Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Drittes Buch: Steintal

Erstes Kapitel

Gottesdienst im Steintal

Auf den zerstreuten Granitblöcken zwischen den Ginsterstauden der Perhöhe rauchte der feine Tau in die Morgensonne. Der Nebel hatte sich verflüchtigt; das Gebirge stand entschleiert. Das mächtige Licht war über das Hochfeld herübergestiegen; sein leuchtend stiller Glanz durchdrang das ganze Steintal.

Von Waldersbach herauf kam langsam und besinnlich ein hoher, etwas schmächtiger und gebückter junger Mann in der dunklen Sonntagskleidung des Geistlichen oder Gelehrten. Er trug den Mantel auf dem Arm und ein offenes Heft in der Hand. Häufig blieb er zurückschauend stehen, tauchte den Blick in die großartige, duftblaue, von Nebelwölkchen umwogte Gebirgswelt, atmete tief auf und setzte dann sein Schreiten fort.

Auf der Höhe breitete er das Getüch sorgsam über einen der kleinen Felsensitze, strich darüber, nahm Platz und trug nach diesen etwas umständlichen Vorbereitungen mit lauter Stimme den versammelten Stauden und Halmen eine Rede vor.

»Meine lieben Brüder und Schwestern! Groß ist die Würde des Menschen, des Sohnes der Freiheit, des Eigentümers der Vernunft. Erhaben ist die Bestimmung des Menschen, des Herrn der Erde, des Erben der Ewigkeit. Unser aufrechter Gang, unsere Stimme und Sprache, das Angesicht als Spiegel der Seele, all unsere vielfältigen Kräfte und Gaben lehren uns, daß fortschreitende Vervollkommnung das Ziel unsres Daseins ist. Bei allen meinen Handlungen und Neigungen muß ich dieses Ziel vor Augen haben. Ich soll durch Bessermachen besser werden. ... Wie nun aber, meine Mitbürger, wenn uns gewaltsame Ereignisse in diesem Entwicklungsgang hemmen? Wie nun, wenn wir uns bei reinsten Absichten in unsren Mitteln irren? Wenn wir Schaden anrichten statt der Verbesserung? Wir sind vielleicht durch die Sinnlichkeit zu Taten verleitet worden, die unser Gewissen verletzen: womit werden wir es heilen? Menschliche Bosheit hat vielleicht die Früchte unseres Fleißes und die Wonnen unsres Familienlebens vernichtet: wer wird unsre Bitterkeit mäßigen? Wir sehen vielleicht um uns her das Gemeinwesen ausgesetzt den niedrigsten Leidenschaften, wir sehen uns umringt von Kränkungen, Irrtümern und lasterhaften Geschehnissen: – wer, meine Freunde, wird unsren Glauben an die Würde des Menschen sicher durch dieses Meer von Blut und Tränen steuern? ... Denn wir alle sind in diesen schrecklichen Zeiten verwundet worden. Sei es ein Blutströpfchen, das uns leidvoll in der Seele brennt, sei es eine schwere Wunde, die wir tragen oder am Nachbar mitfühlend zu lindern suchen – wir alle wissen von Wunden zu erzählen. Und viele sitzen wie Hiob und fragen unter Seufzen empor, ob nicht ein Erlöser nahe, ein ruhevoller Freund, der uns in dieser fiebernden Welt wiederum das Ewige offenbare und bleibend in uns befestige ... Darum seien dieser Ansprache, der ihr mich heute in eurem gastlichen Steintal würdigt, zwei Worte aus dem heiligen Buche zugrunde gelegt. Das erste Wort schaut schwermutvoll auf diese Erde voll Blut und Revolution und spricht (Psalm 90,5): ›Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, und sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird; das da frühe blühet und bald welk wird, und des Abends abgehauen wird und verdorret.‹ Das zweite Wort schaut lebensgewiß gen Himmel und wird von dem mächtigen Freunde Jesus zur Samariterin gesprochen (Joh. 4,14): ›Wer aber des Wassers trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten‹« ...

So sprach der Lernende. Und nun richtete er, von dieser Blickveränderung sprechend, sein eigen Angesicht empor in das duftige Morgenlicht. Feierlich bewegt schaute er umher in die Taufunken und wiederholte langsam die erhabenen Worte: »Den wird ewiglich nicht dürsten« ...

Der Sommermorgen, der den Einsamen umglühte, schien den Atem anzuhalten. Die Sonne stand still und umfaßte Tal und Höhen mit innig fester Glut. Glocken einer Herde, die oben am Walde weidete, schwangen mit leisem Geläut an den Halden entlang.

Und auf der Perhöhe zwischen Rothau und Waldersbach saß Viktor Hartmann und überlas die Predigt, die er am heutigen Sonntag in Fouday zu halten gedachte.

Über seinem leicht geröteten Antlitz lag eine merkliche Schwermut. Halblaut sprach er den Text der Ansprache, die er seinen Mitbürgern vorzutragen beabsichtigte, vor sich hin und verlor sich manchmal träumerischen Blickes in der Morgenschönheit dieser ruhigen und großen Landschaft. Es waren um ihn her tausend Augen, diamantenschön an allen Büschen und bewegten Blumen blitzend. Mit dem Tauglanz dieser Augen der Natur verband sich ihm die Erinnerung an menschliche Augen, an beseelte Blicke, die er auf sich gerichtet fühlte. Er sah seine schwesterliche Freundin Addy bei ihrer guten Wirtin Catherine Scheidecker in Fouday auf ihrem Stuhle liegen, mit halbgeschlossenen Augen, lächelnd, schon mehr einer geistigen Welt angehörend als der unsren. Er sah die jungfräulich glänzenden Blauaugen der taktvollen Leonie, die ein klein wenig in die Breite lächelte, rosig, gesund und doch voll Zartheit der Seele. Und hinter beiden leuchtete die ruhige Tiefe der Frau Johanna. Er sah seines väterlichen Freundes Oberlin mildes Augenpaar, durch das man hindurchschauen konnte in die Gefilde und Wahrheiten des jenseitigen Landes. Und in weiterer Entfernung tanzten die Mädchen aus Pfeffels Bezirken ihren Nymphenreigen, und Aristides-Birkheim hielt mit männlichem Wohlwollen seine schirmende Hand über die Siebenzahl seiner Kinder.

Aber der Schattentanz des Todes mischte sich in diesen Reigen des Lichtes. Auf dem Schlachtfeld sah er Albert, auf dem Siechenlager einen sterbenden Vater. Und zu Paris war der Maire von Straßburg auf dem Schafott gefallen.

