Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

Addys Tod

Regen und Gewitter waren mit großen Melodien über das Steintal gezogen. Die Blumen in den Gärtchen standen gebückt und tropfend. Wasser und Wässerchen wehklagten im tosenden Gebirge und flohen weinend von allen Felsen ins Tal.

Die Regengüsse verlangsamten sich in ein traurig Rieseln. Stimmen der Wehmut schienen über Land zu wandern; um die Dächer der verregneten Hütten her war ein Seufzen und ein Tasten. Auch dieses verstummte. Dann spannte sich eine tiefgraue glatte Wolkendecke von Climont bis nach den Bergen von Fouday und Rothau herüber. Und darunter war eine feierliche Stille.

Eines Morgens begegnete Viktor einer Frau aus Fouday, die das zweite Gesicht besaß. Die Seherin hatte die Hacke auf der Schulter und ging oben auf der Böschung, schwarz und scharf hervorstechend vom Hintergrunde des Wolkenhimmels.

»Eure Freundin wird binnen wenigen Tagen hinübergehen,« sagte sie nach etlichen Wechselworten mit ruhiger und freundlicher Bestimmtheit. »Es sind befreundete Geister um sie tätig, besonders ihre Mutter.«

Viktor erschrak. Aber er ließ sich nichts anmerken.

»Danke vielmals, Concorde,« erwiderte er, grüßte und setzte seinen Weg nach Fouday fort.

Seine Seele war lange schon auf das Unabänderliche eingestellt. Er übte sich, dem Tod ins Auge zu schauen als einem gottgesandten Führer in eine neue Daseinsform. Nach seiner Weise war er in den letzten Monaten wieder in ein beschauliches Einsammeln und Botanisieren geraten. Die energische Hälfte seines Wesens ruhte. Doch es genügte bei seiner Doppelnatur nunmehr ein einziges Wort oder ein unscheinbares Vorkommnis, und der Träumer war wieder straff und zur Tat bereit.

Taten waren angesichts des unabwendbaren Sterbens dieses holdseligen Geschöpfchens nicht zu verrichten. Aber die Sterbende war sein Sorgenkind; die Tat bestand darin, daß man diesem Ereignis gewachsen war. Oft hatte ihn Furcht überschauert, wenn er den Gedanken ins Auge faßte: Addy wird sterben, und ich werde machtlos zusehen. Jetzt aber, dem nahen Ereignis gegenüber, fühlte er sich von Furcht befreit und mit Feierlichkeit erfüllt.

Die Silhouette der Seherin, die sich in dunklem Ernst vom Horizont abhob, blieb lange in ihm haften.

»Warum sind diese Leute von einer so freundlichen Festigkeit?« fragte er sich. »Nicht der Tod und nicht das Hinter-dem-Tod erschüttert ihren sicheren Frieden ... Daß dieses feine Seelchen Addy zunichte werde, auch ich kann mir's nicht vorstellen. Ich glaube an Unsterblichkeit, Gott, ich glaube! Jedoch meine Anschauung verlangt über Glauben und Theorie hinaus noch unerschütterlichere Gewißheiten. Ich will zu Hause sein in jenem unbekannten Reiche und gleichwohl der Erde treu bleiben, die der Ort meiner Lebensarbeit ist.«

Die Geisterseherei des Steintals und die Swedenborgischen oder apokalyptischen Anschauungen Oberlins hatten ihn zwar gelegentlich beschäftigt. Jetzt aber bekam er Gelegenheit, die Probe aufs Exempel zu machen und seines Glaubens Kraft zu beweisen. Seit seines Vaters Tod hatte der Vorgang des Sterbens an Schärfe und Bitterkeit für ihn verloren. Er spürte, wie sich ihm die scheinbare Nacht des Jenseits unter solchen persönlichen Erlebnissen in einen neuen Tag verwandelte, wie sich sein Auge daran gewöhnte, auch dort im scheinbar gestaltlosen Nichts Fülle von Gestaltung zu ahnen.

Inzwischen waren weder Frau Frank mit Leonie, noch der lebensvolle Hans mit seinem regsamen Käthl im Steintal eingetroffen. Die jungen Hanauer waren durch dringende Feldarbeit abgehalten. Und ein leidiger Unfall, eine Fußverstauchung, hielt Frau Johanna fest; sie sandte vorerst nur einen feinen südländischen Wein und stellte ihren oder Leonies Besuch in baldige Aussicht. Im Frühling hatten sie Addy besucht und längere Zeit im Steintal geweilt; es war damals die Hochflut der Robespierreschen Herrschaft, und eine Rückkehr der Leidenden nach Barr war nicht ratsam. So ließen sie das Kind in Oberlins und Viktors Hut; es fehlte nicht an mannigfacher und zarter Umhegung der Kranken, von Oberlins Töchtern bis zur verständigen Catherine Scheidecker und ihren Nachbarinnen; und jede Woche kamen von Barr Briefe oder kleine Sendungen ...

Addy saß, in Kissen gebettet, in ihrem Lehnstuhl, unfern vom immer offenen Fenster. Ein Stück grauen, glatten Himmels umrahmte die bleiche Gestalt; sie sah mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen. Wieder war sie, wie einst im Sommergarten zu Barr, in ihr blaßgrünes Kleid gehüllt und hatte ein weißes Tuch um die Schultern, das Viktor noch von ihrer Mutter her kannte.

»Mein lieber Freund,« flüsterte Addy und nahm Viktors Hand, »mein lieber, lieber Freund! Wie treu bist du zu mir!«

Er setzte sich neben sie auf einen Schemel und behielt ihre Hand. Sie war sehr matt, schloß die Augen und schien lächelnd wieder einzuschlummern.

