrauen genossen haben und noch genießen.« Viertausend Bürger unterschrieben die Adresse. Auch Hartmann, Vater und Sohn, setzten mit Wucht und Wonne ihre Namen darunter. Ebenso erließen benachbarte Gemeinden Entrüstungsadressen. Zwei Abgesandte brachten sie nach Paris und verlangten vom inzwischen entlassenen Roland, daß er die Verleumder nenne; doch er weigerte sich dessen.

Und schon kommt der zwanzigste Juni! Der Pöbel der Vorstadt Saint-Antoine überschwemmt das Tuilerienschloß und beschimpft den König und seine Familie. Die Radikalen und Republikaner jubeln. In der maßvolleren Bürgerschaft hingegen flammt zum letztenmal ein leidenschaftlich Mitgefühl mit dem bedrohten König empor. Proteste und Adressen fliegen nach Paris. Der König, mochte er schwach und schwankend sein, ward als letztes Bollwerk der Ordnung empfunden.

Auch Dietrich und die Straßburger Bürgerschaft nehmen in einer Protestadresse Partei zugunsten des Königtums; die Jakobiner in einer zweiten Adresse zugunsten der Republik. Jene ist von viertausend Bürgern unterzeichnet; diese von fünfhundert. Jene wollen die Urheber des zwanzigsten Juni bestraft sehen, besonders »jene Korporation von Verschwörern und Anarchisten, die unter dem Namen Jakobiner bekannt ist«; diese ermuntern die Gesetzgeber, »große Maßregeln« zu ergreifen, denn »die Tage der Gelindigkeit und Güte seien vorbei«.

Da sprach der entscheidende zehnte August das letzte Wort. Dieser Tag brachte den Tuileriensturm und damit das Ende des Königtums und den Sieg der Jakobiner.

Und nun, da Straßburgs Gesinnung so deutlich bekannt war; da vollends durch eine zweite, von mehr als 5000 Bürgern unterzeichnete Adresse diese königstreue Gesinnung noch schärfer betont wurde: nun konnte kein Zweifel mehr obwalten, welches Schicksal der Stadt am Rhein bevorstand.

Die Tuilerien verwüstet wie einst die Bastille! Die Schweizer und alle männliche Dienerschaft des Schlosses hingemordet, der König gefangen! Diese Nachricht war ein betäubender Schlag. Der Straßburger Gemeinderat glaubt eine Katastrophe nahen zu sehen; die Wachen werden verdoppelt, die Vorposten verstärkt, die Klubs geschlossen. Von Paris kommen vier Kommissäre der nun siegreichen Jakobinerpartei, freudig empfangen von den Straßburger Demokraten, die ihnen mit bekränzten Mädchen und Pikenträgern entgegenziehen. Der Gemeinderat wird abgesetzt, Dietrich vor die Schranken der Gesetzgebung gefordert.

Als der Maire und die Gemeindeverwalter ihre Schärpen ablegten, fiel manche Träne dumpfen Zornes auf dies Abzeichen ihrer Würde. Dietrich erklärte, daß er sich bereitwillig stellen würde, sobald er seine Verteidigungspapiere gesammelt habe, und erbat dazu eine achttägige Frist. Alles verlief in Ordnung; Straßburg blieb ruhig wie der Maire, der nächtlicherweile ohne Aufsehen nach seinem Waldgut Jägertal bei Niederbronn abreiste, um dort in der Stille seine Dokumente zu sammeln. Damit hatte des verdienstvollen Mannes Leidenszeit begonnen. Noch ehe die acht Tage um waren, erwirkte ein radikaler Abgeordneter der Nationalversammlung ein Verhaftungsdekret, wonach der Maire durch die Gendarmen vorgeführt werden sollte. Dietrich war bereits auf dem Wege nach Paris. Mit seiner Gattin fuhr er über Bitsch nach Metz; dort erfuhr er Genaueres über die Anarchie in der Hauptstadt und den Verhaftungsbefehl. And er entschloß sich, geordnete Zustände abzuwarten, entwich über die Grenze nach Deutschland und durch Pfalz und Baden nach der Schweiz ...

Viktor hatte diese Ereignisse unter leidenschaftlicher Spannung in sich aufgenommen. Sie lebten in ihm; sie formten seine Welt. Er fühlte sich mitbeteiligt. And er hatte sich's nicht nehmen lassen, noch einmal in die Privatwohnung Dietrichs vorzudringen und energisch für ihn Partei zu bekunden.

»Nur auf eine Minute, Madame!« rief er bewegt, als er mit anderen zudrängenden Bürgern vor der Frau des Hauses stand. »Ich muß Ihnen und muß unserm Maire die Hand schütteln, ehe Sie reisen!«

Dietrichs Gattin hatte vor kurzem einem spätgeborenen dritten Kinde das Leben geschenkt. Die bleiche Frau stand weinend inmitten der Freunde des Hauses, ohne die beiden Söhne, die sich im Kriege für das Vaterland herumschlugen.

»Sie meinen es gut,« sprach sie, »ich danke Ihnen allen, allen. Wissen Sie noch, wie wir an jenem Abend der Kriegserklärung einen Nationalgesang für die Armee ersehnten? Was für ein schönes Lied hat Rouget de l'Isle gefunden! Und nun haben es die Marseiller Demokratenbataillone, diese Briganten, diese Zerstörer der Tuilerien, auf dem Marsche nach Paris gesungen; ihnen singt es das Volk nach« – –

Der Maire war ins Zimmer getreten, ernst und gefaßt, überall Hände schüttelnd. Er vernahm die letzten Worte und fiel ein.

