Friedrich Lienhard
Oberlin
Friedrich Lienhard

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Fünftes Kapitel

Leonie

An den Hängen des Steintals wanderten Viktor und Leonie durch Ginster und graues Granitgeröll. Auf allen Höhen war Sonne: und in Viktor schnellte die lange daniedergedrückte Lebenskraft sonnendurstig wieder empor. Er hatte die ihm zugemessene geistige Höhe erreicht. Dies Errungene galt es nun, in die Tat umzusetzen. Denn den steilen Weg in Entsagung und Einsamkeit emporzusteigen, lag nicht in seiner Lebensbestimmung.

Noch einmal vor dem bevorstehenden Abschied wollten sie das Steintal auf Bergpfaden umwandern, wollten die strenge Schönheit der Landschaft in sich eintrinken und mit hinabnehmen in die elsässische Ebene, wie sie Oberlins Wort und Wesen mit hinabzunehmen gesonnen waren. In Bellefosse gedachten sie sich mit dem Pfarrer zu treffen, der dort zu tun hatte. Aber sie wanderten zunächst die entgegengesetzte Perhöhe hinauf und an deren Hängen entlang nach Belmont, um von dort nach dem Steinschloß zu gelangen, das über Bellefosse in einem Bergwald lagert.

Von der Perhöhe nach Belmont wandelnd, sahen sie nun die große Landschaft wieder einmal vor sich. In blauer Breite zeigte sich südwärts der Climont, nordwärts der große Donon mit dem spitzen Kegel des kleineren Gipfels; dazwischen der wohlbekannte Kranz der anderen Berge, die durch das Salmsche Gebiet von Westen nach Norden das Steintal umschirmen.

Während sie emporstiegen, weidete oben am Horizont des kahlen Berglammes eine vielköpfige Rinderherde. »Wie entzückend!« rief Leonie. Die Gestalten der Rinder hoben sich als feinschwarzes Schattenspiel von der Kammlinie ab. Gesträubte Schwänzchen springender Kälber, die zarten Striche der vielen Füße, die Köpfe und Hörner – wundervoll wanderte diese Silhouettenschar am Himmelsrand entlang. Und weiter unten am breiten Berge, wo die volle Sonne die meist schwarz und weiß gefleckten Tiere beschien, sah es aus, als hätte sich eine Mövenherde und ähnliches Seegevögel an den Hängen eines nordischen Fjordes niedergelassen. Das zahlreiche graue Granitgeröll, das fleckig im grünen Ginster zerstreut lag, verstärkte den Eindruck des Nordischen. Hie und da waren kleine Haine angepflanzt, Ruheplätze für die Herden. And allenthalben Wassertröge als Tränken für die Tiere: gehöhlte Baumstämme, die mit dem frischesten Quellwasser gefüllt waren. »Das Steintal hat Wasser die Fülle!« rief Viktor, der immer einen Taschenbecher bei sich hatte und an jedem klaren Kies- und Sandquell oder stark rauschenden Brunnenrohr dankbar das sprudelnde Naß in Empfang nahm, auch wenn er gar keinen Durst hatte. »Es könnt's übelnehmen, wenn man vorübergeht«, sprach er lächelnd zu Leonie.... »Denn ich weiß es von mir selber: geben zu dürfen, macht Freude.«

»Überhaupt,« fuhr er freudig fort, »fließende Wasser sind die Stimmen dieser Berge, die keine Baumblätter haben, um damit zu rauschen. So singen denn diese Wasser und ersetzen den Waldwind. Lebendiges, klares, kühles Bergwasser, zumal wenn es in der Sonne funkelt, mutet mich an wie ein gesundes, junges Mädchen, das herausspringt in die Arme des sonnigen Tages: ›da nimm mich!‹ Und etwas in mir fängt an mitzusingen und in wandernde Bewegung zu geraten.«

»Ja, ich hab' es auch sehr gern«, sagte das gesunde, junge Mädchen an Viktors Seite. Sie bückte das erhitzte Gesicht über den schießenden Quell, schöpfte mit der langen, festen Hand und schlürfte in vielen kleinen Zügen das kühlende Getränk. Dann strich sie das Braunhaar von der Schläfe zurück, schaute ihren Begleiter mit ihren veilchenblauen Augen lächelnd an und trocknete sich am Taschentuch die Hände.