Oh, dieser Totentanz! Dieser endlose Zug des Todes! Fast noch mächtiger war er als der Lichtertanz, an Eindruckskraft dem Funkenspiel dieses Sonntagmorgens überlegen. Der edle, lebensvolle, elastische Dietrich war tot. Nach langer Haft hatten sie ihn vor die Schranken gerufen und die alten sinnlosen Anklagen wiederholt. Unter den heftig aussagenden Zeugen stand auch der gefangene Eulogius Schneider. Der Maire verteidigte sich nicht mehr. Er ward verurteilt und am nächsten Tage getötet. Ein Vierteljahr später wanderte der ehemalige Mönch Eulogius, ein »Miserere« murmelnd, gleichfalls auf die Guillotine. Und es folgten ihm Jung, die Brüder Edelmann und andere ihrer Art, nicht schlechter noch besser als so viele, die in dieser Raserei den Tod erlitten, man wußte kaum warum. Massenlieferungen wurden zur Guillotine gebracht; Menschen und Pferde stampften durch Blut; die Hinrichtungsmaschine dampfte vor Überarbeit. Den zähesten Parisern wurde dies stumpfsinnige Töten ein Greuel; sie schlossen ihre Fensterläden, um das tägliche Vorüberrollen der Karren nicht mehr zu sehen. Unentwegt aber ließ der fahle Dämon Robespierre seine Orakelsprüche verlautbaren, wonach ungefähr alle Welt verderbt war außer seinem nächsten Anhang. Bis er dann selber gefällt wurde. Ein Versuch, sich durch einen Pistolenschuß der öffentlichen Hinrichtung zu entziehen, mißlang; mit blutig verbundener Kinnlade wurde der halbtote Diktator auf das Blutgerüst geschleift. Das Volk, durch Blutschauspiele gefüttert wie einst das Rom der Cäsaren, hatte sein effektvollstes Schauspiel: als der Scharfrichter dem Verwundeten die Binde von der Kinnlade riß, schrie Robespierre mit einer Mark und Bein erschütternden Stimme gellend auf – der Dämon, der ihn besessen, fuhr aus. Es blieb eine Hülse zurück, die man unter das Fallbeil schob und köpfte. Und es fiel mit ihm Saint-Just, kalt und straff bis zuletzt, und mit ihm Robespierres Trabanten. Dann ebbte nach und nach das haßvolle Morden. Doch die seelischen Wunden, die während dieser Greuel dem Glauben an die Menschenwürde geschlagen worden, vernarbten so leicht nicht mehr. Das ganze nachfolgende Jahrhundert bis zum heutigen Tage litt unter den Nachwirkungen dieser Philosophie des Hasses ...

»Machtlos! Machtlos starrten wir in dieses Chaos von Greueln, von Tribünen-Phrasen, von journalistischem Mißbrauch edelster Worte! Dämonismus hat sich Europas bemächtigt; die Engel der Güte stehen fern und hoch am Lichthorizont und warten vergeblich auf ihre Stunde, denn ihre Elemente sind zu rein, um sich mit dieser unratvollen Luft verbinden zu können ... O Kant! O Willen und Würde des Menschen! Bataillone des Hasses brüllen über die Erde hin ihren Blutgesang! ... Und auch ich, seit eine Marquise den Brand in mein Leben geworfen, auch ich wußte nicht meine Stätte, bis ich sie nun gefunden habe oder bald und sicher zu finden und festzuhalten hoffe. Meine Stätte ist dort, wo es gilt, den Lichtgästen der Liebe den Weg zu bahnen in die schwarzen Regionen der Dämonie.«

Viktors Lebensproblem, das er oft betastet und besprochen hatte, lag nun in Sonntagsklarheit vor ihm ausgebreitet. Erkenntnis und Entschluß hielten sich die Wage. In dieser heutigen Ansprache, der er große Bedeutung beimaß, suchte Viktor die Summe seines Erkennens und Wollens zu ziehen. Und so schien ihm dieser Sonntag die Schwelle zu einem neuen Dasein. Der Schlüssel knarrte in der Pforte zum wahren Leben ...

Vom Berghang links von Belmont, aus der Richtung der Farm Morel, war ein Wandrer herabgekommen und stand plötzlich zwischen den Ginsterbüschen.

Es war ein noch junger bürgerlicher Mann von derber und großer Gestalt mit einem ansehnlichen Bart, ein Ränzel auf dem Rücken und in der Hand den Dornenstock. Aufgeworfene Lippen, buschiges Haar, düster glutende Augen – eine Erscheinung, die nicht in diese durchgeistigte Morgenstille zu passen schien.

Jedoch des Fremden Organ klang tief, gut und voll. Er schien müde zu sein.

»Bin ich auf dem Weg nach Walderobach und Fouday?«

Hartmann erhob sich. Diese Stimme und dieser Mann waren ihm nicht fremd.

»Sie kommen mir bekannt vor«, sprach er. »Wo mag ich Sie schon gesehen haben?«

»Eine heilige Sendung verbietet mir, mich in ein Gespräch einzulassen«, erwiderte jener.

»Gesehen habe ich Sie sicher schon einmal«, fuhr Hartmann fort. »Allein Tausende sterben ja jetzt im Kerker oder auf der Guillotine. Wir andren leben zwar, aber nur noch halb. Unser Gedächtnis wird irr.«

Der Fremde antwortete nicht, sondern schaute in einer gleichsam betenden Stellung zu Boden.

»Doch ist meine Stimmung wohl nur eine Nebenwirkung der Rede, die ich hier lerne«, sprach Viktor weiter, indem er den Unbekannten prüfend beschaute und zum Sprechen zu locken trachtete. »Wollen Sie den Pfarrer von Waldersbach besuchen? Es ist am heutigen Detadi in Fouday Gottesdienst – das heißt: Klubsitzung. Wir halten natürlich statt der Gottesdienste Klubsitzungen ab, wie es die Regierung vorschreibt. Oder sind Sie als Spion oder dergleichen ins Steintal geraten? Dann, Fremder, kehren Sie lieber auf der Schwelle wieder um. Denn hier ist schuldloses Land. Auch hat unser Vater Oberlin neulich in Schlettstadt vor den Richtern gestanden und ist mit Worten des Lobes wieder entlassen worden.«

Doch schien es nicht möglich, den Fremden zum Plaudern zu bringen. Es entstand eine kurze Pause.

»Ich komme nicht in dieser Absicht, Viktor Hartmann«, tönte es endlich von den bärtigen Lippen. Und der Mann warf seinen Löwentopf empor und fragte aufs neue: »Wo liegt Fouday?«

»Dies dort ist Waldersbach«, antwortete der erstaunte Hartmann. »Und rechts hinab, eine Viertelstunde weiter, liegt Fouday. Sie kennen mich also?«

»Danke«, sagte der andere und ging davon.

Und jetzt erst, am wiegenden Gang und an der entschiedenen Art, wie der Wandrer den Stock aufstieß, erkannte ihn Viktor.

»Leo!« rief er.

Abbé Hitzinger blieb stehen.

»Viktor,« rief er zurück, »tu mir den Gefallen und forsche mir heute nicht nach. Es könnte mich in Lebensgefahr bringen. Noch vor Abend sollst du alles erfahren.«

»Aber, Leo, welch ein Zusammentreffen! Ich habe dich seit jener Nacht an der Kolmarer Landstraße nicht wieder gesehen!«

Jedoch der Abbé war schon durch die Ginsterstauden entwichen und wanderte an den Hängen hin in der Richtung nach Fouday.

Ahnungsvoll bewegt durch dieses fast feierliche Benehmen des Jugendkameraden begab sich Viktor nach Waldersbach hinunter. Auf eben dieser Perhöhe hatte einst jenes entscheidende Gespräch mit Oberlin stattgefunden: jenes Gespräch über die beiden ungleichen Kandidaten mit ihrer gleichen Lebensverstrickung. Und da betrat nun auch Leo Hitzinger Oberlins Bezirk! Seltsam! In welcher Absicht wohl? ...