Frau Catherine hatte ihm erzählt, daß Addys Zustand zwischen Herzkrämpfen, erschöpftem Schlummer und überaus klarem, heitrem Wachen abwechsle. Aber so schwer auch die Anfälle seien, so schiene sie doch rasch wieder erholt zu sein und keine Schmerzen zu leiden; meistens liege sie in einem milden Halbschlummer und lächle vor sich hin.

So lag sie auch jetzt. Und als sie nach einer kleinen Weile die Augen wieder aufschlug, war ein Ausdruck von Verwunderung darin.

»Wenn ich schlafe, steht sie dort am Fenster,« sagte sie leise. »Und wenn ich die Augen öffne, ist sie wieder fort.«

»Wer denn, Addy?« »Meine Mutter.«

Viktor schwieg. Catherine, die sich in der Nähe beschäftigt hatte, verließ geräuschlos das Zimmer und ging ihrer Arbeit nach.

Beide waren nun allein, und Addy wandte sich dem Freunde zu.

»Du sollst das Kästchen an dich nehmen, Viktor, wenn ich gestorben bin. Es liegt in der Schublade. Den kleinen Schlüssel trag ich am Halse neben dem Medaillon. Das Medaillon sollst du auch behalten. Sie will es so, und ich will es auch.«

Viktor wurde einen Augenblick von Rührung übermannt. Er lehnte sanft den Kopf an ihre Schulter.

»Meine gute kleine Addy!« »Mein guter Viktor!«

»Es ist mir so leid, daß Frau Frank und Leonie nicht kommen können.«

»Grüße sie alle. Sie sind freundlich zu mir gewesen. Auch den guten Priester – ich weiß seinen Namen nicht mehr – – den Abbé. Ich bin seitdem so ruhig.«

Sie verfiel wieder in ihr traumhaftes Lächeln. Durch das einfache Bauernstübchen verbreitete sich eine feine Stille. Viktor erhob sich möglichst leise aus seiner etwas unbequemen Stellung und setzte sich ihr wieder gegenüber, doch nahe genug, daß sie die Stimme nicht anzustrengen brauchte, und ihre Hand in der seinen behalten konnte.

Und schon bewegte sich wieder Addys marmorschönes Köpfchen. Sie schaute auf ihre linke Hand und zog einen Ring vom Finger. Und den Ring betrachtend, sprach sie leise, mühsam und manchmal stockend:

»Du hast mir von deinem Ring erzählt. Das hat mich immer so gefreut. Dieses hier ist ein kleiner, echter Diamant. Nicht wahr, er ist sehr schön? Viktor, ich will ihn dir anstecken – wie die Braut dem Bräutigam den Ring ansteckt. Und doch nicht ganz so, denn du sollst ihn nicht behalten.«

Und noch einmal entfaltete das vornehme Kind ihre unvergleichlich reizvolle Anmut des Lächelns und der Bewegungen, als sie nun seine Hand ergriff und den Finger suchte, an den wohl der Ring passen möchte. Ihr Leiden schien auf einen Augenblick fortgezaubert; es war die adlige Französin, die mit dem ihr eigenen bestrickenden Wesen und fast schelmisch seine Finger absuchte und graziös plaudernd den kostbaren Reif anprobierte.

»Ist dies der rechte? Nein, er paßt nicht, er will den Ring nicht. Auch du nicht – der auch nicht – meine Freunde, wir müssen uns wohl an den kleinsten von euch halten – richtig, am kleinsten paßt er ausgezeichnet. Nicht wahr, Viktor? Ist es nun nicht, als hätt' ich mich meinem Liebsten anverlobt? Du bist mein Liebster, du! Indes, ich sagte dir, du darfst ihn nicht behalten. Du sollst ihn an eine Freundin weitergeben, auf die ich manchmal – leider – ein wenig eifersüchtig war. Weißt du, wen ich meine? Rat' einmal!«

Viktor litt unter diesem Gespräch.

»Liebe Addy, hab' ich dir jemals Ursache gegeben, anzunehmen, daß mir jemand teurer sei als du?«

»Aber sie,« versetzte Addy. »Sie hat dich lieb: – Leonie.«

»Addy!«

»Sie hat's nicht gesagt – sie weiß es vielleicht noch gar nicht – aber es ist so. Und warum soll sie nicht? Sie ist gesund – und ich muß sterben.«

Wieder, wie damals in Barr, ging ein Seufzer durch das stille Zimmer. Aber diesmal leise, zart und langsam; das Schwere war überwunden. Des jungen Mädchens Lebensleid lag in diesem Seufzer, aber auch der Sieg. Über ihr Gesichtchen zuckte noch einmal der Schmerz. Sie lehnte die Schläfe ins Kissen und schloß die Augen. Dann, nach einer langen Pause, fuhr sie fort:

»Viktor, wenn du ihr den Ring gibst, sag' ihr, daß ich ihr gut bin. Ich bin ihr sehr, sehr gut, trotzdem ich manchmal etwas eifersüchtig war auf ihre Gesundheit. Ach, ich war immer eifersüchtig – ihr habt es nur nicht gemerkt – schon auf meine Mutter war ich eifersüchtig. Papa hat uns zu wenig lieb gehabt. Daher kommt es vielleicht. Wir wollten doch auch gern geliebt sein.«

Es war nur ein Hauchen, so leise sprach sie und so wehvoll. »Addy, wir haben dich sehr lieb.«

»Ihr habt mich sehr lieb ... Aber das ist's nicht ganz« ...

Sie brach ab und blieb mit geschlossenen Augen liegen. Ihre Worte hatten einen so traurigen Klang, und dieses Stimmchen war so melodisch, aus so zerbrechlich feinem Metall, daß Viktor seine Bewegung nicht mehr zu meistern vermochte. Er winkte Catherine heran, die durch das Fenster im Garten sichtbar war, und ging bei ihrem Erscheinen lautlos hinaus. Draußen rang er stumm die Hände. O Gott, wie elend war dieses Kindes Mutter gestorben! Wie elend siecht es nun selbst dahin! O du Gott der Liebe, wie bist du unbegreiflich!