»Auf den Bergen ist die Luft rein und das Wasser ist rein«, fuhr Viktor fort, belebt und frohgemut. »Auch die Blumen haben kräftigere Farben. Und der staubfreie Himmel ist blauer, zumal wenn er sich wie heute von solchen einzelnen, scharf umrissenen, sehr weißen Schwimmwölkchen abhebt. Wie schön das aussieht, wenn die Schatten dieser großen fliegenden Schwäne über das Bergland laufen! Aber die Landschaft wäre immer noch tot, wenn nicht ein steter Bergwind die Ginster und Halme bewegte und untereinander in spielende, tosende Berührung brächte – und wenn eben nicht diese herzigen Wässerchen aus dem Granit sprängen: ›Guten Tag, ihr zwei, Leben ist Liebe! Habt euch lieb!‹«

»Es ist wohl darum hier im Sommer so schön,« bemerkte Leonie, »weil die Leute im Winter sehr unter Schnee und Kälte leiden.«

»Ja, der ›Roßschinder‹ und andere Sturmgattungen pfeifen hier nicht schlecht«, entgegnete Viktor. »Und auch Gewitterwolkenbrüche hausen manchmal dämonisch in diesen Tälern. Früher soll das noch schlimmer gewesen sein. Besteht am Ende ein Zusammenhang zwischen Witterung und menschlicher Gesittung? Wird mit wachsender Kulturveredlung die Erdatmosphäre wohnlicher? Oder vielmehr: weil sie wohnlicher wird, unsere abgeglühte, ruhende und beruhigte Erde, verfeinert sich auch die Menschheit? Wer mag in diese kosmischen Gesetze Einblick tun! Aber etwas gibt es, das über den Wechsel erhaben ist: die unvergängliche Sonne des Geistes. Man kann sie vielleicht Liebe nennen. Eine Liebe freilich, die zugleich Weisheit ist, nicht düstere Leidenschaft oder weichliche Sentimentalität ... Und, Leonie, der alte Pindar behält doch recht, reines, lebendiges Bergwasser ist doch das Beste! Es ist Elektrizität drin, verlaß dich drauf: Lebensbewegung!«

Sie waren an eine Stelle gekommen, von der aus einige Hauser von Fouday sichtbar wurden. Unwillkürlich verstummten beide. Eine Geistergestalt schwebte wieder ein Weilchen neben ihnen her.

Dann dachte Leonie an ihre Mutter, von der sie einen Brief bei sich trug. Und sie sprachen beide von der baldigen Heimkehr. »Mein Vater war Ihrer Mutter eigentlich in einem Punkte ähnlich«, sprach Viktor. »Auch er hat es nicht leiden mögen, wenn man sich um ihn sorgte. Dahingegen nahm er selber das Recht für sich in Anspruch, für andere sorgen zu dürfen. Vornehm! Leonie, das nenn' ich einen vornehmen Zug.«

»Ja, Mama ärgert sich immer, wenn man sich um sie Sorgen macht«, bestätigte Leonie.

»Und ist selber unermüdlich für ihr Nestchen tätig«, fügte Viktor hinzu.

»Ich spiel' ihr aber manchmal einen Streich«, fuhr Leonie fort, mit einem schelmischen Lächeln in ihrem kindlichen Gesicht. »Sie findet bald da eine Blume, bald dort eine Tafel Schokolade, die sie nämlich gern ißt – und dann lach' ich sie aus, wenn sie etwa das Nähtischchen geschäftig aufzieht und auf einmal verwundert fragt: ›Leonie, sag mal – wann hab' ich denn die Schokolade hierhergelegt?‹ Es ist zum Lachen. Manchmal bind' ich ihr auch einen Zettel dran und schreib etwas drauf. Ich halt' mich dann gewöhnlich in der Nähe auf, nur um's mit anzuhören, wie sie sich mitten in der Geschäftigkeit unterbricht, einen Augenblick stillsitzt, den Faden am Munde feuchtet und dann anfängt: ›Leonie, sag mal!‹«

Das junge Mädchen lachte und fügte dann schnell und ernsthaft hinzu: »Ich schenke ihr aber meist nur Sachen, die ich selber geschenkt bekommen. Denn sie hat's nicht gern, wenn man für Näschereien Geld ausgibt, und mir macht etwas nur dann Freude, wenn sich Mama mitfreut.«

So plauderte das bürgerliche Kind. Es machte ihr Vergnügen, von der fernen Mutter unscheinbare Dinge zu erzählen. Viktor hörte zu; und es war ihm, als hätte eines dieser Bergwasser Gestalt und Stimme angenommen und liefe melodisch neben ihm her.

