Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Viertes Kapitel

Blutstropfen

»Den hätten wir gefangen, Addy!« rief Frau von Mably, als sie am vorausbestimmten Nachmittag durch die staubgraue Pappelallee des Schloßgartens davonfuhren. »Hinter uns der Tugendbund – vor uns das Leben!«

Der Sommer lag in schwerem, lastendem Blau an den Bergen. Die blühende Ebene an den Rebenhügeln strotzte von erdfester Kraft und Fruchtbarkeit.

Wohl waren in den letzten Tagen Schüler und Schülerinnen von einer musterhaften Aufmerksamkeit gewesen; die Baronin hatte den Hofmeister artig, ja gütig behandelt; offenbar hatte Birkheim gründlich mit den Seinen gesprochen. Und doch war es dem jungen Mann, als schüttelte er einen Zwang ab und entflöge mit einer Fee aus der Unnatur in die freie, wilde, schöne Natur. Es waren gestern abend Prinzen zu Tisch gewesen samt ihrer Schwester, einer hochvornehmen Äbtissin des Stiftes Andlau. Bei diesem Anlaß war der Hofmeister vom Tisch verbannt; heute jedoch saß er vor einer Prinzessin, die ihn gelten ließ.

»Sind Sie uns auch recht dankbar, Herr Hartmann«, daß wir Sie nach unserm Trianon und Sanssouci entführen?«

Mutter und Tochter saßen im Wagen dem Hauslehrer gegenüber. Adelaide schmiegte ihr madonnenfeines, aber etwas gemächlich-lässiges Backfischgesichtchen mit den verschleierten grauen Augen und den tizianblonden Locken an den Busen der Mutter, die in ihrer ganzen feinen, elastischen, jungreifen Frauenkraft den Gefangenen anstrahlte. Hartmann sah sich ohne Möglichkeit der Flucht zwei schönen weiblichen Gesichtern ausgesetzt. Der Wagen war mit einem kleinen Zeltdach überdeckt; Viktor mußte nach rechts und links mit den Blicken ausbiegen und die Landschaft aufsuchen, wenn er sich nicht in vier Augen verstricken sollte. Der etwas lang aufgeschossene Jüngling saß gebückt; und so kam sein Kopf naturgemäß den Mitfahrenden noch näher.

Frau von Mably strotzte von Angriffslust.

»Hier kann er uns nicht durchbrennen, Addy. Nun wollen wir ihn einmal tüchtig necken – necken bis aufs Blut!«

»Aber hör mal, meine kleine Mammy«, sagte Addy mit einem scherzhaft verweisenden Ton. »Bist wohl wieder einmal ein wenig übermütig? Ich habe dich wohl schon lange nicht mehr erzogen?«

Mutter und Tochter standen in einem von Frau Elinor selber großgezogenen Neckverhältnis. Die manchmal ein wenig schlaffe und ungelenke Addy konnte äußerst reizend und lebhaft werden, wenn ihre genialere Mutter etwas von der eigenen Elektrizität auf sie übersprühte. Die beiden hingen zärtlich aneinander. »Wie zwei jungi Kätzle«, pflegte der elsässische Kutscher Hans aus Uhrweiler im Unterland zu sagen, ohne daß er aber ein anerkennendes Schmunzeln unterdrücken konnte. Denn die Dienstboten hatten es gut bei der lebenslustigen Dame, sofern sie nicht gerade ihre Gewitterlaune hatte, wo es dann freilich rechts und links auf gut und böse einschlug.

»Wir erziehen uns nämlich gegenseitig, Addy und ich«, erklärte Frau von Mably ihres Töchterchens Bemerkung. »Wenn ich einmal meine Regenstimmung habe und den ganzen Tag weine –«

»Kommt das vor?« fragte Hartmann mit ungläubigem Lächeln.

»O ja, das kommt vor«, bestätigte sie ernsthaft. »Dann tröstet und streichelt mich dies längliche Gestell. Und wenn ich zu ausgelassen bin, warnt sie mich mit einem vielsagenden ›Aber Mammy?!‹. Macht sie aber ihrerseits Dummheiten –« »Kommt das vor, Fräulein Addy?« fragte Hartmann abermals mit noch ungläubigerem Lächeln.