Pfarrer Oberlin machte sich zum Aufbruch nach Fouday bereit, als Hartmann im Pfarrhaus erschien. Der Straßburger Gast wohnte in einem Bauernhause von Waldersbach; er war allen in diesem Tale durch sein unermüdlich Botanisieren bekannt; er stand in Erziehung, Studien, praktischen Fragen lernend an der Seite des Pfarrers. Und seine feinste Pflicht, die den zartesten Takt erforderte, bestand darin, täglich mit der leidenden Freundin Addy, dieser frühgereiften Jungfrau, in Fühlung zu bleiben, an aufmerksamer Liebe wetteifernd mit den Bewohnern des Pfarrhauses und der braven Witwe Scheidecker.

Er frühstückte und wanderte dann mit Pfarrer, Schulmeister und andren Kirchgängern nach Fouday hinunter. Viktor hatte seinem väterlichen Freunde das Konzept seiner Predigt gegeben; es zeichnete sich durch ebenso sorgfältige Stilistik aus wie die Reinschrift. Der Geistliche war viel zu gütig, um seinem gewissenhaft und reinlich arbeitenden Zögling die Freude an dieser schön empfundenen Abhandlung über die Menschenwürde zu beeinträchtigen. Grosse Milde strahlte auch heute aus Oberlins Augen und Angesicht; aber die feste Nase und der seinen Mund fügten dieser Milde eine edle Geschlossenheit und Festigkeit hinzu. Zuzeiten konnte Zorn aus dem Hochlandspfarrer heraussprühen. Denn dieses Mannes Milde war Schulung und Errungenschaft. Er verbarg es vorerst dem trefflichen Hartmann, daß er heute früh versucht gewesen, jenes Predigtkonzept ob etlicher rationalistischer Wendungen an die Wand zu werfen.

»Du stehst unter dem Einfluß der Vernunft-Philosophie und des Doktor Blessig, lieber Viktor«, begnügte sich Oberlin unterwegs zu bemerken. »Der arme Blessig, den sie noch immer im Straßburger Seminar gefangen halten, ist ein äußerst edler und gebildeter Mann. Er ist für die elsässische Kirche von Bedeutung und ein hervorragender Kanzelredner. Ich entsinne mich, wie sehr er mit seiner Rede gelegentlich der Einweihung des Grabdenkmals, das man in der Thomaskirche dem Marschall von Sachsen errichtet hat, Aufsehen erregte; die Offiziere klatschten mitten in der Predigt Beifall. Indessen fehlt mir etwas in dieser Art von Theologie und Christentum. Es fehlt mir die herzliche Schlichtheit, die geniale Innigkeit, besonders im Verhältnis zu Christus. Denn unser Heiland ist keine Theorie, sondern ein lebendiges Wesen, unser bester Freund. Er ist dem Ärmsten hier im Steintal ebenso nahe oder vielleicht näher als dem Gelehrten auf dem Katheder, der sich, seltsam genug, durch einen Denkprozeß hindurch den Weg zu dem lebens- und liebevollen Herzen des göttlichen Menschenfreundes erzwingen will. Einfachheit, lieber Viktor – darin ruht das Geheimnis.«

Und er fügte hinzu:

»Du hast mit großer Liebe deine Ansprache gearbeitet. Sprich herzhaft heraus! Was etwa zu ergänzen sein mag, werde ich hernach sagen, indem ich nach dir als zweiter Redner die Kanzel betrete und mit einem Gebet schließe.«

So schritten sie denn wohlgemut durch den Sonntagmorgen, begleitet vom Rauschen der kleinen Schirrgoutte, die dort durch den samtgrünen, gut bewässerten Wiesengrund in die Breusch hinuntereilt.

Hartmann hatte im Pfarrhause, nur nebenbei und zum Pfarrer allein, die befremdende Begegnung mit Abbé Hitzinger erwähnt. Auch Oberlin horchte auf. Er warf die Vermutung hin, daß dieser verkleidete Priester vielleicht in einer der katholischen Nachbargemeinden eine heimliche Amtshandlung vorzunehmen beabsichtige, was bei den bekannten Regierungserlassen gegen die ungeschworenen Geistlichen und die Kirche allerdings mit Lebensgefahr verknüpft war.

Das Elsaß, reich an Dörfern und Glockentürmen, hatte damals keine sonntäglichen Melodien mehr. Der Sonntag selbst war ebenso abgeschafft wie die christliche Zeitrechnung; statt des Sonntags feierte man alle zehn Tage den sogenannten Dekadi mit Klubsitzungen in den Kirchen, die in »Tempel der Vernunft« verwandelt waren. Viele Glocken waren zu Kanonen umgeschmolzen worden; das Geläute des Friedens donnerte als Zorn und Haß auf den Schlachtfeldern der Republik.

In der heutigen Sitzung zu Fouday gedachte Viktor zum ersten Male vor den Gemeinden des Steintals öffentlich zu sprechen. Nicht als Geistlicher, nur als Mitbürger, nur als dankbarer Gast dieses frommen Tales. Viktor war kein flammender, jedoch ein fester und gemütvoller Redner. Einige Schwierigkeiten machte ihm das Französische, sofern er deutsch zu denken gewohnt war; er arbeitete daher die Rede erst deutsch aus, übersetzte sie dann ins Französische und lernte sie auswendig.

So betraten sie Fouday und grüßten nach allen Seiten die Leute, die ihre Holzschuhe in die Ecken gestellt hatten und heute in Schuhen sonntäglich vor ihren Türen standen und auf das Glockenzeichen warteten. »Bonjour, Charité! Bonjour, Bienvenu!« Und überall freundliche Antwort. Oberlin gedachte noch rasch einer Kranken ein gutes Wort zu sagen; und Viktor ging zu Addy.

Adelaide von Mably war im Häuschen der Witwe Catherine Scheidecker untergebracht. Sie bewohnte dort ein reinlich Zimmerchen, das der Sonne zugänglich war.

»Schade, Addy, daß du nicht mit kannst!« rief Viktor heiter. »Aber ich werde dir meine Ansprache noch besonders halten. Morgen vielleicht, denn heute besuchen dich allerlei Leute, so daß du hernach Ruhe brauchst.«

Addy saß in ihrer bleichen Ruhe im Lehnsessel und hatte neben sich eins der Flachsköpfchen von Frau Scheidecker, dem sie Zöpfchen geflochten hatte. Indes sie das angeschmiegte Kind noch mit der Linken umarmt hielt, winkte sie dem Freund und Beschützer mit der schlanken Rechten lächelnd entgegen. Sie trug ihr Sommerkleid, das in faltigem Musselin ihre länglich feine Gestalt umfloß; doch die Haare waren nicht mehr in geringelte Locken gebrannt, sondern um die Stirn madonnenhaft angescheitelt und fielen dann über die linke Schulter in bräunlicher Flut nach vorn, lose zusammengehalten mit einem blauen Bande. Diese Haarflut floß über das kranke Herz und schien es schützen zu wollen. Und unter dem Bogen des schönen Haares, der etwas vorstehend die Schläfen umwölbte, leuchteten Addys blaugraue Augen hervor, glückselig und fremdartig tief, als wollte sie ihre Herzensfreundlichkeit, die sie nicht durch viel Bewegung äußern konnte, möglichst in den Blick bannen.