So erging er sich in Klagen. Und um ihn her im spätsommerlichen Gärtchen standen die hohen Sonnenblumen und hielten die großen, schweren, goldenen Fruchtscheiben unbeweglich ins matte Licht. Leise Tropfen zitterten manchmal noch von einzelnen Blumen. Die Welt war stumm und still. Das Hochlandstal wartete in Ergebung, ob sich die graue Wolkendecke endlich löse und der Lichtfülle dahinter Zugang verstatte.

Nicht lang hernach kam Pfarrer Oberlin das Tal herab, begleitet von einem seiner Lehrer. Als Viktor des wohlbekannten Mantels ansichtig ward, der dem mittelgroßen Manne bis fast auf die Knöchel reichte, stürzte er hinaus und Oberlin entgegen.

»Addy stirbt!«

Der Pfarrer beruhigte ihn. »Wir wollen ihr den Übergang nicht erschweren, Viktor, sondern uns auf Lob und Dank stimmen.« Und er warf seinen Mantel ab und begab sich mit dem Begleiter, der ärztlich gebildet und arzneikundig war, in Addys Stübchen.

Viktor blieb diesseits der angelehnten Türe. Und um ihn versammelten sich die Kinder, denen des Pfarrers Besuch bemerkbar geworden war. Drinnen plauderten sie sachlich, freundlich und fast heiter; dann sprach Oberlin ein Gebet; auch die Kinder in der Wohnstube sanken auf die Knie und falteten ihre Händchen, wobei die Größeren den beiden Kleinen ermunternd zunickten. Und während des Gebets lichtete sich der abendliche Himmel. Er ließ einen Sonnenstreif herüberfallen, so daß es wie ein Entzücken durch Addys schönheitsfrohe Seele ging, obwohl sie, die mit geschlossenen Augen saß, die willkommene Sonne nicht eigentlich sah, sondern vielmehr in sich einsog mit dem ganzen durchsichtigen Körperchen, dessen Verwandlung in Licht bereits begonnen hatte.

Hernach traten Oberlin und sein Begleiter wieder aus der Kammer, durch deren nun voll geöffnete Türe strahlendes Abendsonnenlicht in die Wohnstube und auf die immer noch knienden Flachsköpfchen fiel.

»So ist's brav, ihr Kleinen! Betet brav, denn gute Engel sind im Hause und wollen Tante Addy abholen! ... Begleite mich, Viktor! Wir wollen nun unsre Kranke ruhen lassen.«

Der Pfarrer verabschiedete sich vom zurückbleibenden Lehrer und der treuen Pflegerin und schritt mit Viktor langsam die Straße nach Rothau hinaus. Die sogenannte » pont de charité«, die Liebesbrücke, die er einst mit seinen Bauern selber gebaut hatte, war beschädigt. Man arbeitete an ihrer Ausbesserung, und der Pfarrer wollte die Arbeit besichtigen.

Die Abendsonne war hindurchgedrungen und warf einen duftigen, nur angedeuteten Regenbogen von ätherischen Farben an die gegenüberliegende Wolkenschicht. Das Tal war in eine zauberhafte Beleuchtung getaucht.

Und Oberlin erzählte in dieser Helle von seinen persönlichen Erfahrungen bezüglich Tod und Jenseits.

»Ich habe kein Buch geschrieben, Viktor, und ich werde kein Buch schreiben. Die Dörfer und Seelen dieses Steintals sind die Blätter, auf die ich schreibe. Doch ist mein Haus, das weißt du ja, ein Museum und eine Bibliothek praktischer und geistiger Dinge. Ich lese meine Bücher genau, mit Stift oder Feder in der Hand, mache Randglossen oder Auszüge und führe Tagebuch. So habe ich zum Beispiel den großen Swedenborg ebenso gründlich studiert wie Botanik, Anatomie, Heilkunde und Galls Schädellehre. In diesem Durst nach mannigfaltigem Wissen sind du und ich einander verwandt, lieber Viktor; und Swedenborg selber war nicht nur Seelenforscher, sondern auch ein wahrhaft genialer Naturforscher ... Nun also, aus Lektüre und aus Erlebnis sind auch meine Erfahrungen über das Jenseits herausgewachsen. Als ich hieher ins Steintal kam, fand ich hier Leute, die das Ferngesicht oder Feingesicht in die Geisterwelt besitzen. Es mag vielleicht mit der Abgeschiedenheit unsres Tales oder mit dem Magnetismus der hiesigen Erde zusammenhängen; man sagt ja Ähnliches von Bewohnern der Shetlandsinseln und schottischer oder norwegischer Täler. Ich jedenfalls eiferte anfangs mit soldatischem Ungestüm und den Waffen des Gebildeten gegen diesen vermeintlichen Aberglauben. Aber die Leute erwiderten lächelnd: ›Aberglauben? Aber wir glauben oder behaupten ja nichts, wir schauen ja nur‹ ... Kurz, es war nichts zu machen.«

»Ich kenne Kants scharfsinnige Schrift gegen Swedenborg,« schob Viktor ein.