Addy verbarg etwas kokett-verschämt das Gesicht an ihrer Mutter weißem Busentuch, so daß nur die geringelten Locken zu sehen waren. Dann wandte sie sich wieder ein wenig empor und schaute mit ihren großen grauen Augen stumm den Hauslehrer an. Sie war gewohnt, daß man sie nicht beachte. Und so pflegte das schmale Geschöpfchen mit der rosarot überhauchten marmornen Gesichtsfarbe seinen eigenen Gedanken nachzuträumen, soweit diese Gedanken nicht im Taktschlag der Mutter gingen.

»Ob das vorkommt?« fuhr die Marquise fort. »Das will ich meinen! Dies Mädchen ist zwar meine Tochter, aber sie hat keine einzige meiner Tugenden. Dafür hat sie sämtliche Untugenden eines aus Deutschland oder Österreich stammenden Urgroßvaters geerbt. Sie ist schwerfällig, faul, genäschig – ja, man kann geradezu sagen –«

»Willst du wohl, Mammy?!«

Addy schoß empor und hielt ihrer Mutter den Mund zu. Hartmann lachte laut auf. Die Marquise aber fuhr unter Addys langer Hand undeutlich zu sprechen fort, bis ihr das Mädchen mit Küssen den Mund verschloß.

»Schmeichlerin, du willst die Wahrheit hinwegküssen? Oh, das hilft dir nichts. Wahrhaftig, Herr Hartmann, das Mädchen schlingt manchmal mit einem Wolfshunger Küche und Keller leer, ja, ja, so ätherisch sie auch aussieht! Nachher legt sie sich in die Hängematte und schläft wie ein gefüllter Tiger, der zwei bis vier Hindus verspeist hat. Will ich sie aber zu einem Spaziergang ermuntern, so rekelt sie sich lang aus wie eine Spinne: ›Ach, ich bin so müde!‹ Indessen, ich muß gerecht sein, sie hat auch einige Tugenden. Wenn ich mir z. B. Bonbons und Backwerk zurückgelegt habe, so nascht sie mir's weg, damit sich Mammy den Magen nicht verderbe.«

Hartmann lachte diesem Sprudelquell von Worten gegenüber, er lachte, selbst auf die Gefahr hin, geschmacklos zu werden und seine Muskeln zu verzerren. Jetzt aber schien Adelaide aus ihrer trägen Ruhe aufgestöbert und setzte sich ernsthaft zur Wehr.

»Mammy, wenn du dich nicht sofort ruhig verhältst, so plaudr' ich nun auch von dir aus!«

Frau von Mably schloß sie in die Arme und küßte sie stürmisch.

»O mein kleines, liebes, zuckriges Schäfchen du, ich liebe dich ja so närrisch, du meine einzige Freude auf der Welt! Meine süße kleine Addy, wie oft haben wir zwei uns schon in den Schlaf geweint! Arm in Arm, nicht wahr, mein Engel!«

Der merkwürdigen Frau standen plötzlich Tränen in den Augen. Addy sah es und küßte ihr säuberlich und zärtlich beide Augen. Dann legte sich das Kind wieder still an der Mutter Brust, den Arm um ihren Hals schlingend. Frau Elinor aber schaute mit verändertem Ausdruck in die Landschaft hinaus und schwieg.

Hartmann bemerkte die Veränderung erstaunt und war taktvoll genug, das Gespräch auf die Landschaft abzulenken. Er sprach von den alten Bergschlössern des Wasgenwaldes. Überall auf diesen ansehnlichen Waldbergen zeichneten sich ihre Türme und Fensterhöhlen in den blauen Duft, umbüscht von weitläufigen, sagenreichen Waldungen.

»Wie reizvoll mittelalterlich ist jenes Städtchen Reichenweier! Und Kaysersberg, Türkheim, Zellenberg, Hunaweier, Kienzheim, Rufach, Rappoltsweiler – wieviel alte Geschichte birgt sich in all diesen Stadtnestern am Vogesenrand! Blicken Sie nur einmal hier hinaus, wieviel Burgruinen man von hier aus gleichzeitig sieht! Dort die Hohkönigsburg, breit wie eine Stadt auf dem Berge, darunter lauert in irgendeiner Nische Kienzheim, hier die drei Schlösser der Herren von Rappoltstein: ganz oben der Turm im Walde ist Hoh-Rappoltstein, dort das gestaffelte, gebäudereiche Schloß mit den schönen romanischen Pallasfenstern ist die Ulrichsburg, und daneben das steile Giersberg. Im nächsten Seitental heben sich Ortenburg und Ramstein vom Himmel ab, und weiter hinten im Weilertal die hohe und einsame Frankenburg. Südwärts die Hohlandsburg; weiter im Norden würden wir in der Gegend von Barr die alten Bergschlösser Andlau, Spesburg und Landsberg finden; vom Odilienkloster aus könnten wir den umwaldeten Turm von Girbaden sehen und um die uralte Heidenmauer her Kageneck, Birkenfels, Hagelschloß, die Dreisteine und gleich davor, am Fuße des Elsbergs, die beiden Ottrotter Schlösser. Und so ist's im schönen Elsaß aller Enden – –«