»Geh, mein Kind!« sagte Addy leise mit einer ihrer kurzen, anmutigen und doch so gebietenden Handbewegungen, denen niemand widerstand. Die vornehme Tochter aus altem Adel, die in dieser armen Hütte wohnte, fiel auf durch ihre vergeistigte Hoheit. Hätten nicht außergewöhnliche Herzenseigenschaften diesem geborenen Herrschertalent die Wage gehalten, es hätte sich vielleicht Eigensinn und Laune in dieser liebevoll verwöhnten Kranken eingenistet. Doch Addys Geist und Addys Herz waren in Einklang und von ungewöhnlicher Reinheit und Reife. »Und du hast deine Ansprache Wort für Wort auswendig gelernt, Viktor?«

»Wort für Wort, Addy!«

»Und es sitzt gut?« »Vollkommen!«

»Und mein Freund ist nicht befangen?«

»Seh' ich befangen aus, kleine Addy?«

»Nein, sogar heiter. Wie mich das freut! Und bist du nicht zu gelehrt geworden für diese einfachen Bauern? ... Nun, Gottes Segen, lieber Viktor!«

Daß er zu gelehrt sprechen könnte, hatte er allerdings nicht erwogen. Er stutzte ein wenig. Doch er wußte, daß er aus dem eigenen Erleben geschrieben hatte, möglichst aufrichtig und getreu. Und so verabschiedete er sich von Addy und wanderte nach der Kirche. Die Kranke, die das Haus nicht mehr verlassen konnte, winkte ihm in ihrer abgeklärten Heiterkeit freundlich nach.

Fouday liegt im grünen Tal der Breusch, deren Wasser breit und klar über Sand und glänzende Steine dahinrauschen. Der Ort ist eine Stunde von Rothau entfernt, das man am Fluß entlang erreicht. Ostwärts oberhalb der Breusch, steil am Waldhang empor, liegt das umwipfelte Solbach mit seinen Matten und Feldern. In westlicher Richtung, nach St. Blaise und Saales, verbreitert sich das sonnedurchflutete Tal; Berg schichtet sich hinter Berg und schließt den Horizont ab, so daß man sich, zumal in den purpurnen Färbungen des Abends, in einer scheinbar endlosen Gebirgswelt fühlt. Früher hatte die Gegend einen schrofferen Charakter. Unter Oberlins Einwirkung milderten und veredelten sich die Züge der Menschen und die Züge der Landschaft.

Eine Gruppe vornehmer Damen, in Begleitung eines hübschen jungen Mannes, plauderte in diesem Sinne über das Steintal. Sie wanderten von Rothau nach Fouday und schienen, wie die andren von den Bergen herabströmenden Sonntagsgäste, an der Klubsitzung teilnehmen zu wollen. Alle waren ernst gestimmt. Es schritt unter ihnen eine trauernde Witwe zwischen zwei reifen Damen von etlichen vierzig Jahren, mit guten und feinen Gesichtern. Die übrigen waren schöne und vornehme junge Mädchen.

Diese Kirchgänger suchten zunächst das Haus der Frau Scheidecker auf. Die Witwe stand in ihrem weißen Halstuchs, worüber ein kluges Gesicht leuchtete mit Augen voll Ehrfurcht und Güte, in ihrer Haustüre und hieß die Gäste mit freudiger Überraschung willkommen. Und drinnen klatschte Addy nach ihrer alten Gewohnheit entzückt in die Hände, als sie die Namen hörte und die Stimmen erkannte. Und bald war sie, mit geziemender Rücksicht auf ihren Zustand, von dem Schwarm der Besucherinnen auf das zärtlichste umarmt und geküßt.

Doch nicht lange wurde geplaudert; man gedachte bald zu längerem Besuche wiederzukommen. Die Schar verflog in die Küche und erfrischte sich an Frau Catherines Ziegenmilch. Die Dame in Trauer unterhielt sich mit der Hausfrau. Und nur eine der beiden reiferen Damen, eine schlanke Gestalt mit edelschönen Zügen, blieb bei Addy zurück.

Es war ein kurzes, aber inhaltvolles Gespräch. Das Gespräch verriet, daß die beiden weiblichen Wesen miteinander vertraut und befreundet waren. Die weit ältere Freundin aus Rothau neigte die schwere dunkelblonde Haarkrone und das etwas blasse Gesicht zu der Leidenden, nahm Addys Madonnenköpfchen in ihren Arm und hörte an, was ihr das Kind fast flüsternd anvertraute.

»Du mußt wissen, gute Friederike, daß ich nicht mehr lange leben werde«, flüsterte Addy. »Darum sollst du mir nun einen Rat geben, ich habe nämlich noch zwei große Wünsche. Ich wage sie aber weder Vater Oberlin noch Viktor Hartmann zu sagen. Den einen Wunsch nicht, weil es sie kränken könnte, den andren nicht, weil es ihnen sonst gleich Sorge macht.«

»Sag mir beide, Addy«, erwiderte die Freundin.

»Willst du mir's aber auch selber nicht verargen?«

»Gutes Kind, wie sollt' ich dir etwas verargen!«

»Nun, ich meine, weil du eines evangelischen Pfarrers Tochter bist ... Denn sieh, ich bin in einem Kloster aufgewachsen. Meine Mutter hat sich streng zur Kirche gehalten und ist oft mit mir zur Beichte gegangen. Im Traum seh' ich meine Mutter sehr oft; sie scheint mich zu bitten, ich solle noch einmal vor meinem Hinübergang in unsrer katholischen Weise beichten und kommunizieren. Aber ich bin hier unter lauter evangelischen Christen. Verarg es mir nicht, Friederike, ihr seid alle sehr gut zu mir. Aber – aber ich sehne mich nach einem Priester unsrer Kirche. Ich habe es bis jetzt nur in einem Briefe an eine entfernte Freundin ausgesprochen, an eine fromme katholische Familie in Rappoltsweiler, deren Verwandte Geistliche sind. Friederike, ach, es kommt mir wie Verrat und Untreue vor, daß ich das nicht offen meinen hiesigen Freunden zu sagen wage.«

»Liebes Kind, das ist nicht Verrat, das ist von dir nur eine große Zartheit, wofür ich dir diesen Kuß gebe, meine gute Addy. Ich will mit Papa Oberlin oder Hartmann sprechen. Sie werden das leicht verstehen. Und dein zweiter Wunsch?«

»Ich möchte noch einmal Leonie und Frau Frank sehen, bevor ich sterbe. Auch vielleicht Jean und seine Frau. Sie waren zwar im Frühjahr bei mir, aber ein zweites Frühjahr werde ich nicht mehr erleben.«

»Nicht so trübe Dinge denken, Addy«, beruhigte Friederike.

»Ach, Liebe, fühl nur mein Herz, wie es durch die kleine Erregung eures Besuches schmerzhafte Sprünge macht! Es will heraus, fort, in Freiheit und himmlische Luft!«

»Wie wir alle«, versetzte Friederike Brion ...

Sie hatten die Glocke überhört, die zum Gottesdienst läutete. Jetzt kamen die andren, verabschiedeten sich rasch von Addy, und alle wanderten mit Frau Scheidecker in das Gotteshaus. Nur die zwei jüngsten Kinder blieben bei der Leidenden zurück.