Er hatte mit der ihm eigenen Gründlichkeit tagelang seine Bücher, Pflanzen, Mineralien und präparierten Tiere geordnet und eingepackt, die naturwissenschaftliche Beute seines Aufenthalts im Steintal. Addys Ring trug er noch immer an der Hand. Befangenheit und die nachwirkende Trauerstimmung hatten ihm noch nicht gestattet, ihn an Leonies Finger, der nur von einem kleinen Drahtring geziert war, weiterzugeben. Es war bisher noch nicht der rechte Augenblick gekommen. Er fühlte, daß die Überreichung dieses Ringes eine bedeutungsvolle sinnbildliche Handlung darstellen werde. Denn eine Aussprache war damit verbunden; es galt, Addys Bitte um Verzeihung in irgend einer Form Leonie mitzuteilen. Das ließ sich ja gewiß alles scherzend und harmlos erledigen; aber bei dem tiefempfindenden und gern ins Symbolische tauchenden Viktor nahmen solche Begebenheiten Gewicht und Schwere an.

Das Verhältnis dieses ernsten und umständlichen jungen Mannes zu Leonie war von jeher kameradschaftliche Unbefangenheit gewesen. Ihre Freundschaft, die in solcher traulichen Art nur bei reiner Denkweise und gesunden Naturen möglich ist, war durch nichts getrübt worden. Sie waren immer einig gewesen in der Sorge um Addy; und ihn beschäftigte die weitere Sorge um das Schicksal der Nation. Erst Addys Bemerkung hatte ihm die Unbefangenheit beeinträchtigt und eigentlich recht die Augen geöffnet. Seit dieser Zeit schwang etwas Neues in seinen Empfindungen mit. Leonies jungfräuliche Sittsamkeit empfand dieses Neue sofort. Es ging etwas zwischen ihnen hin und her, worüber sie sich noch keine Rechenschaft gaben; am wenigsten hätten sie es mit dem Wort Liebe bezeichnet; das hätte viel zu feierlich geklungen bei ihrem Zustand eines selbstverständlichen Zusammenhaltens.

So liefen sie denn wie Hänsel und Gretel unter ziehenden Wolkenschatten die Berghalde entlang. Er schritt in seinem langhin fliegenden dunkelblauen Rock mit breitem Kragen, in Stülpstiefeln, den dreieckigen Hut in der Hand; sie aber war in ihrem silbergrauen Kleide, das nicht auf Trauer um die Freundin eingerichtet war, neben dem dunklen Denker das lichte Leben. Sie ließen die Häuser von Bellefosse zur Rechten liegen und drangen empor in die busch- und beerenreiche Waldung, die das Ruinengeröll umgibt. »Hier haben die Herren des Steintals gesessen«, erklärte Viktor, als sie das damals noch umfangreiche Trümmerschloß erkletterten. »Welch eine Aussicht über ihren Besitz!«

Der Blick umfaßte vom schwärzlichen Porphyrfelsen aus die ehemalige Herrschaft Ban de la Roche.

