Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch: Straßburg

Erstes Kapitel

Die Marseillaise

Versprengte Wolkenbataillone werden von einem leichtfüßigen Westwind über den Rhein gejagt. Es ist eine Aprilnacht des Jahres 1792.

Vielzackig, ein abenteuerlich Ungetüm, lagert sich die starke Stadt Straßburg mit ihren scharfkantigen Bastionen, Mauern und Türmen inmitten der Wasserläufe der Rheinebene. Die Festung streckt aus ihrer gedrängten Häuserfülle über alle Kirchen und Kamine das unvergleichlich gewaltige Münster wie einen Stachel empor in die düstergroße Nacht. Der sumpfige Rheinwald hat ein üppiges Weidengrün über die stehenden Wasser geworfen. Amseln schlagen in den Gärten der Ruprechtsau. Die Stadtbeleuchtung, erst vor wenigen Jahren eingeführt, bemüht sich, im Bunde mit überfüllten Bierschenken und Kaffeehäusern, die Gassen der Festung zu illuminieren. Über der Häusermasse winkt der Krummsäbel des Mondes. Wucht und Wildheit ist in dieser Nacht. In den Lüften wetteifern Gascognergesang der Soldaten und deutsche Nachtigallen.

And noch vibriert in den Herzen das heute tausendmal gespielte Revolutionslied »Ça ira« der Regimentskapellen. Denn es ist der 25. April 1792. Das revolutionär fiebernde Frankreich hat der bedeutendsten Nation Europas den Krieg erklärt. Straßburg hat heute mit Musik und Umzug die verwegene Kriegserklärung gefeiert. Abteilungen aller Regimenter der Garnison, zwei Kanonen voran, sind durch die Stadt gezogen; ihnen folgen blaue Reiter der Bürgerwehr oder Nationalgarde. In ihrer Mitte reiten, mit dreifarbiger Schärpe umgürtet, der Maire Dietrich mit dem Stadtschreiber. Auf den hauptsächlichen Plätzen der Stadt wird in deutscher und französischer Sprache die Kriegserklärung verlesen.

Krieg mit Österreich! Krieg mit seinen Verbündeten, den Preußen! Bürger, wir werden diese Tyrannenknechte zermalmen unter dem Wassentritt freier Bataillone! Gallischer Elan wird mit geschliffenem Bajonett diese Söldlinge über den Haufen stoßen. Aux armes, citoyens! Unser Land wimmelt von Scheinpatrioten; und vor den Toren lauern die Emigranten. Marchez! Marchez! In Phrasen droht die Revolution zu ersticken: auf zur Tat! Phrasen sind in diesem parlamentarischen Gezänk billig geworden wie Assignaten, dies verzweifelte Papiergeld: hinaus in die offene Schlacht, wem Bayards Heldenblut in den Adern schäumt! Aux armes, Zu den Waffen! An den Feind!

* * *

»Kandidat Hartmann? Aber natürlich entsinn' ich mich Ihrer. Neulich sprach mir Ihr Vater von Ihren Studien. Nun? Also zwei Jahre deutscher Gelehrsamkeit – und noch lebendig?«

»Sehr lebendig!« versetzte wohlgemut der lange Hofmeister von ehedem. »Obschon ich fürchte, daß man in diesem lauten Lande unter Leben etwas anderes versteht.«

»Aha, die Revolution, nicht wahr! Das geht hier im Geschwindschritt.«

Man war im Hause des Bürgermeisters Dietrich am Broglieplatz zu Straßburg. Der Maire selbst hatte unter der Fülle seiner Besucher den Kandidaten Viktor Hartmann angeredet. Um die beiden her summte das Geräusch einer großen Abendgesellschaft. Man war nicht mehr im gemächlichen Idyll von Birkenweier. Der heimgekehrte Philosoph und Naturforscher spürte die Veränderung bis in die Verkehrsformen hinein. An diesen offenen Abenden der politischen Führer gab nicht mehr die liebenswürdige Umständlichkeit des aristokratischen ancien régime den Ton an, wenn auch die Offiziere von Adel, soweit sie nicht ausgewandert waren, ihre auserlesenen Umgangsformen nicht verleugneten. Der Ton war frei, heftig, unbefangen. Man plauderte mit seinem ersten besten Nachbarn über Politik. Die Frau des Hauses, auf dem Sofa sitzend, erhob sich für jeden Eintretenden, was einer Dame des alten Regime nicht eingefallen wäre. In einem Nebenzimmer saßen anfangs Dietrich und Ehrmann ein Weilchen am Spieltisch; sie rauchten dazu aus langen holländischen Tonpfeifen. Auf einem runden Tisch, von Offizieren umlagert, dampfte die Punschterrine. An Stühlen und Wänden hingen Säbel und Hüte; man bildete sitzend und stehend zwanglose Gruppen. Die Uniform herrschte vor; der Stulpstiefel verdrängte seidene Strümpfe und Schnallenschuhe; schweres Rot und Gold bildeten des Salons kräftige Grundfarbe.

»Wir gehen rapid der Entscheidung entgegen«, fuhr der Maire von Straßburg fort. »Es wird sich binnen wenigen Monaten zeigen, ob die freie Monarchie oder die zügellose Anarchie Frankreich regieren oder verwirren wird.«

Ein düstrer Blick aus des Bürgermeisters blauen Augen durchflog den leicht von Tabaksrauch durchkräuselten Saal. Dietrich war nicht mehr der heitre Optimist von 1739. Bedenkliche Furchen liefen an der Nase entlang zu den Mundwinkeln herunter; man spürte dem Manne an, daß er gearbeitet hatte für das Straßburger Gemeinwesen. Doch seine anmutige Männlichkeit hatte nicht an Würde verloren; ja sie war durch ihren gesetzten Ernst imponierender als zuvor. Noch wußte sich der Maire, dem man sogar den französischen Ministerposten weissagte, Herr der politischen Situation.