»Die ›Träume eines Geistersehers‹? Ja, sie mag sehr scharfsinnig sein. Aber hier handelt es sich nicht darum, ob man das Dasein von Amerika scharfsinnig beweist oder hinwegbeweist: man reist selber hinüber und erzählt dann davon. Unsre Seher hier im Steintal machten mir Mitteilungen, die mich überraschten; es war etwas Gemeinsames in ihrem Schauen, eine innere Ordnung, ein geheimer Sinn. Es stimmte mit dem überein, was ich in mystischen Werten gelesen hatte, von denen diese einfachen Leute nichts wußten ... Die hinübergeschiedenen Seelen machen in den Regionen der Atmosphäre verschiedene Zustände durch, bis hinauf in das Vorparadies und in das göttliche Licht. In den unteren Regionen ist noch Schwere, sie haften noch an den Sorgen oder Lüsten der Erde; nach und nach aber, entsprechend ihrer Vergeistigung und Läuterung, folgen die Geister höheren und feineren Anziehungen. Edle Menschen, die nicht beschwert sind von Laster und Leidenschaften, steigen sofort nach dem Tod in die lichteren und leichteren Bezirke auf, die ihrem feinen seelischen Magnetismus entsprechen ... Ich habe nach dem Tode meiner Frau – es ist über ein Jahrzehnt her – neun Jahre lang mit ihrer Geisterperson verkehrt. Ich habe unzählige Male, meist im Halbtraum morgens um eine bestimmte Stunde, mit ihr gesprochen über Dinge, die meinen Geist beschäftigen oder mein Herz beschwerten. Dann hörten die Erscheinungen plötzlich auf. Und es kam ein Mann aus Belmont zu mir, der das Gesicht hat, und teilte mir mit, er hätte meinen verstorbenen Sohn in der Jenseitswelt gesprochen und von ihm erfahren, die Mutter könne fortan nicht mehr erscheinen, weil sie in eine höhere Sphäre emporgestiegen sei.«

Viktor, der in stiller Trauer, aber horchbegierig neben dem ungewöhnlichen Manne einherschritt, warf hier die Frage ein:

»Wie unterscheiden sich denn aber gewöhnliche Träume, die meist so verworren sind, von eigentlichen Visionen?«

»Einem Menschen,« erwiderte der Geisterseher, »der nichts Ähnliches erfahren hat, diesen Unterschied begreiflich zu machen, ist fast ebenso schwer, als wollte ich einem Blinden den Unterschied zwischen blauer und grüner Farbe verdeutlichen. Keine Beschreibung ersetzt hier die Anschauung. Der Unerfahrene wird dies als Einbildung oder Aberglauben ablehnen. Mag er es tun! Es ist für den Glauben nicht entscheidend und es verhilft nicht zur Seligkeit, ob man dergleichen annimmt oder auf sich beruhen läßt. Ich streite daher hierüber mit niemandem.«

»Ein liebes Weib von einem Tag auf den andern verlieren,« bemerkte Viktor ablenkend, »muß eine ungeheure Erschütterung sein.«

»Wahrlich, ja!« rief sein Begleiter. »Wer so etwas durchgemacht und verarbeitet hat, der ist Schwerstem gewachsen. Als mein blutjunger Sohn der Kugel erlag, war es zwar ein herber Schmerz. Aber als uns ein befreundeter Geistlicher besuchte, glaubte er mich und meine Familie in tiefster Trauer zu finden, war jedoch sehr erstaunt, uns so ruhig und gefaßt zu sehen. Warum denn niedergeschmettert sein? Wissen wir doch, daß mein Sohn ebenso wie meine Gattin in andren Sphären eine andre Aufgabe zu erfüllen hat. Doch damals, vor elf Jahren, war es sehr, sehr schwer. Denn Mann und Weib bilden ein Ganzes; und dies Ganze wurde jäh und heftig auseinandergerissen. Da ist es kein Wunder, lieber Viktor, wenn ein Teil von ihr in mir zurückblieb und sie Jahre dazu brauchte, bis sie sich ganz aus mir herausgelöst hatte. Es gibt nach Swedenborg Ehen, die im Himmel geschlossen werden; es sind das unzertrennliche Kameraden, die einander im Emporstieg helfen, gleichsam Doppelsterne. Manche sind nur vorübergehend einander zugesellt, weil sie einander grade zu einer bestimmten Zeit zu gegenseitiger Einwirkung – oft auch heftiger Art – brauchen. So ist es manchmal auch mit Freundschaften. Das Förderliche, was diese Freundschaften wirken, bleibt; die Personen selbst gehen wieder neue Verbindungen ein. Und so ist es auch mit Feindschaften oder Leiden. Das ganze Weltsystem ist ein Netz von wechselseitigen Einwirkungen, um jeden einzelnen und zugleich das Ganze vorwärts zu treiben, der uns innewohnenden Bestimmung entgegen. Unsre Bestimmung aber und unser Seelenziel ist das himmlische Jerusalem. Du wirft mich allmählich genügend verstanden haben, um zu wissen, daß dies kein geographischer Ort ist im irdischen Sinne, sondern ein Vollendungszustand. Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär' in dir!«

Viktor fing an, mit Oberlins Augen zu schauen. Er begriff, daß sich seinem Begleiter biblische Namen wie Jerusalem, Berg Zion, Kanaan und dergleichen zu sinnbildlichen Bezeichnungen formten, hinter denen sich seelische Zustände verbargen. Nun verstand er jene Karte, die in Oberlins Studierzimmer neulich Verwunderung erregt hatte. Aus dem Sodom und Gomorra der Sünde emporzubringen in die Burg Zion eines neuen und himmlischen Jerusalems: war es nicht ein sofort verständlicher Entwicklungsweg? Das Überraschende bestand für ihn darin, daß bei dieser großzügigen Entwicklung der leibliche Tod gar keine Rolle spielte, gar nicht wichtig schien; der Tod wurde nur als eine Veränderung der Daseinsform empfunden, nicht aber als eine Änderung des Seelenzustandes und des Seelenwertes. Denn Himmelreich oder Hölle – so führte der Schüler Swedenborgs aus – gehen mitten durch die Menschheit hindurch; und jeder von uns gehört schon auf Erden einer bestimmten Gruppe an, je nach seinem Reifezustand; und so befinden sich in diesen geistigen Gruppen oder Nationen sowohl verkörperte als auch entkörperte Geister; denn sie verbindet nicht der Ort, sondern die geistige Verwandtschaft.