»So seh´ ich Sie gern, Herr Hartmann!« unterbrach plötzlich Frau Elinor. Sie hatte ihn emsig betrachtet, aber kaum zugehört. »Nämlich: wenn Sie ins Erzählen kommen und ein wenig warm werden, so belebt sich Ihr Gesicht, und es ist dann ordentlich ein Leuchten darin, und entzückende Fältchen spielen um Ihren Mund herum, daß man den kleinen Pedanten gar nicht mehr erkennt. Nicht wahr, Addy?«

Hartmann geriet durch diese körperhafte Bemerkung völlig aus der Fassung. Er hatte sich über seine Heimat und deren Schlösser ausgebreitet und sah nun plötzlich die Aufmerksamkeit seiner Zuhörerinnen auf seine Person versammelt, nicht auf seine Worte. Das ärgerte den Lehrer, das war ihm lästig. Er schwieg verlegen und etwas verdrossen.

»Hab' ich Sie mit meinen Worten geärgert?« fragte die scharfsichtige Frau und streckte ihm sofort die Hand hin.

»Durchaus nicht, Madame«, beeilte er sich mit verbindlichem, aber verlegenem Lächeln zu versichern. »Ich war nur einen Augenblick überrascht, daß es mir nicht gelungen ist, Sie bei den Schönheiten unserer Landschaft festzuhalten.«

Sie hielt seine Hand fest. »Ein schlechter Anfang, nicht wahr! Aber das ist ja das Liebenswürdige an Ihnen, Sie drolliger Herr Schwärmer, daß Sie in solchen Augenblicken alles um sich her vergessen. Addy, halt einmal seine andre Hand fest! Er wird nicht eher losgelassen, bis er feierlich verspricht, uns nie eine Neckerei übel zu nehmen. Nun, mein gelehrter Herr, werden Sie das gütigst versprechen?«

Das Mädchen ging sofort auf den Scherz der Mutter ein und hielt mit beiden Händen Hartmanns Linke fest. Der Bedrängte mußte wohl oder übel seine Tonart auf den Scherzton seiner mutwilligen Begleiterinnen einstellen und bedingungslos auf ihre Manier eingehen. Er versuchte gleichfalls ein Schelmengesicht zu machen. »Und wenn ich nun nicht verspreche?«

»Allerliebst! Addy, was für ein allerliebstes Spitzbubengesicht hat dieser korrekte Herr Lehrer auf Lager! Aha, mein Lieber, nun sind Sie durchschaut! Addy, gesteh einmal ehrlich: hättest du diesem Herrn Hartmann ein solches Gaunerlächeln zugetraut?«

»Nein wirklich, Herr Hartmann, Sie sind ein Schlauer!« unterstützte Addy lachend und hielt mit ihren warmen länglichen Händen seine Hand noch fester. Es schien, als ob ihr dieser scherzhafte Angriff ebenso angenehm wäre wie der Mutter.

»Sie wollen also nicht versprechen, Herr Gefangener?« fuhr die übermütige Pariserin fort. »Nun, so setzen wir Sie in eins der Verliese da oben auf einer Ihrer langweiligen, verschimmelten Burgen. Addy, zum Angriff!«

Und im Nu schwang sich die kleine Marquise auf den Vordersitz neben den Verblüfften, Addy auf die andere Seite – und er fühlte die warme, weiche Hand der lustigen Frau an seiner Halskrause, während sich Addys fix nachahmende Hand an seinen Nacken legte. »Wollen Sie versprechen?« rief die Mutter mit gut geheucheltem Grimm. »Wollen Sie versprechen?« tönte das Echo des lachenden Töchterchens.

»Zu Hilfe!« rief der Gefangene, auf den kecken Scherz eingehend. »Räuber! Mörder! Ich verspreche alles und noch mehr.«

»Bedingungslos?«

»Bedingungslos!«

»Gut! Addy, laß los! Er nimmt also fortan keine Neckerei mehr übel.«

Und sie saßen ihm wieder gegenüber.