»Und wie steht es mit Ihren Absichten hierzulande?« fragte er den Kandidaten. »Jeder tüchtige Zuwachs ist uns willkommen.« »Ihre Frage«, versetzte Viktor, »erinnert mich an einen der bedeutsamsten Tage meines Lebens.«

»Wann und wo war das?«

»Das war zu Rothau im Steintal vor etwa drei Jahren.«

»Richtig, da waren wir ja beisammen. Waren da nicht unsere vortrefflichen Birkheims dabei und jener ungewöhnliche Pfarrer Oberlin aus Waldersbach?«

»Ganz recht. Und da ist mir eben durch Pfarrer Oberlin eine Erkenntnis aufgegangen, die mich voraussichtlich durch mein Leben begleiten wird. Es wurde dort dem jetzigen Maire von Straßburg der Rat erteilt, über den Parteien zu bleiben. Und es wurde auf die wichtige Zweiheit aufmerksam gemacht, die sich durch alle menschliche Ordnung zieht. Hier politische Welt – dort seelische Welt: das ist die Zweiheit. In Jena, Kant studierend und mit Schiller im Verkehr, habe ich diese Weisheit vollends in succum et sanguinem aufgenommen. Und so bin ich entschlossen, mich auch hier in der Heimat der seelischen Erziehungsarbeit zu widmen und die politische Arbeit andren zu überlassen.«

Es war eine glatte Absage.

Der Maire von Straßburg behielt in gesetzter Haltung die Hände auf dem Rücken und hörte den jungen Mann höflich an. Aber die Fußspitze bewegte sich energisch; und immer kühler und ferner wurde der Blick, mit dem nun der schwer in politischen Kämpfen stehende Führer der Stadt den Philosophen ins Auge faßte.

»Was Sie mir da sagen, mein Lieber,« sprach er dann mit etlicher Schärfe, »klingt philosophisch oder christlich, ist aber eine klingende Ausflucht. Ein Mann von Charakter – diesen Standpunkt vertrat ich schon damals im Steintal – muß Partei ergreifen, wenn sein Volk ihn braucht. Der Gute nimmt durch sein bloßes Dasein Partei gegen die Bösen, die selbst den schweigenden Guten als Vorwurf und Herausforderung empfinden. Ich säße wahrlich lieber im Jägertal über mineralogischen Studien, statt mich hier von Jakobinern beschimpfen zu lassen. Was würde denn aber alsdann aus der öffentlichen Ordnung? Wie würde wohl euch idyllischen Träumern mitgespielt werden, wenn wir nicht für eure Sicherheit sorgten? Sie werden noch umlernen. Elementaren Ereignissen gegenüber ist Philosophie Phrase. Levrault, kommen Sie mal her, bekehren Sie diesen Fremdling aus Jena zur Politik!«

Der Maire hatte die letzten Worte einem bildhübschen jüngeren Manne zugerufen. Levrault, ein Druckereibesitzer, damals Prokurator des Departements, der mit Gloutier, Scholl, Ulrich und einigen andren Freunden Dietrichs in der Nähe stand, trat herzu, verwundert über den etwas nervösen Ton des heute freilich besonders geschäftigen Bürgermeisters. And der Maire eilte zu einer Gruppe von Offizieren. Er mochte sich mit einem Neuling nicht aufhalten.

»Sie kommen von Jena?« fragte Levrault. »Da sind Sie zu rechter Zeit heimgekehrt, sonst wären Sie dort am Ende von unserer Armee besucht worden.«

Der betagte Aktuar Salzmann bewegte sich gemächlich näher.

»Haben Sie unsren Dietrich geärgert, daß er so hurtig weglief und Sie stehen ließ?«

»Ich hoffe doch nicht«, erwiderte Viktor ein wenig bestürzt. »Ich bin nur zufällig hier, habe den Herrn Baron von Birkheim im Komödienhause getroffen –«

»Ah, Birkheim aus Kolmar?« vereinfachte jemand.

»Ja, und bin mit ihm hierhergegangen. Da ich neulich erst heimkehrte und über zwei Jahre abwesend war, so sind mir die Verhältnisse hierzuland noch nicht wieder geläufig. Würden Sie die Güte haben, Herr Aktuarius, mir einige dieser Bürger und Offiziere zu nennen?«

Salzmann warf einen Blick in das Gewimmel der Uniformen und zeigte dem Fragenden einige Freunde des Hauses. Da plauderte der Generalmajor Viktor von Broglie, Chef des Generalstabs der Rheinarmee, mit seinem jungen Adjutanten Desair – »Sie erkennen den aide-de-camp oder Adjutanten an der einen Knopfreihe der knappen Uniform« – und der wohlbeleibte, aber mit anmutigen Gesten seine Rede begleitende Herzog Armand von Aiguillon mit dem freien und frischen, bei den Soldaten beliebten Achille Duchastelet: jener in seinem Benehmen noch ganz der philosophisch gebildete Grandseigneur des ausgehenden Königtums, aber auch er ebenso wie Broglie und die anderen den neuen Ideen zugeneigt und als Deputierter beteiligt an der berühmten vierten Augustnacht. Um den Punschtisch sah und stritt ein Schwarm von Offizieren, darunter Kapitän Caffarelli Dufalga vom Geniekorps: sie entwarfen aus vergossenem Punsch Generalstabskarten auf der Tischplatte und erörterten Zukunftsschlachten. Am Ofen saß, im Gespräch mit dem Oberst eines Schweizer-Regiments, der kleine, alte, verwitterte Marschall Luckner, der in seiner besten Zeit ein äußerst nerviger Soldat war.

»Ich kann Ihnen«, sprach Salzmann, »nicht alle diese goldenen Epauletten und Generalsfräcke nennen. Aber vielleicht interessiert Sie dort noch jener blonde große Kapitän vom Ingenieurkorps, der den beiden jungen Nichten Dietrichs den Hof macht. Es ist Rouget de l'Isle: ein musikalisches und poetisches Naturell, angenehm und anspruchslos, spielt noch meisterhafter als Dietrich die Geige, hat einige Singspiele und dergleichen gedichtet und komponiert, ist mit dem Komponisten Grétry in Paris und dem hiesigen Ignaz Pleyel vom Domorchester befreundet – kurz, lauter Vorzüge, die ihn in diesem musikalischen Hause beliebt machen.«

Unter den Bürgern ragte die mittelgroße, doch würdevolle Gestalt des geist- und gemütvollen Pfarrers Blessig empor, eines glänzenden Kanzelredners, von dessen hoher Stirn, lebhaften Augen und starken, emporstrebenden Augenbrauen Feuer auszustrahlen schien. Pasquay und Ehrmann nebst etlichen Professoren, worunter Jakob Jeremias Oberlin, der Bruder des Pfarrers von Waldersbach, waren dem Kandidaten nicht unbekannt. Von Damen waren nur anwesend die hohe Gattin des kleinen und eleganten Herrn von Oberkirch nebst Frau von Birkheim und ihrer glänzend erblühten Tochter Octavie, die beide bei Frau Luise Dietrich saßen, galant umplaudert von Offizieren. Ebendort fielen die beiden Söhne des Bürgermeisters, Fritz und Albert, beide noch im ersten Jünglingsalter, angenehm auf; sie trugen die schmucke Uniform der Nationalgarde; Fritz war Chef des Straßburger Jugendbataillons.