»Einst hausten hier Raubritter«, erzählte Viktor. »Es sollen schon vor vielen Jahrhunderten drei Schwestern die Burg besessen haben; sie lebten vom Straßenraub, aber man nannte sie die drei Prinzessinnen. Unter dem Schutze eines dicken Nebels überfielen die Herren von Schirmeck und Colleroy-la-Roche das Raubnest, als eine der drei Schloßherrinnen grade Verlobung feierte. Man warf die Sippschaft in den Kerker und zerstörte das Schloß, hat es aber später wieder aufgebaut; es gehörte – ich weiß nicht, wem alles – ich glaube den Herren von Rappoltstein und später den Edlen von Rathsamhausen, die den Titel ›zum Stein‹ ihrem Namen beifügten. Einer von diesem Geschlecht war gleichfalls ein berüchtigter Wegelagerer. Seltsam, Leonie, daß sich hier, wo die Luft mit Räuberei geladen scheint, ein Reich der Liebe entwickelt hat! Da rückten übrigens die Straßburger samt Bischof und Herzog von Lothringen am Sankt-Georgentage des Jahres 1469 vor dieses Felsenhaus und schossen es in Trümmer. Später kam das Gebiet an die von Pfalz-Veldenz – und endlich an den alten Baron Dietrich. Und dabei fällt mir ein: wie traurig war doch ehedem die Feindschaft zwischen Katholiken und Protestanten hierzulande! Ein bürgerlicher Katholik wollte das Gebiet kaufen; aber der König erhob Einspruch: ob denn kein Edelmann da sei? So gab man es dem Edelmann Dietrich, obschon er Protestant war und weniger geboten hatte. Darob großer Jammer in Rothau, das viele Katholiken hat: › Oh mon Dieu, un seigneur Huguenot!‹ Und einer rief: ›Wenn wir nun ebenso lang ihre Hunde werden sollen, wie sie die unseren waren – o weh!‹ Oberlin hat's mir erzählt. Sie hatten Verfolgungen auf dem Gewissen, die früheren katholischen Herren zur Zeit des vierzehnten Ludwig. Wie viel Arbeit hat's ihn gekostet, unsren wahren Herrn des Steintals, bis er die ganze Gegend überzeugt hatte, daß kein Mensch des andern Hund oder Herr sein dürfe, sondern daß die gleiche Liebe beide Konfessionen durchdringen müsse.«

Leonie trat etwas nahe an den Rand und spähte hinunter.

»Geben Sie acht, daß man Sie nicht hinabstürze!« rief Viktor scherzend und zog sie zurück. »Denn das Schloß ist von Geistern bewohnt. Die Concorde hat ihr schändliches Treiben mitangesehen; da wurden sie wild, als sie sich beobachtet sahen, und wollten sie hinabstürzen. ›Sagt mir lieber, ob ich durch irgend etwas eure Leiden lindern kann,‹ sprach sie ruhig. – ›Durch nichts, als durch Gebet‹, war die Antwort. Und einer schrie: ›Empfehlt mich eurem Pfarrer Oberlin zur Fürbitte.‹ – ›Wer bist du?‹ fragte die Seherin. ›Ich bin Gerotheus von Rathsamhausen.‹ Das war ein Name, den die Concorde nie gehört hatte. – ›Du bist wohl schon lange gestorben?‹ – ›Schon vor mehr als zweihundert Jahren,‹ erwiderte der Geist, ›aber wir haben von eurem Pfarrer reden hören...‹ Sie hat dieses dem Papa Oberlin erzählt. Und denken Sie sich, Leonie, der gute Oberlin hat auch diesen Namen an die Tür seines Schlafzimmers geschrieben, um für den friedlosen Geist zu beten!«

Der Kandidat verstummte jählings. Denn er gedachte, nach der deutlich sichtbaren Perhöhe hinüberschauend, jener Stunde, da er selber den Pfarrer von Waldersbach um diesen Dienst ersucht hatte.

»Ich möchte keine Seherin sein«, bemerkte Leonie und verließ die schwarzen Trümmer eilig. Sie hatte keine Freude an Geistergeschichten. Im Walde stürzte sie sich in ein Meer von Blumen, pflückte die schönsten und ließ sich von ihrem Begleiter die Namen nennen.

»Ich habe Blumen lieber als Geister«, sagte sie, »und will einen Strauß mitnehmen nach Barr.«

Sie suchten sich einen Rasenplatz, überschattet von einer jungen Birke. Und Leonie neigte ihre schön gerundeten rosigen Wangen über die Blumen, die sie im Schöße liegen hatte; sie hielt sorgsam Auslese und stellte den Strauß zusammen. Viktor setzte sich neben sie. Er schaute mit der ihm eigenen Andacht ihrer kunstvollen Hantierung zu. Den großen Mädchenhut hatte sie neben sich gelegt und in den Hut das Taschentuch, mit dem sie von Zeit zu Zeit über die perlende Stirn und das erhitzte Antlitz fuhr. Der Busen hob und senkte sich in einem gleichmäßig ruhigen Atem; und mit jedem Atemzug hob und senkte sich das goldne Herz, das sie an schwarzem Sammetband um den offenen Hals trug. Sie war die Verkörperung einer edelnatürlichen und kerngesunden Jungfräulichkeit.