»Ausgelacht!« rief die Marquise und schabte ihm ein Fingerchen. »Ausgelacht!« kam Addys Widerhall. »Ausgelacht!« rief aber auch Hartmann, »es war ein erzwungenes Versprechen, und diese braucht man nicht zu halten!« »Das sind ja schöne Grundsätze!«

Frau von Mably markierte die Entsetzte und sah ratlos ihre Tochter an, die gleichfalls ein überraschtes Gesicht zu ziehen versuchte und ihrerseits die Mutter anschaute. »Addy, da sind wir nun geprellt worden. Was fangen wir denn jetzt mit ihm an?«

Addy zog in scheinbarem Nachdenken die Stirne kraus, dann, als wär' ihr ein rettender Gedanke gekommen, sagte sie plötzlich:

»Weißt du was? Lassen wir ihn eben laufen!«

»Gut, lassen wir ihn laufen! Danken Sie Ihrem Schöpfer, Viktor Hartmann, daß wir zwei liebenswürdige Geschöpfe Gnade für Recht ergehen lassen. Sonst wären Sie jetzt nicht mehr lebendig, sondern lägen hier irgendwo erdrosselt in den Reben!«

»Welch ein angenehmer Tod!« lachte Hartmann, dem der lustige Angriff ordentlich das Blut in Umlauf gebracht hatte, und der anfing, dieser Art von Unterhaltung Geschmack abzugewinnen.

In diesem Augenblick vernahm man von hinten her die jubelnde Stimme des kleinen Fritz von Birkheim. Und gleich darauf sprengte der Junge auf Sigismunds Pony zu allgemeiner Überraschung aus einem Seitenweg hervor.

»Triumph! Da hab' ich euch eingeholt!« rief der Knirps und schwang sein Barett. »Fanny sagte, ich würd' euch nicht einholen! Da seht ihr's nun! Addy, willst du Pony reiten?«

»Aber, Fritz, dich können wir heute nicht brauchen«, wies ihn der Hofmeister zurecht. »Und eure Tanzstunde?«

»Herr Favre ist krank, die Lektion fällt aus, da bin ich euch nachgeritten.«

»Mammy, darf ich?«

Addys Augen leuchteten vor Eifer; sie wurde ganz lebendig und wollte sofort vom langsam durch die Weinberge hügelan fahrenden Gefährt abspringen. Frau von Mably rief dem Kutscher zu und ließ halten.

»Aber, Fritz, wenn sie dich zu Hause vermissen?«

»Fanny weiß es. Komm, Addy! Ich reite bald wieder zurück und fürchte mich nicht.« Schon war der Kleine abgesprungen und half der bedeutend längeren Spielkameradin aufs Pferd.

»Weißt du, Jean,« rief die Marquise dem Kutscher zu, »wir machen das einfach so: Herr Hartmann und ich gehen den Weinberg hinauf und treffen dich wieder oben auf der Höhe. Die Kinder können mit dir auf der Straße bleiben; behalt sie im Auge! Und wartet oben, falls ihr vor uns dort seid!«

Die behende Frau sprang vom Wagen. »Ah, wie das wohl tut, einmal wieder die Füße zu gebrauchen! Also voran, Kinder! Herr Hartmann und ich gehen den Fußweg. Daß mir meine Kleine nicht auf die Nase fällt! Fritz, paß auf deine Dame auf!«

Hartmann hatte das Spitzentuch der Marquise über den Arm genommen und schritt neben ihr her in den Hohlweg.

Es wuchsen dort üppige Hecken, es standen am hohen Rain lange Gräser, und dahinter dehnten sich die endlosen Reben. Nach dem lauten, übermütigen Schwatzen und Lachen und dem Geräusch des Wagens war es in dieser umwachsenen Enge wunderbar still. Sie gingen schweigend nebeneinander her, Hartmann in einem nervösen inneren Beben. Er ahnte dunkel das Bevorstehende. Und er fühlte, daß er nicht die Führung in Händen hatte.

Plötzlich blieb sie stehen und schaute ihm voll ins Gesicht.