»Kleidsam, nicht wahr?« bemerkte Salzmann. »Dunkelblauer Rock, weiße Umschläge und scharlachener Vorstoß, Kragen von Scharlach – und auf den gelben Knöpfen eine königliche Lilie, umringt von den Worten: »Garde »Nationale strasbourgeoise«.«

Hartmann ließ mit Erstaunen seine Blicke wandern. Das war nicht mehr der weiß-goldene Salon des Rokokoadels, nicht mehr das mädchenhafte Gezwitscher vom Park zu Birkenweier. Hier gab das männliche Element mit sonoren Stimmen den Ton an.

»Nun, was treiben die Studenten zu Jena?« fragte nun seinerseits Salzmann, der einst in der Knoblochgasse mit dem jungen Goethe, mit Franz Lerse und andren Studenten eine unvergeßliche Tischgesellschaft gebildet hatte. »Zu unserer Zeit galt Jena als eine Universität der Raufbolde, wo schlecht gegessen und um so mehr Lichtenhainer Bier getrunken wurde.«

»Das ist dort anders geworden«, beeilte sich Viktor zu versichern. »Es hat sich der Studenten ein metaphysisches Bedürfnis bemächtigt.«

Und Viktor fühlte sich verpflichtet, den Herren anzudeuten, durch welche Äußerung er soeben Dietrichs Verdruß erregt hatte.

»Hätt' ich zu Christi Zeiten gelebt,« schloß der Philosoph, der in dieser soldatisch-politischen Stimmung in der Tat wie ein Fremdling wirkte, »so hätt' ich das römische Reich seinen Millionen überlassen und wäre ins stille Galiläa gezogen. Ich hätte nicht Pilatus gedient, sondern Jesus. Ähnlich ergeht es jetzt, wenn ich das vergleichen darf, einem Teil der jungen Deutschen. Sie suchen vor allem ihre Seele, ihre Persönlichkeit; sie beginnen ihr Erziehungswerk mit sich selber. Müßten diese deutschen Studenten in den Kampf ziehen, sie steckten vielleicht Schillers »Don Carlos« oder Kants »Kritik der praktischen Vernunft« in den Tornister.«

Viktor wurde nach und nach warm. Es sammelte sich um ihn eine Gruppe; und ermuntert durch diese Aufmerksamkeit fuhr er mit steigender Beredsamkeit fort: »Allenthalben in jener lieblichen Landschaft, an der Saale, im Paradies, im Wäldchen von Zwätzen, auf der Höhe des Fuchsturms, können Sie junge Deutsche über philosophische Probleme plaudern hören. Kants Metaphysik und Sittenlehre hat Einzug gehalten. Auf dem Katheder steht Professor Reinhold, ein Mann, der seinem Namen Ehre macht, denn rein und hold legt er diese schwierigen Themata der Jugend ans Herz. So ist dort in Jena Philosophie die Königin der Wissenschaft. Und ihre praktische Betätigung heißt Humanität; das heißt, man appelliert an den sittlichen Stolz des einzelnen, daß er vor allem sich selber zu einer edlen Persönlichkeit läutere, ehe er es unternehmen darf, den Staat zu reformieren.«

Viktors Worte waren zwar, nach seiner alten Gewohnheit, ein wenig dozierend, aber mit gewinnender Wärme vorgetragen.

»Professor Reinhold kommt aus Wien, war Mönch, Zögling des Jesuitenkollegiums, warf die Kutte ab und flüchtete nach Weimar. Dort fand er bei Wieland, dem immer gastfreien, ein freundlich Willkomm, wurde dessen Schwiegersohn und hat dann in Wielands Zeitschrift Briefe über die Kantische Philosophie veröffentlicht. Das ist kein trockener Gelehrter, er liebt die Poesie, spricht mit anmutiger Klarheit und stiller Wärme – und so begreift man, daß sich der große, blasse und ein wenig kränkelnde Philosoph hingezogen fühlt zu dem ebenso großen, blassen und kränkelnden Dichter Schiller.«

»Sie kennen den Dichter der ›Räuber‹?«

Frau von Oberkirch warf die Frage herüber.

»Ich habe bei Professor Schiller Vorlesungen gehört.«

»Wie sieht er aus?«

»Wer diesen herrlichen Mann bloß auf dem Katheder gesehen hat, kennt ihn nicht. Aber in seiner Wohnung oder auf Spaziergängen – was für Gespräche, was für unvergeßliche Gespräche! Man ist in Gesellschaft höchster Ideen und glänzender Bilder, man lernt in rastlosem Fortbewegen sein irdisches Dasein als ein Nichts, sein höheres Selbst als etwas Unendliches betrachten. Schillers Aussprache schwäbelt ein wenig, doch lassen Sie diesen großzügigen Deutschen ins Feuer geraten! Da wird der Schwabe zum Weltbürger – nein, zum Himmelsbürger! Es gedeihen in seinem geistigen Klima vortreffliche Menschen; ich sehe noch den edlen Friedrich von Hardenberg mit seinem Engelsgesicht, ganz Auge, ganz Seele; habe auch einmal Herrn von Humboldt, einen geistvollen Freund des Dichters, mir von Kolmar her bekannt, in Erfurt begrüßt. Aber an zäher und starker Leidenschaft im Gestalten und Vergeistigen läßt Schiller alle anderen hinter sich. Wahrlich, es gehört zu den Glücksgütern meines Lebens, daß ich diesen ausgezeichneten Mann kennen gelernt, und ich werde seiner im Tode nicht vergessen.«

Aus einer Fülle warmen Empfindens sprach Viktor. Sein Gesicht wurde schön, seine jung-männliche Stimme bebte vor dankbarer Bewegung. Und er fuhr fort, von Deutschland zu erzählen. Der kriegerische Salon versank; ihm zu Häupten rauschten groß und ernst die Pappeln des Griesbachschen Gartens, wo Kandidat Hartmann die Ehre gehabt hatte, mit Professor Schiller und Minister Goethe aus Weimar nebst Gelehrten wie Kirchenrat Griesbach oder Hofrat Schütz bedeutende Gespräche zu vernehmen, während die kahlen, steilen Berge des Saaletales erhabene Zuschauer waren – dies elysäische Gestade zauberte der Erzähler mit leuchtenden Augen herauf.