Die Kirche von Fouday war damals noch neu. Der greise Baron Johann Dietrich, der Stettmeister, der bis vor kurzem gefangen war und nun lebensmüde drüben in Rothau seinen letzten Sommer verbrachte, hatte das Haus bauen lassen. Man steigt wenige Stufen empor, überschreitet den Friedhof, auf dem nun Oberlins Gebeine ruhen, und befindet sich in der schönen Einfachheit einer ländlichen Dorfkirche. In jenem Jahre 1794 war es ein Klubhaus. Aber die Gemeinde sang wie sonst. Und wie sonst sassen auf der einen Seite die Frauen, auf der andern die Bürger und ihre Vorsteher. Oben auf der Tribüne, um die Orgel her, waren die jungen Leute gruppiert.

Oberlin und seine Volksschullehrer hatten den Gemeindegesang zu hoher Vollendung gesteigert. Man hatte in den ersten Jahren noch keine Orgel; aber man behalf sich. Der Lehrer gab den Ton an; geschulte junge Stimmen begannen; die übrige Jugend gesellte sich hinzu; die Bässe geübter Männer übernahmen die zweite Stimme; die Frauen fielen ein – – und schließlich war die ganze kleine Kirche ein vielstimmig Tongewoge, wobei sich die geschmeidigen Stimmen der Bergbewohner auf das schönste entfalten konnten. Die Orgel verstärkte dann noch diese mächtige und vielfältige Gesangswirkung.

Die Versammlung begann. Die Knaben und Mädchen wurden von einem Schulvorsteher – man nannte sie gewöhnlich Regenten, weil der Name Lehrer unter den früheren Verhältnissen unbeliebt geworden war – der Reihe nach über die Menschenrechte ausgefragt. Mit lauter und rauher Stimme, denn so liebten es die Zuhörer, sagten die jungen Republikaner ihr Sprüchlein auf. Befriedigt nickten die Alten. Dann erhob sich der Präsident des merkwürdigen Klubs und verlas ein kurzes Protokoll der letzten Sitzung; es war darin die Rede von einer Ansprache, die das Klubmitglied Bürger Oberlin gehalten habe. Zum Schluß forderte der Präsident – es war der Bürgermeister von Waldersbach – das genannte Mitglied Oberlin auf, sich über den neulich behandelten Gegenstand heute des weiteren auszusprechen. Der Aufgeforderte stand auf, dankte für das Zutrauen, bat jedoch, zunächst dem ihnen allen bekannten Klubmitglied Hartmann das Wort zu erteilen. Dies geschah. Und der lange Viktor Hartmann bestieg in seinem gewöhnlichen Sonntagsrock ernst und gemessen das Rednerpult, das man ehedem Kanzel nannte. Er sprach mit Unbefangenheit; er sprach mit wachsender Wärme seine sicher beherrschte Rede.

Ausgehend von der Würde des Menschen und seiner Bestimmung zu immer größerer Vollendung kam er auf die tausenderlei Gefahren zu sprechen, die des Menschen Aufwärtsgang erschüttern und zu lähmen drohen, und legte seine zwei Bibelworte der eigentlichen Betrachtung zugrunde: aus dem Alten Testament das eine, düster und herb wie jene Jehova-Epoche der strafenden oder lohnenden Gerechtigkeit; aus dem Neuen Testament das andre, trostvoll wie die ganze neue Epoche, die mit dem Erscheinen des göttlichen Sohnes, des Verkünders der ewigen Liebe, hereinbrach. Der Hypochonder von ehedem, durchbebt von persönlichen Gemütserlebnissen, verweilte lange, zu lange beim ersten Teil; der johannische Abschnitt kam zu kurz. Und als er gar, gegen Ende der Predigt, ganz hinten in der Kirche, neben Catherine Scheidecker, wohlbekannte Gesichter entdeckte, deren Blicke unbeweglich an seinem Munde hingen; als der Schüler Oberlins, anhebend mit dem Preisen des reinen Herzens inmitten weltlicher Greuel und sprechend von der Trostkraft eines ruhigen Freundes mitten in Schuld und Schicksalswirrung, plötzlich erkannte: Da sitzt ja Octavie von Birkheim! da sitzen ja meine Schülerinnen aus Birkenweier! und dort Frau Luise Dietrich – dort Demoiselle Seitz und die Schwester des Pfarrers Brion – – – da zerriß ihm der Faden. Es gelang ihm noch, einen Schlußsatz zu bilden; dann verließ er die Kanzel und bat Oberlin, das Schlußwort zu sprechen. Die Mehrzahl merkte nicht, daß er aus dem Text geraten war. Vielmehr machte das Abbrechen den Eindruck, daß hier menschliche Worte überhaupt versagten und der Sterbliche überwältigt und anbetend verstummen müsse.

Mit diesem Gedanken schloß denn auch Oberlin seine Rede an. Aber mit einer Energie und Gedankenfülle, die weit über Viktors Korrektheit hinausragte, führte er nun den zu kurz gekommenen zweiten Teil zu einem gewaltigen Gebilde aus. Der Eindruck, wie hier der reife Mann des jüngeren Anfängers Stammeln in reife Worte verwandelte, war groß und unvergeßlich. Klub und Politik, Raum und Zeit versanken; eine vor dem ewigen Gott, nicht vor dem vergänglichen Gesetz anbetende Waldgemeinde war zur Andacht versammelt. Ihre Andacht verdichtete sich zu einer Stimme. Diese Stimme sprach von der unbeschreiblichen, den ganzen Menschen erneuernden Seligkeit jener Erkenntnis, die durch keine philosophische Vernunft und kein ethisches Verdienst aus sich allein heraus erzeugt wird, die vielmehr, allerdings nach edlen Kämpfen, als Geschenk frei von Gott herabklomm. Hartmann hatte von der Würde des Menschen gesprochen: Oberlin sprach nun von der Gnade Gottes.

So etwa sprach Oberlin. Er sprach in einfachen Worten, in biblischen Wendungen, in naturhaften Gleichnissen. Nicht die Redegabe war seine hervorstechendste Eigenschaft; viele seiner Predigten unterschieden sich nicht wesentlich von den Ansprachen sonstiger Landpfarrer. Ihm aber wohnte ein größeres Talent inne: die Gabe des Gespräches gleichsam, des Gespräches mit Gott und mit jeder einzelnen Seele. Es war Eindringlichkeit und Überzeugungskraft darin; und den Hintergrund bildeten Mystik und Theosophie. Es war, als stiege aus uralten, von Mönchen liebevoll mit karminroten und goldnen Anfangsbuchstaben gezierten Pergamenten jener mittelalterliche Duft empor, wie er alten Urkunden zu eigen ist. Doch im Emporsteigen verwandelte sich dieser Verwitterungsgeruch des vergilbten Papiers in lebendige Gestalten, in Licht, in Farbe, in Wärme. Und siehe, das vordem schwere, verschlossene, vermoderte Buch mit seinen altertümlichen Propheten, Aposteln und heiligen Männern war entzaubert. Die Männer der Bibel traten heraus, grüßten die Steintäler und unterhielten sich mit ihnen über Freud und Leid und alle Dinge des tiefsten seelischen Lebens.