»Welch ein lebensvolles Universum!« rief Viktor. »Welch eine himmlische Geographie!«

Und er blieb stehen, umflossen und durchdrungen von dem mächtig herüberbrandenden Abendlicht und dem inneren Lebensfeuer, das jenem äußeren Lichte Antwort gab. An seinem kleinen Finger blitzte Addys Diamant; und am Nachbarfinger der bescheidene bürgerliche Bergkristall mit dem Gelübde-Wort.

»Eros!« rief er. »Das ist Eros, der Gott der Liebe, den aber Plato als den Drang nach Vollendung deutet! So sprach mir einst der edle Humboldt, so spricht nun Vater Oberlin und deutet mir dies als den Wanderdrang nach dem himmlischen Jerusalem. Es ist die Liebe, die alle Gestirne treibt und als Lebensfeuer in allen Menschenseelen tätig ist, heftig und unedel in gemeinen Naturen, aber harmonisch in gereiften. Sie führt uns zueinander und läßt uns umeinander kreisen, sie zieht uns hinan in die Ursonne, in die Gottheit. Denn Gott ist die Liebe! In ihm leben, weben und sind wir!«

»Ja, wie das schon Sankt Paulus herrlich gesagt hat,« vollendete Oberlin. »Und der große Fackelbringer der Liebe ist Jesus Christus, der ausging aus dem Vater, wie ein Strahl ausgeht aus der Sonne ... Viktor, und laß dir wiederholen, was ich an jenem Sonntag in Ergänzung deiner Predigt gesagt habe: groß und gut ist der Kantisch geschulte Willen – aber größer ist die Gnade. Jene männliche Kraft treibt uns titanenhaft empor; diese aber kommt uns wie eine Jungfrau liebend und gütig von oben entgegen und zieht uns hinan. Beides ist wichtig; das letztere aber ist die Erfüllung. Um sie zu empfangen, braucht es nur – ›nur‹, sage ich, Viktor, aber es wird spät und schwer gelernt – des stillehaltenden Vertrauens, wie die Kinder vertrauen. Den Kindern gehört darum das Himmelreich, denn in ihrem rührenden Vertrauen sind sie rein – so rein wie dort unten in Fouday Addys reines Seelchen, das nun heimkehrt in das ewige Licht.«

Beide Männer schwiegen bewegt. Denn mit ihren Gedanken verband sich wieder Addys Leidensbild und gab ihrer Geistigkeit eine zarte, warme Menschlichkeit.

Oberlin dachte an das liebste Menschenkind, das er selber hatte sterben sehen.

»Meine Frau und ich«, sprach er, »waren oft so beschäftigt, daß wir uns nur im Vorübereilen in einer besonderen Art die Finger zu berühren pflegten. Ich erkannte sie später bei ihren Geisterbesuchen an dieser flüchtigen, aber herzlichen Grußform. Aus Nutzwirkung besteht alles Leben; auch in der jenseitigen Welt. Auch dort sind Schulen, wenn ich so sagen darf; auch dort sind belehrende oder warnende Wechselwirkungen zwischen reifen und unreiferen Geistern. Ich sah dort Schulen, die in ungemein reizenden Gärten und Landschaften abgehalten werden. Die Schüler waren munter und freudig. Es ist dort auch ein besonderes Kinderland; und in zierlichsten Kleidern von himmlischen Farben leuchten die versammelten kleinen Seelen, unterwiesen von Engeln, bis sie herangewachsen sind für reifere Bezirke. Alle Engel haben übrigens die Stufen des Menschentums durchgemacht, sind also ehemalige Menschen und fühlen darum Menschliches nach. Ich sah einmal meine Frau in Gegenwart eines erhabenen Greises junge Seelen unterrichten. Sie kam gewöhnlich, um mich nicht zu erschrecken, um eine bestimmte Zeit zu mir, meist morgens um drei Uhr. An der Leidenschaftlichkeit, mit der ich sie anfangs festzuhalten suchte, merkte ich, daß ich an ihr noch mehr hing als an Christus. Dann wurde mir im Gesicht bedeutet, daß sie sich von den Anziehungen des Fleisches gelöst habe. Und nach und nach begegneten wir uns mit einer herzlichen Feierlichkeit, mit einer innigen Freundschaft, die durch eine früher noch nicht ausgebildete gegenseitige Ehrfurcht veredelt war ... An allen unsren kleinen oder größeren Sorgen hat sie teilgenommen. Einmal hat sie sogar meine Obermagd drei Nächte hintereinander im Traum gewarnt, unser ganzer Vorrat wertvollen Weines sei in Gefahr, auszulaufen. Die Magd wird unruhig, läuft in den Keller, findet nichts, wird abermals gemahnt – und entdeckt endlich, daß Reifen gesprungen sind und das kostspielige Naß um ein Haar verloren gegangen wäre. Einmal führte sie mich im Jenseits in das Studierzimmer eines verstorbenen Professors. Ich sah dort außer bekannten Instrumenten viele unbekannte. Es wäre da noch viel zu erzählen. Und dann also blieb sie plötzlich fort. Ihre Kleider waren, ihrer wachsenden Reife entsprechend, immer glänzender geworden. Nun suchte um jene Zeit Joseph Müller aus Belmont seinen Onkel Morel in der andren Welt; er wurde durch meinen verstorbenen ältesten Sohn zu ihm geführt; und von meinem Sohn erfuhr er hierbei, wie ich dir schon sagte, daß meine Frau in eine höhere Wohnung der Seligen aufgestiegen sei und sich mir fortan nicht mehr sichtbar machen könne.«

Sie waren an der beschädigten Brücke angekommen. Viktor wandelte traumhaft neben dem merkwürdigen und doch so natürlich sprechenden Geisterseher und schaute wie verwundert auf, als irdische Menschen um ihn her die Mützen zogen, inmitten von Balken, Steinen und silberklar schimmerndem Granitkies, zwischen denen sie arbeiteten.