»Sind Sie mir böse?«

»Weshalb sollt' ich Ihnen böse sein?«

»Bin ich zu übermütig?«

»Haben Sie mir nicht in Ihrem Briefe zur Bedingung gemacht, daß Sie sich ganz so geben dürfen, wie Sie sind? Ich muß vielmehr meinerseits um Entschuldigung bitten, falls ich einmal, auf Ihre Scherze eingehend, den erforderlichen Respekt verletzt haben sollte –«

»Und so weiter! Ach Sie Guter, Sie allzu Ängstlicher, Sie kleiner Hasenfuß, das können Sie ja gar nicht! Ich möchte wohl wissen, wie es Herr Viktor Hartmann anfängt, wenn er einmal verliebt ist und sich seiner Angebeteten erklären soll. Gewiß muß er sich aus einigen Flaschen den nötigen Mut antrinken. Haben Sie überhaupt jemals gewagt, ein Mädchen zu lieben oder gar zu küssen? O köstlich, er wird rot, er wird wahrhaftig rot! Und ich garstiges Geschöpf necke den Ärmsten schon wieder! Nun, das kann ja ein heitrer Unterricht werden! Im Ernst, mein Lieber, seien Sie mir wieder gut, ich will nun ganz ernsthaft sein. Und pflücken Sie mir zum Zeichen unsrer Versöhnung die Rose dort, die so vereinzelt in den Hecken hängt und sich gewiß nach einem warmen Menschenherzen sehnt!«

Viktor arbeitete sich gewillig an der Böschung empor; sie hatte ihm das Tuch abgenommen, stand und wartete. Er brach die Blume geschickt aus den Dornen heraus, wollte wieder zurückspringen, rutschte aus und griff mit ganzer Hand in den wilden Rosenstrauch, was ihm einen unwillkürlichen Schmerzenslaut entpreßte. Wohl sprang er noch auf beide Füße; aber schon besah er auch die Hand: Dornen saßen in den Fingern, und Blut quoll heraus.

»Ach, Sie Armer, was machen Sie denn?! Da hab' ich Sie nun zu einer schönen Dummheit verführt! Und gerade noch die Schreibhand! Schnell die Dornen heraus!«

Die Marquise packte die wunde Hand, zog sie nahe heran, so daß er ihren Atem spürte und ihr pochend Herz vernahm, und zupfte mit feinen, spitzen Fingern sorgfältig die kleinen Dornen heraus. »Wie es blutet! Ach, zu all den bösen Neckereien des Tages auch noch Wunden!« Sie zog ihr Batisttuch aus dem Busen empor und tupfte, trotz seines leisen Einspruchs, das Blut hinweg. »Diese liebe, fleißige Hand!« Und plötzlich tat sie, was sie wohl bei Addy gewohnt war: bebend fühlte er, der in einer Art Betäubung vor ihr stand und willenlos mit seiner Hand verfahren ließ, ihren Mund an seinen Fingern; sie saugte ihm die Wunde aus. Aber hatte sie sich zuviel zugemutet? Im nächsten Augenblick erblaßte sie, schwankte ein wenig, taumelte – und hätte Hartmann sie nicht festgehalten, sie wäre vielleicht hingefallen. Leicht gebogen, wie eine Rosenranke, hing die kleine, geschmeidige Gestalt über seinen Arm, die Augen geschlossen, das runde rote Mündchen halb geöffnet. Hals und Brust leuchteten weiß empor, sie schien erblaßt, das Tuch fiel zu Boden. »Lieber Freund,« lächelte sie matt und schlug die Augen flüchtig auf, um in sein verwirrtes Gesicht zu schauen, »haben Sie Nachsicht mit mir schwachem Geschöpf. Ich kann kein Blut sehen.« Aber sie veränderte ihre Haltung nur wenig, lehnte den Kopf inniger an ihn, und ein emporschmachtender Ausdruck mit einem tiefen Seufzer überglühte nun das ausdrucksvolle, sprechende, eben noch so blasse Gesichtchen, das jetzt von einer mädchenhaften Süße schien. Hartmann verstand, was dies alles wortlos zu ihm sagte; es zog ihn tief und tiefer; und als sein Gesicht dem ihrigen nahe war, riß sie in plötzlich ausbrechender Leidenschaft seinen Kopf herunter und küßte ihn zuerst mehrmals auf den Mund. Dann schlang sie beide Arme um seinen Hals und legte bebend den Kopf an die Brust des nicht minder bebenden Jünglings.

Aber wiederum sprang sie zuerst von ihm hinweg, warf hastig einen Blick nach beiden Seiten des Hohlwegs, ergriff seine Hand und küßte die Finger abermals, nicht achtend auf seinen abwehrenden Laut. Und ihr duftendes Taschentuch um die zwei verwundeten Finger wickelnd, flüsterte sie: »Behalten Sie's, als Andenken an diese Stunde!« Mit zärtlich berauschten Blicken sah sie wieder zu ihm empor, riß sich aber los, warf ihr Halstuch um und schritt energisch weiter. »Wir müssen gehen.« Doch streichelte sie von Zeit zu Zeit leise liebkosend die verbundene Hand des schweigend zu ihrer Linken wandernden Begleiters. Und plötzlich blieb sie stehen und schaute ihm wieder mit verzückten Augen ins Gesicht. Gleichgestimmte Blicke flogen ineinander. Sie fielen sich wortlos in die Arme und küßten sich.