»Meisterhaft!« rief Kapitän Rouget de l'Isle, der herangetreten war. »Ich liebe die Menschen, die sich begeistern können. Enthusiasmus ist Leben, alles andere nur ein stümperhaft Vegetieren.«

»So ist es, Kapitän!« rief der Philosoph von Jena im Schwung der Rede, wobei er dieses »C'est cela, mon capitaine!« mit freudiger Wucht dem Genieoffizier zuwarf. »Sagen Sie statt Enthusiasmus der königlich freie Wille!«

»Nein,« rief Rouget visionär, »ich sage Ihnen ein noch besseres Wort, das alles Strebens und Wollens Erfüllung ist: das Geniale! Gebt mir eine Stunde Genialität – und ich bezahle dafür mit einem ganzen langen öden Leben!« »Und glauben Sie, daß die Revolution Geniales aus dem Menschentypus heraushämmern wird?«

»Das ist der Zweck der Revolution!« klang sofort Rougets Antwort. »Glauben Sie mir, ihr einziger Zweck!«

»Thüringen hat Ihnen gefallen?« unterbrach irgendeiner aus der Umgebung banal genug, da man diesen seltsam flinken und flüchtigen Gedankenblitzen nicht zu folgen vermochte.

»Wir werden es kennen lernen«, rief einer der Offiziere. »In drei Tagen ist unsere Armee zu Jena an der Donau!«

»Die fließt wo anders!« warf der ehemalige Hofmeister kurz und verweisend herum. Und er entrollte mit beredten Worten Landschaftsgemälde von den thüringischen Hügeln.

»Übrigens«, schloß er mit einer verbindlichen Wendung an die Baronin Birkheim, die in der Nähe saß, »traf ich dort in der Rhöngegend einen Verwandten Ihrer Familie, einen Baron von Stein zu Nord- und Ostheim, den Bruder der Frau Waldner von Freundstein. Diesen Jüngling habe ich auf meine hübschen Schülerinnen nicht wenig neugierig gemacht.«

»Nein, was soll man nur dazu sagen!« rief die Baronin ihrem Gatten zu. »Wie frisch unser Herr Hartman« aus sich herausgeht! Frau von Mably würde Sie nicht mehr necken.«

Frau von Mably!

Unerwartet zuckte dieser Name in die Unterhaltung. Hatte jemand mit dem Ärmel ein Saiteninstrument gestreift? War ein Fenster geöffnet worden und fiel der weiche Südwind in die harte Kriegsstadt ein?

Das Gespräch war abgeschnitten. Viktor beugte sich zur Baronin hinüber und erkundigte sich gemessen und freundlich nach der Marquise.

»Zu unseren intimen Freundinnen hat sie ja eigentlich nie gehört«, versetzte die Baronin zögernd. »Der Marquis ist gestorben, das Landhaus hat sie verkauft, und die Tochter soll in Grenoble sein. Ihr selbst geht's freilich nicht gut.«

Sie warf einen fragenden Blick auf ihren Gatten und brach ab. Birkheim aber zog seinen ehemaligen Gouverneur beiseite. »Hätt' ich gestern schon gewußt, daß Sie zurück seien. Hartmann, so hätt' ich Ihnen persönlich einen für Sie bestimmten Brief gegeben, den Ihnen nun Pfarrer Stuber bringen wird. Eine verdrießliche Sache! Die extravagante Dame macht die Schicksale durch, die zu ihrem Naturell passen. Doch hier ist nicht der Ort, darüber zu sprechen.«

Viktor blieb vollkommen ruhig

»Ich vergaß übrigens,« sprach er, »mich nach Hofrat Lerse zu erkundigen.«

»Der ist nach Wien ausgewandert und erzieht dort den jungen Grafen Fries.«

»Und Pfeffels Militärschule geht ein?«

»Leider! Die Schüler bleiben aus. Alles wird von Politik verschlungen ...«

Es war an solchen Abenden Sitte, daß etwa ein Dutzend oder mehr Gäste zum späten Nachtessen blieben, während sich die übrigen vorher entfernten. Heute waren die geladenen Gäste fast nur Offiziere. Hartmann zog sich mit Salzmann, dem Aktuar und dessen Vetter Rudolf, dem Buchdrucker, nebst einigen andren Bürgern und Professoren beizeiten zurück und wanderte mit ihnen durch die immer noch laute nächtliche Stadt dem Münster zu.

In mitternächtiger Erhabenheit türmte sich die kunstvolle Steinmasse inmitten der schwärzlichen Stadt. Steinerne Könige und Heilige bewachen bis hoch empor den mittelalterlichen Bau, aus demselben Gestein gebildet wie die Kirche selbst, verwachsen mit der Kirche. Wie sich Bettler in eine Nische schmiegen, lauerten um den Fuß des Münsters allerlei Buden und Zelte. Vielverschnörkelt und spielend leicht, gleichwohl aber mit einer Wucht, an welcher Jahrhunderte mitgewirkt hatten, staffelte sich der Turm empor ins fliehende Nachtgewölk, befreundet mit den Gestirnen und doch aus demselben Erdgestein, aus dem alle diese bürgerlichen Wohnungen gekittet sind.

»Da stehen wir vor dem versteinten Mittelalter,« sprach einer der Herren, an Erwins Dom emporschauend, »vor dem vielgescholtenen Mittelalter, das solche Kraft und Kunst entfaltet hat. Da sammelten sich die Menschen immer wieder aus den Wirren der Frau Welt in der dämmernden Innerlichkeit der Kirche, die wie ein ruhiger Freund inmitten der Gemeinde stand. Das griechische Altertum hatte seine Mysterien von Eleusis, sein einigendes Olympia, seine Tempel; auch dort übten sich die Menschen in der heiligen Ehrfurcht. Und wir?«

»Vive la nation!« rief eine Soldatenstimme. Und trunken lachende Volontäre schwankten Arm in Arm, in langer Kette, von der Krämergasse herüber. Im Nu waren die vornehmen Bürger von den Langhosen umzingelt und einem Raketenfeuer von frechen Witzen ausgesetzt. Immer wieder schrie ein zappliger kleiner Trunkenbold jenen patriotischen Ruf am schlanken Hofmeister empor.