Der Pfarrer erkundigte sich nach dem Fortgang der Arbeit und ließ eine Handvoll Sand und Kies durch die Finger gleiten. »Wie schön ist das, Leute! Läßt sich damit nicht eine prächtige Brücke bauen?« Und Viktor an der Hand fassend, schritt er ein wenig mit ihm abseits, aus dem Geräusch der Schaufeln hinweg, und schloß das Gespräch ab.

»Ich will dir auch noch sagen, wie sie gestorben ist. Am Abend waren wir noch still und traulich beisammen; sie war leidend, aber wir besorgten keine Gefahr. In der ersten Frühe stürzt meine Magd herauf und klopft mich wach: ›Madame ist krank‹. Totmüde hör' ich es kaum und schlafe weiter; und wieder kommt sie herauf: ›Madame ist sehr krank‹. Ich eile hinunter: da sitzt sie auf dem Bett, hat die Füße im Wasser, den Kopf an die treue Luise Scheppler gelehnt und atmet schwer. Ich nehme das teure Haupt in die Arme und vernehme in ihrer Brust ein Knacken und Knistern, als ginge etwas entzwei; lege sie endlich sanft in die Kissen und fühle den Puls. Kein Puls! den Herzschlag: kein Herzschlag! Der Arzt kommt; ich lasse ihn bei der Sterbenden, eile auf den obersten Boden und werfe mich vor Gott auf die Knie, betend, stammelnd, weinend um ihr Leben. Doch sieh, es drängt sich mir immer nur der Spruch auf die Lippen: ›Lobet den Herrn, alle Heiden! Preiset ihn, alle Völker!‹ Dann ging ich gefaßt hinunter; ich wußte nun, daß sie gestorben war. Gestorben? O, nein, gleich am ersten oder zweiten Abend, wie ich mich in meinem Schlafzimmer entkleiden will, erscheint mir ihre Gestalt, wirft sich mir um den Hals und sagt: ›Ich werde erstaunend viel um dich sein‹ – und ist verschwunden. Wunderbar hat mich diese Erscheinung gestärkt! ... Doch nunmehr gute Nacht, mein tiefer, ernster, vielgeprüfter Freund! Du mußt durch viele Anfechtungen hindurch, aber du wirst fest werden. Nicht traurig sein, mein Freund, sondern vielmehr ein herzhaftes, fröhliches: ›Lobet den Herrn!‹ Und wenn im Elsaß wieder reinere Luft ist: Arbeit! Schöpferische Arbeit!«

Und der Pfarrer packte selber eine Hacke und ging seinen Bauern mit ermunterndem Beispiel voran.

* * *

Viktor, der noch nicht recht ausgeheilte Soldat, war von diesen Gesprächen und Ereignissen äußerst ergriffen und ging bewegt nach Hause. »Süße Addy!« rief er aus, einmal über das andre die Hände faltend, wie im Gebet, als er in seiner Kammer wieder einsam hin und her ging, »wenn du nun hinüberkommst in jenes Reich der Antwort aus unsrem Lande der Fragen, so bitte für mich bei den Wissenden, so sende mir helfende, überzeugende Engel! Denn ich bin noch nicht zum Glauben dieses Mannes hindurchgedrungen.«

Doch er war gereifter, als ihm selber vorerst bewußt war. Eine unruhvolle Nacht, in der sich die Gedanken peitschten wie der Wasgenwald im Novembersturm, war das letzte Anzeichen einer absterbenden kleinmütigen Lebensstimmung. Diese Tage waren eine Krisis. Oberlins Wesen, trotz alles Befremdlichen seiner persönlichen Vorstellungsart, entfaltete immer mehr seine werbende Persönlichkeitskraft. Ein Neues ging in Viktor auf: eine edle Sicherheit und vertrauende Ruhe, ein Lebensmut, ein Glaube an die geheime Leitung alles Schicksals.

In der Frühe des nächsten Morgens brachte ein reinlich gekämmtes Kind der Catherine Scheidecker aus unschuldigem Munde die Nachricht, daß Adelaide von Mably in der Nacht einem Herzkrampf erlegen sei.

Viktor vernahm die Todeskunde ohne Erschrecken. Es war in ihm eine erhabene Stille. Oberlins Wort drängte sich auch ihm auf die Lippe: »Lobet den Herrn, alle Heiden! Preiset ihn, alle Völker!« und zu Frau Salome, seiner Wirtin, sprach er schlicht: »Addy ist zu ihrer Mutter heimgegangen.«

Als er in Frau Catherines Hütte hinunterkam, lag Adelaïdens schuldlos Körperchen bereits in weißen Kleidern auf dem Lager, mit einem freundlich ausdruckslosen Lächeln, von Blumen umkränzt und mit weißen Astern in den gefalteten Händen. Viktor stand lange vor der friedevollen Gestalt, vor dieser erlösten Seele, deren Erdenwandel so eng mit seinen Sorgen und Schicksalen verwachsen gewesen. Aber es kam keine Träne in sein Auge. »Leb' wohl, kleine Addy!« sagte er zart und strich ganz leise über die weißen Hände.