Sehet an – so sprach er etwa – das Baumreis im Winter: es ist dunkel, schmucklos und scheinbar tot. Nun aber kommt die Frühlingssonne. Und was tut die Sonne? Sie verwandelt, was sie berührt. Sie verwandelt den kahlen Baum in einen grünen Glanz; sie verwandelt den dürren Stengel in eine farbige Blume. Erkennt ihr daraus die Tätigkeit der Schöpfung? Die Tätigkeit der Schöpfung ist Verwandlung in Licht. Und wem verdanken wir dieses Wunder? Es ist die Berührung durch die Sonne, der wir dieses Wunder verdanken. Unter dieser weckenden Berührung wird die vor der stumpfen Erde ein Preisgesang auf das Wunder des Lebens. So entsteht aus der Liebe zwischen Sonne und Erde das Wunder des Lebens. Aus der Liebe entsteht Leben; Liebe ist Leben.

Meine Freunde, siehe, ich sage euch ein Geheimnis. Es ist zwischen den Vorgängen der Natur und den Vorgängen des Reiches Gottes eine genaue Entsprechung. Die unerweckte Seele ist das Baumreis im Winter. Nun aber kommt die Berührung durch eine andere, flammende, liebevolle Seele und siehe, unter dieser Berührung entsteht in dem starren Gebilde Leben und Liebe. Und der vordem stumpfe Mensch verwandelt sich in einen Preisgesang auf das Wunder des göttlichen Lebens.

Unsere geistige Sonne aber ist Gott; und seine irdische Gestaltung und Offenbarung in Wort und Wesen ist der Logos Christus. Dieser Christus ist die Verkörperung der Liebe; denn Gott ist die Liebe. Und wo in einem Menschen hilfsbereite, reine, gütige Liebe mächtig ist, siehe, da wirkt in diesem Menschen der Sonnenstrahl, den wir Christus nennen. Tausendfach und in verschiedenen Namen und Nationen, Formen und Dogmen offenbart sich Christus, wie die Natur voll vielfarbiger Gebilde ist, angestrahlt von der einen Sonne. Lasset uns weitherzig sein! Wo die schaffende, tapfere und doch zarte und taktvolle Liebe an der Arbeit ist – meine Brüder, da ist das Reich Gottes, da ist Christus!

Dieses gewaltige Reich ist nicht an Raum noch Zeit gebunden; es ist unbegrenzt, es ist ewig. Es kennt keinen Tod. Im Reiche Gottes gibt es nur Übergänge, keinen Tod; Übergänge nämlich von einer Reifenstufe zur andren. In Zustände der größeren oder geringeren Liebe teilt sich das Reich Gottes, wie die Natur sich in Landschaften und Nationen einteilt. Dieses Reich ist innerhalb der lebenden Menschheit ebenso wirksam und gegenwärtig wie innerhalb der sogenannten gestorbenen Menschheit. Denn nicht eines Menschen Geistgestalt stirbt, sondern seine Körpergestalt wird abgelegt, um dadurch anzuzeigen, daß nun eine Reifestufe beendet sei und ein neuer Zustand beginne. Wer diese Wahrheit schaut, für den ist die Scheidewand zwischen Tod und Leben gefallen; der ist es, von dem Christus spricht: er wird den Tod nicht schauen. Denn siehe, wie die Knospe aufspringt, so ist in ihm ein neues Organ aufgesprungen: mit diesem neuen Auge schaut er durch Leid und Tod hindurch in das dahinter glühende Leben. Das Universum ist eine einzige Flamme des ewigen Lebens. Wir schauen mit den körperlichen Augen nur das, was der Körperwelt entspricht, aber mit den geistigen Augen schauen wir die Länder und Gestalten des Geistes. Es sind unter uns welche, die mit ihren Gestorbenen verkehren in trauter Zwiesprache; andere, von gleich starkem Glauben, haben diese besondere Gabe nicht erhalten; doch wissen auch sie, daß es keinen Tod gibt, und begeben sich in die Länder des Jenseits, wie sich etwa ein Auswanderer nach Amerika begibt. Gleichwie Christus gesagt hat: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten, denn in meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.

O meine Brüder und Schwestern, zu dieser Erkenntnis reift die Menschheit nur langsam. Christus hat sich geopfert, d.h. er ist Fleisch und Blut geworden, um uns verdunkelten Menschen dies Licht zu bringen. Der Frühling dieser Erkenntnis ist voll Überschwang und Entzückung; dann kommt der Sommer der stillen Glut, der heißen Arbeit mit Schmerzen und Gewittern; hernach der Herbst, der ohne Hoffart seine Frucht abgibt, in einer edlen Stille, in einer glücklichen Dankbarkeit, daß er überhaupt geben darf. Denn es ist eine Gnade, meine Freunde, und ist eine Ehre, unsren Mitmenschen geben zu dürfen.

Mein Freund, Willen und Würde des Menschen sind eine große Sache; wir ehren und pflegen sie. Aber größer ist die Gnade. Denn es ist Gnade, berührt zu werden von der Sonne der Weisheit und der Liebe. Und all unsere Gebetsenergie gehe dahin: Berühre mich, befruchte, begnade mich, o göttliche Sonne! Komm in mein Herz, himmlischer Gast! Laß mich die Erde sein, du sei die Sonne! Und in innigem Zusammenarbeiten laß in mir ein Neues aufblühen: das Wunder ewigen Lebens, das Geheimnis göttlicher Liebe! ...

Der Abbé Leo Hitzinger war nicht ins Pfarrhaus gegangen. Er ließ Waldersbach zur Linken liegen. Von einigen Knaben, die eine Ziegenherde hüteten, hatte er leicht erfragt, was er erfragen wollte. Dann begab er sich an ein kleines Wasser, lagerte sich, wusch die Hände und – nahm den falschen Bart ab. Und als er sich etwas zurechtgemacht hatte, schritt er weiter nach Fouday. Die Glocke läutete aus; das Dorf wurde still und leer; alles war im Gottesdienst versammelt. Dies war seine Stunde. Er begab sich schnellen Schrittes in die Gassen hinunter und fand rasch das Haus der Witwe Scheidecker.

Addy lag in ihrem Lehnstuhl im Stübchen und schaute durch das niedere offene Fenster auf die großen goldnen Sonnenblumen, die im Garten mit ihren leuchtenden Köpfen das Licht einsaugten. Sie schaute dann weiter hinauf nach den Hängen, wo die stillen Herden weideten, während ganz oben der Nadelwald schwarz und stumm das Tal behütete. Ein vergoldetes Gebetbuch lag in ihrer Hand; es war ihr noch von der klösterlichen Schule her verblieben, gefüllt mit französischen und lateinischen Gebeten, Psalmen und Litaneien. Die Kinder spielten auf dem Hausflur. Die Sonne saß an den weißen Wänden und auf den durchsummten Blumen, in denen die Bienen geschäftig waren.

Um sie her und in ihrem Herzen war eine große Stille. So etwa, als säße sie in einem Klostergärtchen, im Dufte der Reseden, jenseits der Dinge dieser Erde.

Da näherten sich feste Mannesschritte. Ein Schatten fiel ins Fenster, eine Baßstimme fragte die Kinder, ob hier Frau Scheidecker wohne und ob wohl Fräulein Adelaide zu Hause sei. Addy richtete sich verwundert auf und fragte durch das Fenster den unsichtbaren Ankömmling, ob man sie zu sprechen wünsche. Es klopfte an die Stubentüre: und Abbé Hitzingers große, dunkle Gestalt stand in dem niedren Gemach.