»Die Marseillaise? Ja, das flammt nun durch Frankreich und die Heere an der Grenze. Und welche Ironie! Dies Lied, durch meine Anregung hier in unsrem königstreuen Hause entstanden, war das Marschlied der Marseiller Republikaner und half das Königsschloß zertrümmern! Dafür also hab' ich jahrelang gearbeitet bis an die Grenzen meiner Kräfte! Dafür mein Herzblut gegeben, mein Vermögen erschöpft! Und muß nun bei Nacht und Nebel wie ein Verbrecher meine Vaterstadt Straßburg verlassen!« Es überwältigte den Maire. Er zog sich zurück.

* * *

In diesen Tagen war es, als der Nationalgardist Viktor durch die schwüle Straßenluft von einer Übung nach Hause marschierend, am Fenster des geschnitzten Erkers neben dem Vater ein fremdes Gesicht bemerkte. Es war ein junger schlanker Mann. Als Viktor hinaufkam, erkannte er den Fremden sofort an der Ähnlichkeit mit Leonie.

»Das ist Albert Frank!« rief er. »Sie kommen aus dem chaotischen Paris?«

»Aus Paris, ja, über Pfalzburg und Zabern,« erwiderte Albert. Auch in seiner etwas leisen und höflichen Stimme war er ganz Leonie. Und nicht minder in der freundlich rosigen Gesichtsfarbe und in den glänzenden, gleichsam schüchtern blickenden Augen. Zugleich war in ihm viel Festigkeit und ein stiller Ernst.

»Er will nach Mainz, unter Custine fechten,« erklärte der Alte. »Zuvor aber ein paar Wochen nach Barr.«

Sie setzten sich zum Essen. Albert ging nicht leicht aus sich heraus. Er hatte im Grenadierregiment »Filles Saint-Thomas« der Nationalgarde gedient und den zwanzigsten Juni in unmittelbarer Nähe der Königsfamilie miterlebt. Er schien verlegen, daß er am zehnten August den König nicht verteidigt habe.

»Aber wir haben nicht gewußt, wer eigentlich befehlen sollte und wohin zu marschieren war. Hätten wir einen General an der Spitze gehabt, wir hätten das Gesindel in Stücke geschossen. Denn sie sind feig; das hab' ich einmal auf dem Marsfeld erlebt.«

»Und wie war es am zwanzigsten Juni?«

»Wir haben um die Königin und ihre Kinder herumgestanden und haben sie vor dem Andrang des Pöbels geschützt, fast vier Stunden lang. Ich habe die Königin Ströme von Tränen weinen gesehen – so etwas vergißt man nicht mehr. Viele von uns hatten selber nasse Augen; und geplatzt sind wir fast vor Wut. Aber wir waren eine Handvoll gegen mehr als Zehntausend. Als der König endlich wieder in seinem Zimmer war und auch um die Königin Luft wurde, lief sie mit den Kindern zu ihm und hat ihn mit lautem Weinen wohl zehn Minuten lang umklammert. Wir hatten sie begleitet und standen dabei. O, die schmutzigen Reden, die sie vier Stunden lang hat hören müssen! Und der Geruch dieser Schnapsbataillone!«

Der hübsche, junge Bursche atmete schwer. Er schien sich zu schämen, hielt den Kopf gesenkt und spielte mit dem Tischmesser.

»König und Königin dankten uns mit Tränen in den Augen und wollten unsre Namen wissen. Ich hätte gern gesagt: ›Sire, ich bin ein Elsässer, und meine Landsleute verabscheuen diese Verbrechen und ehren Eure Majestät – aber wir schwiegen. Es war uns selber ums Heulen; wir bissen in die Lippen, und jeder schaute nach einer anderen Ecke. Unser Kapitän sagte endlich, und man spürte, daß es auch in ihm würgte: ›Wir haben nur unsere Pflicht getan, danken Sie uns nicht. Wir haben sie gern erfüllt und hätten noch mehr getan, wenn wir einen Lafayette an der Spitze gehabt hätten‹ ... Nun ist's mit dem König aus. Er war zu gut. Er hatte am zehnten August fast tausend Schweizer und zweihundert Edelleute. Er hätte sich und sein Haus und seine Würde verteidigen sollen bis auf die letzte Patrone. Er aber gab den Schweizern Befehl, nicht zu schießen. Nun ist alles aus. Er war zu gut.«

»Zu gut? Zu schwächlich!« rief der alte Hartmann mit zornrotem Kopfe. »Das ist kein Repräsentant einer tapfren Nation! Er hat seine Pflicht vergessen! Seine Pflicht war schon seit vielen Jahren, für sein hungernd Volk zu sorgen. Und gegen den Pöbel war seine Pflicht: Kartätschen!«

Viktor schlug auf den Tisch und stimmte bei. Die beiden Hartmanns flammten vor militärischem Zorn. Albert reiste nach Barr. Der Jüngling war still. Es umwölkte ihn noch lange der Pulverdampf der Tuilerien. Er flüchtete aus dem Unrat in die ehrliche Feldschlacht und wollte sich vorher im heiligen Bezirk des mütterlichen Hauses erholen.

Und tags darauf erhielt Viktor einen Brief aus Birkenweier: »Adelaide Mably, ist in Kolmar angekommen und in Pfeffels Landhäuschen Bagatelle angestiegen. Wollen Sie die Waise abholen und nach Barr bringen?«


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