»Sans dute«, erwiderte der Elsässer gelassen von oben herab, »vive la Nation!«

»Et puis encore la nation – et toujours la nation – et enfin le roi! Mais – au diable l'Autrichienne!«

Der Knäuel rollte sich auf das Münsterportal zu; gewandt kletterte einer der Burschen dem andren auf die Schultern, über diesen wieder tastete sich ein Dritter empor – und stülpte unter tosendem Lachen der zuschauenden Schar einem Heiligenbild die Jakobinermütze auf das Haupt.

Die Gelehrten gingen still und ernst auseinander.

»Wen meint er mit der ›Autrichienne‹, die er zum Teufel wünscht?« fragte Hartmann.

»Marie-Antoinette.«

»So spricht dieser Bursche von seiner Königin?!«

»Nichts Neues in Frankreich. Ganze Pamphletfabriken haben diese Frau mit Schmutz überschüttet. Die Umgebung des Grafen von Artois oder des Herzogs von Orleans überbietet sich in Verleumdungen. Und ich lege meine Hand dafür ins Feuer, daß die Königin eine zwar leichtlebige, aber reine Natur ist. Erinnern Sie sich noch, Salzmann, wie sie im Jahre 1770 durch dies glänzend illuminierte Straßburg fuhr? Frankreich betete damals die junge Schönheit an. Heute verflucht man sie bis in die elendeste Strohhütte hinunter. Es hat sich bitter gerächt, daß diese Frau zu viel an ihre Toiletten und Frisuren, zu wenig an den Hunger des Volkes gedacht hat.«

Salzmann, der Aktuar, schritt mit Viktor und Pasquay über den Gärtnersmarkt, der jetzt Gutenbergplatz heißt, nach der Schlossergasse.

»Auf der Plattform unsres Münsters«, sprach der alte Herr, »sind gute Namen in den Sandstein gemeißelt. Goethe, Lenz, Herder, Lavater, Schlosser, Brüder Stolberg – es war eine Morgenröte für die deutsche Seele. Gute Jungen waren's, unser Lerse, Weyland, Engelbach und all die andren; kann's kaum glauben, daß uns nur zwanzig Fahre von jenen frischen Zeiten trennen. Aber da seht euch die geflickte Pfalz an! Und horcht einmal nach den Fenstern der Spiegelsäle hinüber – wie dort die Jakobiner auf der Tribüne bellen, allen voran der feiste Eulogius Schneider!«

Pasquay wohnte in der Schlossergasse.

»Wenn Sie ein wenig länger hier sind,« sprach er beim Abschied zu Viktor, »werden Sie einsehen, daß Ihre heutige Bemerkung unsren Dietrich verstimmen mußte und nicht am Platze war. Der Mann steht schwer im Kampfe. Wohl hält die Stadt mit viertausend Wahlstimmen zu ihm, während die Roten dort kaum fünfhundert zusammenbringen. Aber wer weiß, was alles kommen kann!... Sehen Sie den Anbau da oben auf meinem Dache? Besuchen Sie mich einmal früh morgens, da finden Sie uns dort oben politisieren. Abends in der Freiburgerstube oder in den Hörsälen an der Neuen Kirche. Auf Wiedersehen!«

Im Hause Dietrich war man noch nicht gewillt, einen so kühnen Tag bereits abzuschließen. Vielmehr war die patriotische Schwungkraft noch im Steigen. Die einzigartige Neuheit, daß nun zum ersten Male nicht Ministerkabinett noch Dynastie, sondern eine freie Nation um ihrer freien Prinzipien willen in den Krieg zog; die Aussicht, womöglich das ganze schlaffe Europa mit Freiheitsfeuer anzuzünden: dies allein schon war genügend, Offiziere zu entflammen und Bürger stolz zu machen. Es war ein guter Krieg, denn es war ein Krieg um ein Ideal. Man war im Begriff, dem Lande der Philosophie und Kleinstaaterei zu zeigen, wie man Ideen in praktische Tat umsetze.

Dies flog durch die Gespräche der Dietrichschen Tischgesellschaft.

»Man wird uns als Befreier umarmen!«

»Wir werden vernunftgemäße konstitutionelle Verfassungen in ganz Europa einführen.«

»Vor uns die Dummheit – hinter uns die Freiheit!«

»Die Weltgeschichte hat geschlafen, sie ist wieder in Marsch!«

»Holla, Kameraden, singen wir ihr ein Marschlied!«

»Haben wir denn ein Marschlied?«

»Hat Frankreich einen Kriegs- und Nationalgesang, der dem guten Geschmack genügen könnte?«

»Ah, ça ira«, sang einer, »ça ira, ça ira –«

»Meine Herren, werden Sie mich unpatriotisch nennen, wenn ich Ihnen bekenne, daß ich dieses Ça ira, für einen läppischen Schmarren halte, nicht würdig einer großen und geschmackvollen Nation? Bei dem heutigen Umritt hat mir diese ewig wiederholte Melodie die Nerven mißhandelt. Wissen Sie übrigens, wie es entstanden ist? Es war ein Lieblingstanzlied der Königin Marie-Antoinette; die Melodie ward vom Volke aufgefangen, mit einem Text versehen – und da hüpft nun das revolutionäre Frankreich nach einem Tanzliedchen! Meine Herren, dies frivole Tänzeln paßt nicht mehr für das heroische Frankreich! ... Voyons, Kapitän Rouget de l'Isle, stellen Sie Ihr Doppeltalent in den Dienst dieses neuen Frankreich! Seien Sie unser neuspartanischer Tyrtäus! Singen Sie uns ein Kriegslied!«

Der Maire Dietrich war es, der diese Anregung dem Freunde zurief. Er gab dadurch dem Gespräch das feste Rückgrat.

»Wahrlich, ja, Rouget soll uns ein Lied singen, das die Bürger zum Weinen bringt vor Scham, daß sie nicht Soldaten sind!« »Das den Tyrannen Schauer über die Rücken jagt!«

»Das uns einige Batterien ersetzt!«

»Das als Obergeneral Schlachten gewinnt!«

»Heraus, Kapitän! Warum halten Sie sich versteckt?!«

General Broglie warf ihm dies Wort zu. Sein Zuruf klang wie Befehl. Und nun erhob sich der also Bestürmte, der neben dem jungen Fritz von Dietrich saß.