Das Medaillon und das Schlüsselchen hatte sie selbst noch am Abend abgenommen; ein Bild ihrer Mutter sollte mit ihr begraben werden. Man fand auf ihren schön geordneten und mit Bändern anmutig zugeknüpften Papieren obenan Briefe an ihre Freunde, nach Addys Tode zu öffnen. In Gegenwart Oberlins wurden die nötigen Verfügungen getroffen; und man beriet sich über Eilboten, die etwa nach Barr und vielleicht auch nach Imbsheim zu senden wären. Auf das letztere verzichtete man um der weiten Entfernung willen; über das Hochfeld nach Barr zu reiten, bot sich Viktor selber an. Er hatte nun, aufatmend von einem langen Druck, ein Bedürfnis nach starker körperlicher Bewegung. So entzog er sich den nüchternen Vorbereitungen, die um den entseelten Körper her noch zu treffen waren. Er begab sich nach Rothau und bestellte sich im Gasthof das Pferd, das ihm schon öfter gedient hatte. Durch das Tal der Rothaine gedachte er emporzudringen und dann durch jene ausgedehnten Nadelwälder zwischen Hochfeld und Odilienberg auf weichen Graswegen das Gebirge zu durchreiten, um über Hohwald und Andlau nach Barr zu kommen.

Aber ihm waren in Rothau selbst Überraschungen vorbehalten, die zuletzt die Reise überflüssig machten.

Während man das Pferd besorgte, begab sich Viktor in das Dietrichsche Schloß, um die Todesnachricht persönlich zu überbringen.

Er vernahm, daß die jungen Damen mit Demoiselle Seitz beim Unterricht waren. Aber im Garten sah er drei Gestalten wandeln, die zu seiner eigenen Trauer stimmten. Es war die einst so anmutig bewegliche Witwe des Maire Dietrich, nunmehr in düstrer Witwenkleidung; im gebückten Greis daneben erkannte er den Stettmeister, ihren vornehmen Schwiegervater; im Jüngling zu ihrer Linken ihren Sohn Fritz. Es war ein unfroh Wandern. Sie blieben von Zeit zu Zeit stehen und besprachen sich untereinander, wobei der Jüngling der lebhafte Anreger schien, sichtlich bemüht, den gebrochenen Greis, der vor kurzem erst das Gefängnis verlassen hatte, ermutigend emporzurichten.

Man begrüßte sich. Viktor brachte seine Nachricht an.

»Das liebe Kind ist gut aufgehoben,« sagte die Witwe gefaßt. »Sie ist Emigrantin geworden in das Land der wahren Freiheit. Wir andren ringen noch ... Wir besprachen hier soeben die etwa noch möglichen Maßnahmen, meinen verstorbenen Gatten wenigstens von der Liste der Emigranten streichen zu lassen. Wenn es uns nicht gelingt, sind wir unsres Vermögens verlustig.«

Viktor beglückwünschte den alten Stettmeister zur wiedererlangten Freiheit.

»Freiheit?« erwiderte der Greis gedehnt, hob das bedeutende und würdige Haupt empor und warf einen spähenden Blick auf den Hauslehrer von ehedem. »Sie sind der Sohn des braven Hartmann, mit dem ich eingetürmt war. Waren Sie nicht dabei, als ich mich hier mit meinem Sohn über das liberale Prinzip unterhielt? Nun, und jetzt? Was anderes als das liberale Prinzip hat ihn denn getötet? Hab' ich nun recht behalten oder nicht?!«

Der Alte stieß den schweren Stock auf und fuhr fort:

»Geben Sie acht, junger Mann, was sich nun im Laufe der nächsten hundert Jahre ereignen wird! Der Absolutismus des Pöbels wird den Absolutismus der Könige ablösen. Europa wird ein großes Parlament werden; der Schuft und Intrigant hat darin dasselbe Stimm- und Schwatzrecht wie der edelste Mann. Dies wird man Gleichheit nennen. And mit den heuchlerischen Phrasen ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ wird die Masse der Brutalen die Minorität der vornehmen Naturen vergewaltigen. Denn alles handelt sich fortan um Majorität und Partei.«

Es lasteten schwere Schatten über dieser einst angesehenen Familie, die noch vor wenigen Jahren das reiche und gebildete Elsaß auf das glänzendste vertreten hatte.

Man streifte das Schicksal der Türckheims, die nun in Erlangen ruhigere Zeiten abwarteten. Viktor vernahm dann Zusammenhängendes über die letzte Lebenszeit des hingerichteten Maires von Straßburg. Die Pariser Richter hatten ihm dieselben beschuldigenden Fragen vorgelegt wie die Richter in Besançon: er habe rebellische Priester beschützt, er habe die Volksgesellschaft in Straßburg verfolgt, er habe mit Lafayette konspiriert, er habe mit den Feinden Briefe gewechselt – und was des längst widerlegten Unsinns mehr war. Dietrich antwortete das erstemal energisch. Am nächsten Tage dieselbe Szene vor einem neuen Richter und dem damals am übelsten berüchtigten öffentlichen Ankläger. Des unglücklichen Mannes erbitterte Feinde traten als Zeugen gegen ihn auf, unter ihnen der soeben gefangen in die Abtei gebrachte Eulogius Schneider, der heftig wider den Mitgefangenen aussagt. Nun ist Gegenwehr umsonst. Dietrich schweigt. »Ich weiß, daß mein Los entschieden ist«, bemerkt er bloß. Man sprach das Todesurteil. Und der Verurteilte, müde der langen Haft, wünschte sofort hingerichtet zu werden; einem Mitgefangenen zu Liebe, dem derselbe Gang zur Guillotine bevorstand, wartete er bis zum nächsten Tage, wo er dann ruhig in den Tod ging.

Dies erzählte man in demselben Rothau, in dem einst Viktor jener hoffnungsfreudigen Tischgesellschaft beigewohnt hatte.