Der Abbé atmete schwer, als er das bleiche Gesichtchen der jungen Kranken sah. Wie ein Bettler hielt er bescheiden den Hut in beiden Händen und lehnte sich erschöpft an den Türpfosten. Unverwandt schaute er mit seinen schwarzen, fremden Augen in seinem suchenden hilflosen Gesicht mit den aufgeworfenen Lippen und dem halboffenen Mund das Mädchen an. Die vornehme Kranke blieb in ruhiger und edler Fassung zurückgelehnt liegen, konnte aber ihr Erstaunen nicht verbergen.

»Mutter Scheidecker ist in der Kirche«, sagte sie. »Ich selbst bin krank. Darf ich fragen, womit wir Ihnen dienen können?«

Der Mann an der Türe legte sein Ränzel sorgsam auf den Tisch, so etwa, als stelle er ein kostbares Gefäß auf. Dann ließ er gedämpft mit seiner rauhen, aber gutartigen Stimme die Worte laut werden, die er sich unterwegs viele Male heimlich zurechtgelegt hatte:

»Ich bin ein Diener der Kirche. Ich bin obdachlos und viel verfolgt. Auch Ihnen will ich nur einen kurzen Gruß bringen und dann wieder gehen – einen Gruß aus der Rappoltsweiler Gegend, von der Familie Liechtenberger, an die Sie geschrieben haben, Fräulein Adelaïde.«

Addy fuhr in die Höhe, beide Hände auf die Stuhlkanten stützend. Eine jähe Röte stieg in ihr alabasternes Gesicht, und sie rief:

»Sie sind der Abbé, den wir dort manchmal gesehen haben, meine Mutter und ich!«

Der Fremde verbeugte sich ein wenig.

»Abbé Hitzinger aus Rappoltsweiler.«

»O mein Gott!« rief Addy und faltete die Hände. »Gibt es denn noch Wunder und Zeichen? Erhört denn Gott so wunderbar Gebete?«

»Ich bin über alles unterrichtet, liebes Fräulein«, fuhr der Priester fort. »Man hat mir einige Stellen Ihres Briefes vorgelesen. Ich bin bei Nacht über das Gebirge gewandert und bringe in dieser Tasche eine geweihte Hostie. Auch habe ich Chorgewand und Stola mitgebracht. Wir können sofort zum Werke schreiten.«

Addy war im Glauben an das Wunderbare großgezogen. Durch das Außerordentliche wurde man in jenen außerordentlichen Zeiten nicht erschreckt. Sie saß mit feuchten Augen und gefalteten Händen und schaute den Ankömmling wie eine überirdische Erscheinung an. Der Priester, durch die Verfolgungen geübt in einem raschen und heimlichen Dienst, gab den Kindern mit freundlichen Worten einiges Naschwerk, sandte sie zum Spielen in den Hof und verschloß die Türe. Und die Todgeweihte legte in seine Hände ihre Beichte ab und empfing den Leib des Herrn, den der Abbé unter Lebensgefahr über das Gebirge getragen hatte.

Dann, als der Geistliche alles beendet und wieder die Tasche auf den Rücken gebunden hatte, vernahm Addy, die mit geschlossenen Augen von ihrer tiefen Gemütsbewegung ausruhte, die seltsamen Worte:

»Gott sei gelobt, jetzt kann ich ruhig sterben.«

Und plötzlich kniete der junge Priester seinerseits vor Addy, berührte zart die feinen Fingerspitzen und bat mit einem Tone unbeschreiblicher Innigkeit:

»Segnen Sie mich! Denn obschon ein Priester, bin ich doch ein sündiger Mensch.«

Addy legte wie traumbefangen die schmale, fein geäderte, fast durchsichtige Hand auf das buschige Löwenhaupt und sagte leise:

»Innigen Dank! Die Jungfrau und alle Heiligen seien mit Ihnen!«

Der junge Mann, bei dem nun die Erschöpfung durchbrach, seufzte heftig. Tränen fielen auf seines Beichtkindes Hände. Dann erhob er sich rasch, streichelte einmal, kaum berührend, Addys mattblonden Madonnenscheitel und ging in großer Bewegung stumm davon. Er war zu erschüttert, um auch nur das leiseste Abschiedswort äußern zu können.

Adelaide aber blieb wie eine Verklärte zurück ...

Unterdessen ging der andre Gottesdienst seinem Ende zu. Pfarrer Oberlin ging über in Gebet. Beim Gebet pflegte man im Steintal zu knien. Und so kniete auch der Pfarrer auf der Kanzel und mit ihm die ganze Gemeinde.

»Christus, du kommst wie ein Strahl der nährenden Sonne, wie die Taube über den Wassern, du kommst freiwillig herab, und als die verkörperte Gnade Gottes machst du dein Volk selig! Dein Volk? Wer ist dein Volk? Sind es Juden oder Christen, Römische, Reformierte oder Lutheraner? O Herr, du kennst die Deinen und findest sie heraus überall und aus allen Glaubensformen und Nationen der Erde. Überall da ist dein Volk, wo zerknirschte und zerschlagene Herzen sich sehnen nach dem Strahl von oben, sie mögen Wiedertäufer oder Kalvinisten oder lutherisch oder römisch heißen! Da suchst du dein Volk, wo Herzen sind, die Leid tragen, denen nichts so sehr angelegen ist, als das Wort Gottes zu tun, denen eine Sünde mehr Herzeleid verursacht, als wenn sie das beste Stück von ihrem irdischen Gut verlören. Diese sind es, die du selig machst! O Herr Jesu, vermehre täglich ihre Anzahl! Herr Jesu, erbarme dich aller, der Franzosen und der Deutschen, bereite dir aus beiden eine reine Kirche, ein heiliges Volk, das dein eigen sei und fleißig zu guten Werken! Herr, nimm Wohnung in meiner Waldgemeinde bei Gesunden und Kranken! Erleuchte sie alle, damit ich einst mit den Vorangegangenen unter Triumphgesängen des Lebens ihnen entgegenkommen und sie hinübergeleiten darf in die Wohnungen der ewigen Seligkeit! Amen.«

So schaute man im Steintal Christus.

Octavie glaubte der Erde entrückt zu sein. Hier waltete eine andere Kraft als im Tempel der Vernunft zu Kolmar, wo man das schöne Mädchen nahezu genötigt hätte, die »Göttin der Vernunft« darzustellen. Die bleiche Frau von Dietrich, die neben Octavie die Stirn auf die Bank legte, fühlte dort, wo ihre Hände die Brust berührten, ein leises Rascheln; sie trug dort ihres hingerichteten Gatten letzte Liebeszeichen: letzte Briefe. Neben Henriette von Birkheim kniete der junge Begleiter der Damen, der ebenso schöne wie liebenswürdige und frühreife Franzose Augustin Périer. Er war Katholik, von den Oratorianern in Lyon erzogen, doch zugleich ein Freund und Schüler des Protestanten Pfeffel. Gespannt und hingerissen schaute der empfängliche Jüngling auf den betenden Geistlichen und rieb nach seiner Gewohnheit langsam die gefalteten Hände, ein Zeichen seiner tiefen Befriedigung und Anteilnahme. Die Reihe schloß mit Demoiselle Seitz, der geschätzten Erzieherin in der Rothauer Familie Dietrich, und Friederike Brion.