Es war ein freundlich offenes, kein heroisches Gesicht, das nun langsam am Tisch emportauchte. Der bescheidene Geniekapitän legte die Linke, gleichsam eine Stütze suchend, dem jungen Nationalgardisten auf den braunen Scheitel, während die Rechte das Kelchglas ergriff. Man pflegte diese knabenhaften Soldaten des Jugendbataillons – wie die Findelkinder – mit zärtlichem Stolz »les enfants de la patrie« zu nennen: die Kinder der mütterlichen Nation.

»Er versteckt sich hinter unser enfant de la patrie!«

»Enfants de la patrie sind wir alle!«

Der schlanke rotblonde Kapitän Rouget de l'Isle, aus der Freigrafschaft Burgund von den Hängen des Jura stammend, hatte sich in voller Länge aufgerichtet und warf nun den Kopf empor, der bisher zwischen Epauletten und Kragen in die Halsbinde eingesunken schien. Es war in seiner Familie eine ganz leise Verwachsung erblich; die rechte Schulter war um ein geringes höher als die linke, so daß sein liebenswürdiges Gesicht auf der rechten Seite ein klein wenig nach oben gedrängt schien. Mit halbgeöffneten Lippen, deren Ecken nach unten zurückwichen, so daß etwas wie Melancholie um die Mundpartie flog, warf er einen fast verwunderten Blick in die Gesellschaft, die ihn so plötzlich mit einem einmütigen Vertrauen beehrte. Rouget de l'Isle war Dichter, Komponist und Soldat zugleich – und doch schließlich Dilettant auf allen drei Gebieten, nicht mit voller Energie eine bestimmte Region beherrschend. Wie ein Schatten lag es über dem liebenswürdigen Manne, als hätte sein vorwiegend musikalisches Gemüt schon oft umsonst nach der befreiend entlastenden Form gesucht. Er war, wie alle in diesem Kreise, ein scharfer Gegner der Radikalen und hatte das heute erst in einem temperamentvollen Zeitungsartikel bewiesen. Wie sein Freund Dietrich war auch er ein warmherziger Befürworter der konstitutionellen Monarchie.

»Meine Damen und Herren,« sprach der Kapitän unter dem Kreuzfeuer der Blicke und Worte, »einen Kriegsgesang zu finden, wie ihn diese erlauchte Gesellschaft verlangt, ist nicht das Wert eines einzelnen. Zumal nicht, wenn dieser einzelne mit seinem Singspiel »Bayard in Brescia« ruhmlos an der Pariser Opéra comique durchgefallen ist. Etwas so Heroisches muß aufblitzen im ersten Feuer unenttäuschter Jugend –«

»Papperlapapp, Rouget!« unterbrach Duchastelet. »Ich reise morgen nach Schlettstadt ab; Sie dichten das Lied und senden mir's nach!«

»Tagesbefehl!« toastete General Broglie – nach dessen Großvater, einem früheren Festungsgouverneur von Straßburg, der Platz draußen benannt war. »Rouget de l'Isle nimmt heute nacht seine Geige und singt und spielt einen Kriegsgesang, zu widmen dem Oberbefehlshaber der Rheinarmee, dem Marschall Luckner! Vorausgesetzt« – wandte er sich mit Humor dem Marschall zu – »daß der Herr Obergeneral den Tagesbefehl billigt.«

Luckner, der sich wenig beteiligte, winkte gemütlich herüber.

Die Tafelrunde lachte, durch Zurufe die Order unterstützend. Rouget de l'Isle lachte mit, wehrte mit beiden Armen ungestüm ab, ergriff abermals sein Glas – und nachdem er dem Marschall respektvoll zugetrunken hatte, nahm er wieder Platz.

Nun drohte das Tafelgespräch in Neckereien zu zerflattern; aber Dietrich gab ihm wieder die feste Richtung.

»Meine Herren, unterschätzen Sie mir nicht die Macht der Musik für unsere gegenwärtige Bewegung! Musik versöhnt, wo Parteihatz trennt; Musik beflügelt, wo die trockene Vernunft zaudert. Eine nationale Masse ist unrhythmisch: gebt ihr Musik, und die Volksmasse gerät in Schwingung! Sie werden bemerkt haben, meine Herren Offiziere, wie ermüdete Soldaten auf dem Marsche elastischer zuschreiten, sobald Musik in ihre Reihen fährt. Cromwells Schwadronen sangen ihre Psalmen; die Wittenberger Reformation und die niederländischen Freiheitskämpfe sind nicht denkbar ohne Choräle und fortreißenden Gemeindegesang. Entsinnen Sie sich, Rouget, daß ich Ihnen neulich das Kredo einer deutschen Messe und etliche deutsche Choräle vorgetragen habe? Welche Wucht, nicht wahr, dieses ›Ein' feste Burg ist unser Gott!‹ oder ›Wachet auf, ruft uns die Stimme‹! Wenn die Orgel in unsren Kirchen mit vollen Registern dröhnt, so beben die Steine! Solch ein revolutionäres Tedeum singen Sie uns, Rouget de l'Isle!«

»Dietrich, Sie machen mich durstig nach Musik!« rief Aiguillon. »Holen Sie Ihre Geige! Ans Klavier! Gebt uns große Musik!«

Und der Abend ging über ln Musik ...

Jetzt erst, als man ihn unbeachtet ließ, begann die Anregung in Rouget de l'Isle zu wirken. Unauffällig zog er sich zurück. Seine Wohnung lag in der nahen Meisengasse. Kaum zu Hause, griff er zu seinem Instrument. Aufgefordert von hohen Offizieren, Beamten und schönen Frauen, geschmeichelt durch dies Vertrauen, durchglüht vom reinsten Patriotismus, umklungen von Proklamationen und Gesprächen eines kriegerischen Tages: – so griff Rouget de l'Isle zur Geige.