Dann ließ sie sich von ihm das Halstuch wieder zurechtlegen und schritt sittsam neben ihm her, manchmal nur von der Seite her sein Auge suchend. Und unmittelbar vor dem Ausgang, als sie schon die Kinder und den Kutscher hörten, packte sie ihn am Arm und zischte mit wogendem Busen ihre stürmische Erregung zu ihm empor: »Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich!«

So kamen sie zu den Kindern. Und nun war die elastische kleine Marquise mit einem Schlage wiederum verwandelt. Sie war die Unbefangenheit selber; sie erzählte mit einem Schwall von ausmalenden Worten den kleinen Unfall; sie war voll von einem meisterhaft gespielten Mitleid und steckte alle Welt mit gleichem Mitleid an. Und so drehte sich fortan das Gespräch um die verwundete Hand des Herrn Hartmann, der in der Tat recht verwirrt war und seine Gleichgewichtslage noch nicht wieder gefunden hatte.

»Ich möchte Sie fast bitten, mich für heute zu beurlauben«, sagte der Jüngling endlich.

»Gewiß, Sie Ärmster«, erwiderte Frau Elinor. »An Unterricht soll heute nicht gedacht werden. Aber mit uns hinüber müssen Sie auf alle Fälle; wir werden Ihnen einen ordentlichen Verband anlegen. Die Pferde ruhen ein wenig aus, wir legen uns den Unterrichtsstoff für das nächste Mal zurecht, und dann können Sie zurückkehren, sobald Sie Lust haben.«

»Fritz kann ja wohl mitkommen?« fragte der Hauslehrer. Er hatte das Bedürfnis, den Jungen um sich zu haben.

»Fritz kommt mit, ja wohl, damit Ihnen bei uns nichts geschieht«, versetzte Frau von Mably. Und etwas vom alten Spott zuckte aus ihrer Stimme und den blitzenden Augen. »Allez, Kutscher, voran!«

Addy stand magnetisch mit dem Gefühlsleben der Mutter in Verbindung. Lebhafte Schwingungen der letzteren sprangen auf das Kind über. Auch in diesem Falle spürte Addy die Erregung, die sich der beiden Liebenden bemächtigt hatte. Sie schob die Ursache auf die Verwundung, die sie für bedeutend gefährlicher hielt, als sie in Wirklichkeit war. Und so wurde das gefühlvolle Mädchen in denselben Strom hineingezogen, der auch die Mutter durchrann; aber in ihr verwandelte sich, was bei der Mutter Leidenschaft und Liebe war, in ein kindliches Mitgefühl.

Sie fuhren durch das Gartentor an der langen weißen Villa vor. Hartmann war erst einmal und flüchtig mit seinen Zöglingen hier gewesen; der Verkehr der Frau von Mably mit den Birkheims war kein allzu inniger; über Vestibül und Empfangszimmer war man nicht hinausgekommen. Jetzt führte ihn die Herrin des Hauses in die inneren Räume, die mit ihren tausenderlei Nippsachen, Gemälden, Vasen, Medaillonbildern einem kleinen Museum glichen. Jahrhundertelange Tradition hatte hier gesammelt. Von den Wänden grüßte eine ganze Ahnengalerie.

»Ich habe mir aus unserem Pariser Hotel nur wenig mitgenommen,« bemerkte die Herrin gleichwohl gelassen und obenhin, »nur das, was mein Herz liebt.«

»Das ist erstaunlich viel«, dachte Hartmann, der auch hier wieder Zeit brauchte, um sich zurechtzufinden.

Während sich Frau Elinor umkleidete und Fritz in Stall und Wirtschaftsräumen umherstrich, saß die gute Addy traulich bei dem Verwundeten. Sie hatte Schwamm und ein Waschbecken mit warmem Wasser gebracht und behandelte nun Hartmanns Finger. Der junge Mann war erstaunt, so viel schmeichelnde Zartheit in diesem Kinde zu entdecken. Sie plauderte mit den Fingern, als wären es lebendige Wesen; dabei erhob sie manchmal mit schalkhaftem Lächeln die grauen Augen von der Seite her und äugte zu ihm empor, ob er wohl dazu lächle.