Dieser ganze Gemeindekörper war von elektrischen Strömen durchrollt, die sich in Geisteslicht und Gemütskraft umsetzten, ausgehend vom pulsierenden Herzen, vom betenden Pfarrer Oberlin. Dann, nach dieser Andacht, schloß sich der Himmel wieder. Man kehrte wieder die Formen der Klubsitzung heraus. Der Präsident gab das Wort einem seit kurzem im Steintal ansässigen Bürger, der über die Errungenschaften der Freiheit, über den damals üblichen Telegraphen von Berg zu Berg und über andre nützliche Dinge nüchtern sprach. Die Dorfzeitung wurde verlesen und der Klingelbeutel für die Armen in Bewegung gesetzt. Und es entfernten sich die Frauen und jüngeren Leute, während die Klubisten noch verweilten.

Die Gäste aus Rothau hatten heute nicht viel Zeit. Sie begrüßten vor der Kirchtüre Oberlins älteste Tochter Karoline, ein Mädchen mit einem ebenso anmutigen wie klaren und sanften Gesicht, und deren jüngere Schwester Friederike Bienvenue. Die älteste der Schwestern Birkheim, die in ihrer schlanken Gestalt selber als leuchtende Schönheit inmitten der Bäuerinnen stand, machte hierbei eine ebenso richtige wie liebenswürdige Bemerkung: die Gesichter der Steintälerinnen, meinte sie, gleichen sich alle in dem durchgehenden Zug von freundlicher Sanftmut.

»Ihr seid alle eine große Familie und gleicht einander«, sagte Octavie zu Karoline Oberlin. »In euren Gesichtern ist ein stilles Glück; ihr habt alle ein Geheimnis, das euch glücklich macht.«

»Das Geheimnis der Liebe«, fügte Frau von Dietrich hinzu. »Ihr seid Spiegel von Oberlins Seele. Grüßen Sie Ihren Vater, gute Karoline! Er hat mir heute wunderbaren Trost gegeben.«

Und nun trat Hartmann heraus und wurde von allen Seiten in herzlichem Andrang begrüßt, befragt, beglückwünscht. Er hatte nicht Hände genug, seinen ehemaligen Schülerinnen zu danken.

»O wieviel haben Sie durchgemacht!« rief Octavie. »Seit wir zum ersten Male dort oben nach Fouday herunterfuhren – wissen Sie noch, Herr Hartmann? Wie traurig waren Sie damals! Und wie sind Sie nun herzlich und heiter trotz des Schweren, das Sie erlebt haben! Wissen Sie noch, wie wir an Ihrem letzten Tage in Birkenweier alle weinend beisammensaßen? Als hätten wir all das Kommende geahnt! Und Ihr Arm ist gesund? Wir fürchteten für Ihre Lunge. Und wissen Sie, daß auch unser guter armer Pfeffel einen Sohn dem Vaterlande geopfert hat? August hat sich auf einem strengen Marsch erhitzt und ist dem Fieber erlegen! Pfeffels Schmerz können Sie sich vorstellen.«

So tauschten sie ihre Erlebnisse aus. Fast stürmisch drängten sich die Gemütskräfte wieder empor, die so lange zurückgescheucht waren. Und die biedren Leute des Steintals wetteiferten miteinander, die Besucherinnen aus Rothau zum Mittagessen einzuladen. Eine angesehene Bürgersfrau aus Fouday hatte an diesem Tage Oberlin zu Gast und bat die Damen, sich anzuschließen; Catherine Scheidecker erhob Einspruch, da sie näheres Anrecht habe, die Rothauer Gäste zu bewirten. Aber man schlug beides freundlich ab und wanderte, nach viel Abschiedsrufen und Grüßen an Addy und Papa Oberlin, an der Breusch entlang nach Rothau zurück.

Hartmann seinerseits schritt in einem Zustande feiner Beschämung nach Waldersbach hinauf.

»Gott macht's mir schwer«, sprach er zu sich selber. »Er demütigt mich sehr oft. Ich habe mir so viel Mühe gegeben mit dieser Rede und habe mich so gefreut auf diesen Tag. Und nun ist es eine Niederlage geworden. Denn ich bin mit meinem Geschwätz von der Würde des Menschen ein unreifer Knabe neben den Sehorganen des Mannes Oberlin. Was er gesagt hat, ist keine Ergänzung: es ist eine Umwälzung. Es ist das Geniale. Ich will es mit Denken erzwingen: er aber schaut. Ich räsoniere, lege dar, beweise – er aber besitzt! ... O mein Gott, ich will nun ganz stille halten, ich will mich mit Sonnenstrahlen durchdringen lassen wie diese Blumen am Wege, ich will hoffen auf deine Gnade – komm zu mir, wie durch eine rein gestimmte Äolsharfe der melodische Wind weht! Ja, den Tod nicht schauen! Nur Licht und Liebe! Siehe, wie schön ist dieser Sonntag, wie schön die Erde! Denn es sind unsichtbar um uns her freundliche Führer, gute Meister, Engel der Liebe, liebevolle Verstorbene – o Welt voll Liebe, voll Leben!«

Und indem sich ein Neues in ihm hindurchrang zum Siege, trat aus dem Gebüsch sein derber Kamerad Leo Hitzinger lächelnd an seine Seite.

Noch leuchteten seine Augen, erfüllt von den großen Vorgängen dieses Sonntagmorgens. Und mit dem verhüllenden Bart war Schatten und Stummheit von seinem sonst so knochig düstren Gesicht gewichen.

»Du bist bei unsrer Begegnung heut' in der Frühe nicht recht klug aus mir geworden, Viktor«, sprach er unbefangen. »Nun, meine Mission ist jetzt beendet. Ich bin wieder ein natürlicher Mensch und darf sprechen. Vor allem bin ich hungrig und todmüde. Hast du in deiner Stube ein Plätzchen für mich? Über meinen Bart verwunderst dich? Den hatt' ich zu meinem Schutze angelegt, hab' ihn aber abgenommen, um Fräulein von Mably nicht zu erschrecken. Fortan liegt mir nicht viel dran, ob sie mich erwischen.«

Und der Abbé erzählte dem Jugendfreund in kurzen und fast trockenen Worten, die keinen Begriff gaben von der dahinter leuchtenden Seelenromantik, seine ungewöhnliche Mission. Es war Heiterkeit und Freiheit in dem äußerlich so ungeschlachten Gesellen. Der Bann war gewichen; die Dämonen hatten ihn verlassen. In mehrjährigen geheimen und gefährlichen Amtierungen am Oberrhein, unter Strapazen, die einen schwächeren Körper vernichtet hätten, war Leo Hitzinger dieser Ehre teilhaftig geworden.

Auf Viktors Stube aß er ein Geringes; dann streckte er sich auf einer Bank aus, den Kopf auf sein Bündel legend, schloß die glänzenden Schwarzaugen, hinter deren Spiegelscheiben sein Heiligtum verborgen stand, und faltete über der Brust, wo er das eiserne Kruzifix trug, die Hände. Und während auf entfernten Höhen Kinder durch den Sonntag sangen, umfing ihn ein tiefer, glücklicher Schlaf.


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