Die ersten Töne, mehr Atem und Erregung als Wort und Form, drängten sich in stürmischer Fülle in die Außenwelt. Es war ein Chaos von Gefühl und Phantasien. Doch ruhiger wogte der Rhythmus; Worte stellten sich ein; Rougets Mannesstimme begleitete den leicht darüber hinfliegenden Geigenton. Der Dichterkomponist schritt auf und ab: mit ihm marschierten die singenden Bataillone. Er warf sich der Länge nach auf den Boden: um ihn her lagerte die Armee im nächtlichen Biwak, zwischen aufgestellten Flinten, am Vorabend der Schlacht. Auf den Hügeln des Elsasses – seht hin, wie mondhell das schöne Elsaß! – schlafen die Linienregimenter; es lagern ungeordnet die oft so schwer zu bändigenden, oft so feig zur Panik geneigten, aber dann wieder unwiderstehlich anstürmenden Kompanien der Volontäre. Was bringt uns der Morgen? Tod oder Sieg? Mit Jauchzen in den Tod, Kameraden, wenn er das Vaterland rettet – – Soldaten, von euch hängt Frankreichs Schicksal ab! Die Geister der alten Ritter aus Bayards Zeiten wandeln durch euer Lager, neigen sich über eure Stirnen, küssen euch Todesmut auf die taufeuchte Wange. Da knirschen die Geweihten trotzig im Schlaf – und über den Himmel her fliegt ein erstes Leuchten: Geistesheere sammeln sich auch dort, mitzukämpfen in den Lüften – der Tag graut – Hörner rufen – Flintenschüsse bei den Vorposten – auf, meine Soldaten!

»Allons, enfants de la patrie!
Le jour de gloire est arrivé!«

Rouget de l'Isle sprang auf. Er sang, spielte, marschierte. Mit schnaubendem Atem warf er Text und Noten nur eben so weit hin, daß er ihrer am nächsten Morgen wieder habhaft werden konnte. Nicht er sang dies Lied: die Nation sang ihr Lied! Der kriegerische Geist dieses Tages war in ein Straßburger Zimmer eingekehrt und sprühte Feuer und Dampf in dies Lied aus.

Dann verließ der Genius den Besessenen wieder. Der Sprecher der Nation sank in sich zusammen, warf sich erschöpft auf sein Lager und schlief ein.

Er wird am Morgen wieder erwachen als der liebenswürdige Halbdilettant von gestern. Aber die eingefangenen Strophen laufen nicht mehr fort. Die Melodie ist gebannt. Frankreich hat einen Nationalgesang.

* * *

Während Rouget de l'Isle seine geniale Stunde erlebte, lag Viktor Hartmann schlaflos in seinem altbürgerlichen Bett mit den verblichenen blauen Vorhängen und durchdachte die Stimmungen dieser erhitzten Stadt.

Nicht leicht war der innerliche Jüngling Massensuggestionen zugänglich. Und doch gab etwas in ihm den soldatischen Tönen Antwort. Oft sprang er auf und spähte horchend in die Nacht hinaus. Er zählte die langsam, stark und weitschwingend verhallenden Schläge der Münsteruhr; deutlich unterschied er St. Thomas und Alt-St. Peter am Klang ihres Glockenmetalls. Doch diese Stätten der Sammlung, durch ihre Glocken ruhevoll an ihr Dasein gemahnend, waren nicht vermögend, sein Blut zu beschwichtigen. Das elastische Naturell dieser gallischen Rasse und die Champagnerlaune jener Südfranzösin vermischten sich in Viktors Vorstellung. Frankreich schien ihm ein verführerisch Weib; man war dort im Krieg und in der Liebe auf Elan und Rausch gestimmt. Hingegen der deutsche Gottsucher hatte sich geübt in ernster und entsagender Vergeistigung.

Er war männlich geworden in diesen drei Jahren. Er wußte genau, daß ihn keine Marquise künftig überrumpeln werde. Und hoch hallte es wehvoll durch seine Sinne: »Es geht ihr nicht gut!« Mochte diese Frau leichtfertig oder heißblütig sein: sie hatte ihm aber rückhaltlos ihr Herz geöffnet, sie hatte wahre Liebe bei ihm gesucht, sie hatte ihm große Stunden einer wildschönen Poesie gegeben dort an den umblitzten Gebirgen der oberelsässischen Sommernacht. And nun – »es geht ihr nicht gut!« Pfarrer Stuber von der Thomaskirche besaß einen Brief von ihr an Viktor. Und die übrigen Andeutungen – der Marquis tot, das Landhaus verkauft, die seelenvolle Addy von der Mutter getrennt – waren geeignet, den Schlaflosen sehr zu beunruhigen.

Viktor schlug Licht. Er griff, wie manchmal in solchen Fällen, nach dem Notizbuch, das neben dem Neuen Testament auf dem Nachttischchen lag. Es war kein schöngenähtes Journal; es war ein einfach Taschenbuch, schwarz wie die Kleidung der Deputierten des dritten Standes. Werktägliche Notizen und Auszüge aus Büchern gesellten sich darin friedlich zu adligen Gedanken, die er zu seiner eigenen Beruhigung und Klärung zu formen pflegte.

So saß der Kandidat im Schein der Kerze auf seinem zerwühlten Lager, vom lose herabhängenden dunkelbraunen Haar umwallt, und schrieb gebückt in sein Notizbuch:

»Einmal hat eines französischen Weibes Leidenschaft meinen Lebensbach in einen Katarakt verwandelt. Ich werde mich hüten vor den Katarakten der Politik. Nicht zum Verwunden bin ich gesandt, sondern zum Heilen und Helfen. Wohl vernehme ich in meines Wesens Tiefen die Fähigkeit zur Hingabe an wilde und freie Ideen. Doch will ich diesen furor daemonicus oder gallicus lieber unbeschworen lassen; denn es ist ein furor daemonicus. Ich aber trage an meinem Finger einen himmlischen Talisman. Der Blick auf meinen Goldring mit dem kristallenen Herzen gebe mir edle Geistigkeit und kraftvolle Sammlung!«

Aber den jungen Mann durchschauerte ungestüm das Verlangen nach Liebe.