Er blieb ernsthaft und ließ sie gewähren. Und wie er so saß und auf ihr länglich Köpfchen schaute, auf die sanfte Wölbung der Stirn, auf die mild geschwungenen Augenbrauen und die gerade Nase, da war es ihm, als wäre eine Raffaelsche Madonna gütevoll zu ihm getreten, besonders wie sie auf dem Verlobungsbilde gestaltet ist. Es war ein wohliger Ausruhezustand nach den Leidenschaften der Mutter; er überließ sich gern den Berührungen ihrer schlanken Finger.

Plötzlich schoß ihm die Erinnerung an jenen nächtlichen Spuk in den Kopf: Leo Hitzinger! Und sofort auch die Erkenntnis: Dies Mädchen ist es, Addy ist es, die jener Abbé gesehen hat!

Er hatte diese Einzelheit vergessen gehabt. Jetzt schoben sich ihm jene Bilder wieder ein; er sah den mächtigen Löwenkopf des Priesters mit seinen großen Augen diesem Kinde nachschauen, er sah ihn am Straßenrande sitzen und über seine unreinen Sinne weinen. Addy war es, diese Addy, deren seelenvolles Gesichtchen so madonnenhaft auf jenen Verirrten einwirkte!

Hartmann betrachtete das Kind mit neuen Augen. Er forschte mit Vorsicht, ob Addy und ihre Mutter mit Priestern der Umgegend bekannt wären.

»Mit dem Rektor Pougnet in Rappoltsweiler«, versetzte Addy unbefangen. »Wir gehen dort manchmal zur Beichte und Kommunion.«

Das war ja wieder etwas Neues. Diese lustige Frau Marquise geht zur Beichte?! Diese Verehrerin Voltaires spöttelt öffentlich – und kniet heimlich am Beichtstuhl?!

Der Protestant sah sich vor Rätsel und Widersprüche gestellt. Er fand sich in eine fremdartige Welt versetzt und ahnte künftige Verwicklungen. Schlag auf Schlag enthüllten sich seinem inneren Blick die Widerstände. Ihr Gatte – warum hörte man so wenig von dem Marquis? Denn diese Frau hat ja einen Gatten! Diese Frau ist gebunden, sie ist von hohem Stand, sie ist eine ganz anders geartete katholische Südfranzösin – Abgründe zwischen ihm und ihr! Und in traumwandelndem Zustande war er in diese Abgründe hineingesprungen, mitten hinein, dort im Hohlweg an der Rosenhecke, und sah sich nun verstrickt mit allen Sinnen!

Die kleine lebhafte Frau, umflossen von einem weit wallenden, rotseidenen, spitzenbesetzten Hauskleide, trat in ihrer ganzen sieghaften Anmut wieder ein. Alles Trennende – Konfession, Stand, Ehe – verschwand; und ihn erfüllte bei ihrem Anblick ein süßes Verlangen.

Addy wurde gelobt, auf die Wange geküßt und entlassen.

»Wenn meine Kleine etwas verbindet, so heilt es tadellos. Brav, mein Herz! Komm, kriegst einen Kuß – halt, gleich zwei, einer ist von Herrn Hartmann als Dank für treue Pflege. Nun adieu! Geh zu Fritz! Wenn wir euch brauchen, ruf´ ich.«

Addy wischte sich lachend und errötend ob des Kusses »von Herrn Hartmann« über beide Wangen und verschwand mit dem Waschbecken. Die Marquise zog die Gardinen zu, nahm mit Unbefangenheit Hartmanns Arm und führte ihn vor die einzelnen Wandgemälde.

»Ich will Sie meinen Verwandten und guten Freunden vorstellen«, sagte sie. »Hier finden Sie nur solche, denen ich gut bin. Die andren sind in Paris und mögen dort bleiben.«

Ihr Gatte war nicht darunter. Sie nannte die langwierigsten Namen und Titel von Geschwistern, Eltern, Großeltern und andren stattlichen Perücken und Coiffuren. Es waren zum Teil sehr alte, prachtvoll und prunkhaft in Öl gemalte Bildnisse mit unübersehbaren Geschichten und Ehrungen, die sie kurz und geistvoll erwähnte. Wollte die hochgeborene Grafentochter aus der Provence dem einfachen Lehrer gegenüber wieder den Abstand herstellen? Wollte die provenzalische Schloßherrin ihren Wert erhöhen, indem sie ihren uralten Adel vor ihm vorüberwandern ließ? Kaum. Denn mit einem Ruck blieb sie stehen, umschlang ihn mit beiden Armen und flüsterte heiß zu ihm empor: »Dich aber allein liebe ich, mein Freund! Tausend Beweise meiner Liebe will ich dir geben! Ich habe nie empfunden, glaub mir, was Liebe ist – jetzt aber weiß ich es, o mein Geliebter, glaub mir, ich bin dein!«