»Man hat ihm wenigstens die Geige gelassen«, bemerkte Frau Luise Sibylle. »Er hat im Gefängnis viel komponiert. Und seine letzten Briefe sind mein Heiligtum. Ach, wir haben manchmal in früheren Jahren unsrer Ehe mehr nebeneinander als miteinander gelebt, wie es eben der große Ton des Pariser Hofwesens mit sich brachte. Aber das Leid hat uns gereift. Noch in Besançon war ich immer bei ihm, bis sie ihn dann nach Paris wegführten und ich ohnmächtig oben auf dem Stubenboden liegen blieb.«

»Das französische Königtum hat den Ammeister Dominik Dietrich in den Kerker gesteckt, die französische Republik hat den Bürgermeister Dietrich getötet,« schloß der alte Stettmeister das Gespräch mit harter Stimme. »Ich habe von dieser Welt genug.«

Und der Greis schritt am Arm seines Enkels in das Haus zurück.

Viktor schied von dieser Stätte der Trauer. Sein Leid um Addy erweiterte sich; durch die ganze Nation ging ja derselbe große Schmerz.

Und als er vom Schloß nach dem Gasthof ging, kam er an einer Gruppe von Bürgern vorbei, die vor einer Schmiede standen und erregt eine Neuigkeit besprachen. Der kräftige Schmied, ein kirchentreuer Katholik, wetterte nicht wenig. Viktor blieb aufhorchend stehen und wurde sofort in die leidenschaftliche und bekümmerte Erörterung mit hineingerissen. Man sprach von einem aufregenden Ereignis, das sich, dem Gerücht nach, am Schneeberg abgespielt hatte. Dort, in einer Höhle, hatten sich vier katholische Priester verborgen gehalten; sie waren entdeckt und von Gendarmen erschossen worden.

Hartmann fuhr zusammen. Hitzinger?! ... Er stellte Fragen über Fragen. Es waren keine Namen zu erfahren; doch war ihm sofort die Tatsache gewiß, die sich später bestätigte: den Abbé hat sein Schicksal erreicht!

»Ist dort nicht das Haslacher Tal und die Burg Nideck?«

»Freilich,« erwiderte der erzählende Schmied und zeigte mit der klobigen Faust in die Ferne, »es heißt, daß dort Riesen gehaust haben, und daß einmal die Riesentochter eine Schürze voll Bauern heimgebracht habe, denn sie hat das für Spielzeug gehalten. Dort sind die frommen Männer versteckt gewesen und sind auf der Flucht totgeschossen worden.«

Viktor, der mit so ruhevoller Andacht von Addys Totenbett geschieden war, fand sich wieder den leidenschaftlichen Erregungen der Welt ausgesetzt. »Will denn« – rief er – »dieser Tag Schmerz auf Schmerzen häufen?!«

Doch im Gasthof wartete eine Überraschung. Nicht sein Pferd war gesattelt, wohl aber hielt vor dem Tor ein Wagen, der ihm bekannt schien, mit zwei wohlgenährten Schimmeln, die ihm erst recht bekannt waren. Und wahrhaftig! Als er die Steintreppe hinaufstieg, sprang oben mit einem jubelnden Ruf Leonie Frank aus der Türe! Das herrlich gewachsene, tannengerad und federnd einherschreitende Mädchen strahlte vor Gesundheit und Freude und schüttelte dem Verblüfften immer wieder beide Hände. Und hinter ihrem großen, mit Efeu und Wildrosen gezierten Mädchenhut tauchte in hellgrünem hanauischen Bauernrock und elsässischer Haube »'s Käthl von Bischholz« und der lange Jean oder »Hans von Uhrweiler« mit der Adlernase und den hellen Augen auf, beide mit ihren rotbraun gesunden Bauerngesichtern trefflich zu Leonies rosigen Wangen stimmend. Sie hatten sich, nach brieflicher Verabredung, in Mutzig getroffen und waren in diesem Augenblick in Rothau angekommen, wollten sich erfrischen und dann weiterfahren, um Addy zu überraschen. Frau Frank, immer noch leidend, war zurückgeblieben.

Und so umwogte nun den plötzlich wieder auflebenden Viktor eine dreifache Gesundheit und sang ein Hohelied vom Leben. Doch das Lied verwandelte sich freilich schroff genug in erschrockenen Ernst und in Laute der Wehmut, als er nun möglichst schonend Addys Heimgang erzählte. Also zu spät gekommen! Leonie, zum erstenmal ohne ihre Mutter unterwegs, sah sich vor eine harte Probe der Selbständigkeit gestellt; sie verstummte und konnte ihre Tränen nicht verhehlen. Und die schmerzliche Tatsache: »Addy tot!« machte auch dem guten Jean zu schaffen. Käthl, die der Entschlafenen ferner gestanden hatte, schien besonders darüber bekümmert, daß sie nun keine Trauerkleider anzuziehen habe; und die Aussicht, sich mit den Kleidern einer Steintälerin behelfen zu müssen, war für die junge Bäuerin, die auf Etikette hielt, recht wenig erbaulich.

»Wir Lebenden wollen den Kopf nicht hängen lassen, sondern uns um so lieber haben,« ermunterte Viktor.

Man erwog einen Augenblick einen Besuch auf dem Schloß. Aber besonders Leonie war dazu nicht in der Stimmung und bat in ihrer schüchternen Art, man möge lieber gleich »zu Addy« fahren.

Und so bestieg man den Wagen und fuhr zu Addy. Es war Viktor, bei aller innerlichen Trauer, nach den wechselnden Ereignissen der letzten Tage und nach so langer Anpassung an die Krankenstube, heute zum ersten Male wieder lebenswarm zumute, als er nun Leonie gegenübersaß und dem Plaudern der Ehefrau Katharina zuhörte.

Leonie selber schwieg. Sie verbarg ihre Gemütsstimmung hinter einem Lächeln, wobei sich ihr wehmutstilles Gesicht wunderbar verschönte; oder sie nickte, um nicht unaufmerksam zu scheinen, zu Katharinas lebhaften Erzählungen. Und sie suchte durch dieses höflich aufrechterhaltene Lächeln die Tränen zu verbergen, die in übermächtigem Aufquellen immer wieder die blauen Augen füllten.


 << zurück weiter >>