»Einmal habe ich Liebe und Leidenschaft verwechselt. Ich bereue es – aber ich kann nicht auf Liebe verzichten und werde jene Zeiten niemals schmähen. Ich kann nicht auf Liebe verzichten und schäme mich bitterlich aller Anfechtungen der Wollust. Ach, und diese beiden sind in einem jungen Blut so listig miteinander verbunden und verknüpft, daß mir die Entknäuelung unermeßliche Qualen schafft. Werde ich, nach hinausgeläuterter egoistischer Lust, jemals gewürdigt werden, reine Liebe in ihrer ganzen unaussprechlichen Wonne kennen zu lernen? O Gott, ich suche mit ganzer Inbrunst reine Liebe! Gib mir reine Liebe oder – vernichte wieder dein Geschöpf! Ja, vernichte mich, siehe, ich bin bereit! Denn ich kann nicht leben ohne Liebe!«

So schrieb der einsame Philosoph. Und er seufzte unter dem Schauer der Erinnerungen und Gedankenbilder, die dieser Abend aufgerührt hatte.

Dann lag er wieder ausgestreckt und still, die Hände unter dem Nacken, und überdachte den Gegensatz zwischen Jena und Straßburg.

Ein scharf ausgeprägtes nationales Bewußtsein war in damaliger Zeit noch nicht ausgebildet. Erst die französische Revolution brachte das Wort »Patriot« in Umlauf und nahm nach anfänglichem Weltbürgertum bissige nationale Formen an. Der Heimgekehrte empfand Gegensätze, die dem Durchschnitt nicht bewußt wurden. Seine Freunde, Gevattern und Basen um ihn her betrachteten die Welt unter dem Gesichtspunkt der guten und nahrhaften Unterkunft in Amt und Ehren. Ihm fiel es bedeutungsvoll auf, daß die Anzeigen draußen an den Mauern in zwei Sprachen gedruckt werden mußten; das elsässische Volt verstand kein Französisch; ohne die Soldaten und Beamten aus dem Innern Frankreichs hätten sich die Volksgesellschaften mit deutschen Tagungen begnügen können.

»In eines Volkes Sprache«, dachte Viktor, »sind eines Volkes Gemütswerte beschlossen; in ihr sind die seelischen und geistigen Schätze niedergelegt; ›Muttersprache‹ sagt man: denn an diese Laute wird schon das Kind von der Mutter gewöhnt; und so schafft Sprache eine große Tradition und verbindet die Generationen und Stämme. Wir Elsässer pendeln zwischen zwei Sprachen herum.«

Er dachte an Birkenweier zurück, wie er mit seinem Nachfolger, einem Kandidaten aus Belfort, diese Frage besprochen hatte; dieser Nachfolger gedachte den Unterricht der jungen Birkheims in französischer Sprache zu leiten, hatte aber mit Schwierigkeiten zu kämpfen, da die Kinder an deutsches Unterrichten gewöhnt waren.

Franz Lerse fiel ihm ein, der das unruhige Grenzland verlassen und in Wien Pflichten übernommen hatte. Aber er verwarf den Gedanken, irgendwo anders zu wirken. Denn er liebte dieses unvergleichliche Elsaß und sein reizvolles Gebirge.

Und schon landeten nun seine Gedanken am ruhigen Gestade. Auf den Felsen stand, von edler Abendröte schön umblüht, die Zeder Oberlin. Dieser reife Freund hatte das elsässische Problem und das Lebensproblem in einem höheren Lichte besiegt. Und unmittelbar über Viktor, in diesem Vaterhause, wohnte jene stille Frau Frank mit ihrem Töchterchen Leonie! Welche Fügung! Sollte vielleicht jedem Menschenleben, sobald man sich dem Animalischen der Gattung als ein Sonderwesen zu entringen beginnt, ein geheimer Plan zugrunde liegen, gewoben von unsichtbaren Meistern dieses Planeten?

Wie ein junger Soldat im Gewehrfeuer der ersten Schlacht fiebernd vor Aufregung ins Blaue schießt, plötzlich aber ruhig wird, wenn er hart neben sich die feste Mannesstimme des Offiziers vernimmt: »Ruhig zielen, Leute!« – so wurde Viktor von einer wunderbaren Ruhe durchströmt, als seine Seele die Gestalten Overlin, Johanna Frank und Leonie Frank an sich vorüberziehen sah. Es waren also noch andre Menschen in dieser elsässischen Welt, die fest und klar ihre gesegneten Pfade gingen – aus dem Grenzland ins Hochland.

Hier endete seine Gedankenfolge. Er war entschlossen, gleich nächsten Tages tatkräftig nachzuspüren, wieso es Frau von Mably »nicht gut gehe«, und dann für sie und Addy zu tun, was eben Dankbarkeit und Güte zu tun vermögen.

* * *

Rouget de l'Isle erwachte am nächsten Morgen mit dem Gefühl, daß dort auf dem Tisch, in geschwisterlicher Nähe der Geige, etwas Lebendiges auf ihn warte. Er trat fast neugierig näher, er prüfte in klarem Tageslichte Noten und Text. Prachtvoll! Da sind sie, die Flammen von gestern! Da sind sie festgebannt für immer!

Sofort zu Dietrich!

Er traf den Maire noch zu Hause und ließ ihn rufen. Wichtiges wäre zu melden: ein Armeekorps im Anmarsch!

»Ein Armeekorps?« rief Dietrich, bestürzt aus seinem Arbeitskabinett herbeieilend. Aber Rougets heiter gespanntes Gesicht bemerkend, fügte er lächelnd hinzu: »Sie sind wohl der vorauseilende Adjutant?«

»Der General, wenn Sie wollen, der das Armeekorps gleich mitbringt! Lesen Sie das, mein Freund – singen Sie mir das – sagen Sie mir frischweg Ihr Urteil!«

Der Maire las Noten leicht vom Blatt, trat summend den Takt dazu, nickte und rief ins Nebenzimmer: »Luise! Kommt einmal heraus, kommt alle heraus!«

Frau von Dietrich erschien in Morgentoilette; Arm in Arm schoben sich die jungen Nichten neugierig nach. Der Gatte ließ nicht viel Zeit zu Begrüßungen, sondern rief den Damen mit seiner volltönenden Tenorstimme entgegen: »Wir haben unser Kriegslied! Da bringt mir der Kapitän, was er in der Nacht gefunden hat! Das hat Mark! Das hat Haar auf den Zähnen! Heute noch ruf' ich dieselben Offiziere zusammen – und Sie singen uns das! Nehmen Sie die Geige, Rouget!«

Und zu Rouget de l'Isles Geigenspiel sang nun der Bürgermeister von Straßburg jenen Kriegsgesang der Franzosen, der seitdem unter dem Namen »Die Marseillaise« weltberühmt geworden ist.


 << zurück weiter >>