Er setzte sich auf den Diwan, sie schwang sich gewandt und geübt auf seine Knie und legte ihr Gesicht an das seine, mit einem trunkenen, weltvergessenen Ausdruck. Er wurde von demselben Rausch wie dort im Weinbergweg ergriffen und suchte nun zuerst ihren Mund.

»Mein Freund, mein Geliebter, mein Gatte!« flüsterte sie mit ihrem tuschelnd leichten Französisch, das auf ihren küssenden Lippen zu sitzen schien. »Weißt du auch, daß ich ein Andenken an jenen Spaziergang im Weinberg behalten habe? Auf mein Busentuch fiel ein Blutstropfen von deiner Hand. Und ein zweiter« – mit leiser Stimme sprach sie gleichsam in seine Lippen – »fiel zwischen dem Tuch tiefer hinab – auf die Brust. Küß mir ihn fort, sonst bringt er Unglück!«

So verwob die Berauschte dieses Blutströpfchen in ihr Liebesspiel und forderte das Schicksal heraus. Doch die Stimmen der Kinder wurden in diesem Augenblick laut, und sie sprang rasch von seinen Knien herunter.

»Geh fort für heute, Geliebter! Du raubst mir die Besinnung!«

Die flammende Südländerin bedeckte sein Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen.

»Geh fort für heute, wir verraten uns!«

Und die Liebende besaß Geistesgegenwart genug, mit einem graziösen Kuß seine Frisur zu ordnen, flink einen Blick in den Spiegel zu werfen, dann »Werthers Leiden« aufs Geratewohl aufzuschlagen und auf den Tisch zu legen, als hätte man darin gelesen. Nun erst rief sie durchs Fenster den Kindern zu, sie möchten den Kutscher anspannen heißen und hernach hereinkommen.

Als sie die Kinder heranspringen hörte, ersuchte sie den Hauslehrer, laut zu lesen, und heuchelte eine aufmerksam zuhörende Stellung. Der Erhitzte rollte mit lauter, bebender Stimme Werthers leidenschaftliche Melodien auf:

»Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: ›Das ist`s‹, da alles vorübergeht? Da alles mit der Wetterschnelle vorüberrollt, so selten die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach, in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an den Felsen zerschmettert wird? Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist, sein mußt! Der harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das Leben; es zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha, nicht die große, seltene Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumle ich beängstigt, Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheuer.«

Der berauschte Liebhaber warf das Buch auf den Tisch. Er empfand diese Gedanken, die noch einem Faust und Tasso die Seele beängstigen, als haltlos und schwächlich.

»Ein Schwächling, dieser Werther! Dieser Werther vergißt, daß aber auch in jedem Augenblick die Natur Neues schafft! Es muß das Alte vernichtet werden, wenn Raum werden soll für neue Kraft. Stirbt der schläfrige Mensch in uns, so erwacht der elastische Mensch. Er soll sterben, jener schlaffe Mensch, fort mit ihm!«

Die Marquise, die dem Dienstmädchen Erfrischungen abnahm und an die Kinder verteilte, unterbrach sich in ihren Hantierungen und warf ihre funkelnden Blicke herüber.

»Ja, Herr Werther, was liegt daran, wenn einer über die freie Steppe sprengt und ein paar krabbelnde Käfer zertritt? Will das Geziefer ewig leben? Wer von uns Sterblichen lebt ewig? Die Liebe ist ewig – sonst nichts! Und wer Liebe erfahren, sei's nur ein Stündchen, der sterbe – denn er hat gelebt! – Kinder, allerliebste Naschkätzchen, trinkt, schleckt, schlürft! Das Leben ist kurz, aber süß!«

Der Kutscher knallte.

»Schon?« bedauerte Addy. »Wie schade!«

»Auf baldiges Wiedersehen!« sagte die Frau des Hauses glutvoll, innig und vornehm, indes sich der Hofmeister mit tiefer Verbeugung über ihre Hand neigte.

Die kleine Frau winkte den Abfahrenden aus dem Fenster nach. Dann zog sie sich auf ihr Zimmer zurück und weinte ihre Erregung aus.


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