Stärker als je ging der magnetische Strom zu dem nahesitzenden Freund hinüber, der so lange krank gewesen war und nun in allen Adern Gesundheit spürte. Er verhielt sich in einer holden Traumhaftigkeit schweigend und schaute dem Spiel ihrer blumenflechtenden Hände bewegungslos zu.

»Ich habe mich noch eines Auftrags zu erledigen«, begann er endlich langsam. Er sprach mit belegter und befangener Stimme.

Sein Entschluß war gefaßt. Und wenn es einmal bei ihm so weit war, so gab es kein Zaudern mehr. Es war seiner Schüchternheit nun allerdings nicht möglich, Addys delikaten Auftrag mündlich zu äußern. Er griff in die Rocktasche, suchte unter den dort verwahrten Schriftstücken und entnahm dem Notizbuch Addys letzten Brief. Sorgsam öffnete er das Papier und legte es dann offen auf Leonies Schoß.

»Sie sollen das lesen, Leonie«, sagte er leise.

Das junge Mädchen fühlte die Schwingungen, die sich seines Gemütes bemächtigt hatten. Viktors Befangenheit ging auf Leonie über. Sie ließ den fast fertigen Strauß liegen, nahm den Brief, sagte halblaut und etwas gepreßt: »Von Addy?« und las.

Viktor stützte derweil die Ellenbogen auf die Kniee, den Kopf in die Hände und bedeckte beide Augen. In dieser sinnenden und gefaßten Stellung verfolgte er im Geist die Zeilen, die seine Nachbarin schweigend las. Er hätte nicht den Mut gehabt, mit einzuschauen; denn den Gewissenhaften überkam nun die volle Erkenntnis von der abschließenden Bedeutung dieser Stunde. ... »Du leidest« – so las nun seine Nachbarin – »Du leidest oft an einer traurigen Stimmung, Leonie soll Dich fröhlich machen. Sag meiner Leonie, sie soll Dich glücklich machen, so glücklich, als man einen Menschen beglücken kann, den man von ganzem Herzen lieb hat. Und ihr beide macht unsere Mutter Frank glücklich; ersetze ihr den verlorenen Albert, lieber Viktor ... Mein Freund, gib Leonie meinen Ring und bitte sie dabei in meinem Namen um Verzeihung. Ich habe schon lange gewußt, daß ihr beide einander durch euer ganzes Leben hindurch lieben werdet, während ich scheiden muß. Das hat mich am Anfang ein wenig eifersüchtig gemacht auf meine glücklichere Schwester Leonie. Aber jetzt schon längst nicht mehr...«

Dies und alles andere las Leonie. Viktor spürte, daß ihr hart neben ihm liegender Arm ins Zittern geriet. Als sie zu Ende war, atmete sie heftig; der Schmerz der letzten Tage und die Befangenheit vor dem gänzlich Neuen stiegen jäh in dem kindlichen Mädchen empor; sie verhielt sich regungslos und wußte nicht, was hier zu sagen sei. Auch er schaute sie nicht an, wie sie erglühend und mit ihren Empfindungen kämpfend neben ihm saß, sondern löste nur Addys Diamantring, suchte Leonies Hand, fand den Verlobungsfinger und steckte ihr schweigend den Ring an. Dann behielt er ihre zitternde Hand in der seinen. Es zog ihn mit fast übermächtiger Gewalt zu diesem lebenswarmen Mädchen, dessen blühende, atmende Gesundheit er bis in das Innerste empfand. Er wollte den Arm um sie legen und sie an sich ziehen; das Leben, an das er fast nicht mehr geglaubt hatte, drang mit überwältigender Stärke auf ihn ein. Doch er faßte sich und widerstand, er ließ die Fluten des neuen Daseins über sich dahinrollen, durchschauert von einem demütigen Dank, daß er an der Pforte der Erfüllung stehe, daß Jungfräulichkeit im reinsten Sinne des Wortes zu ihm getreten sei, um ihn an der Hand zu nehmen und hinüberzuführen.

Und so saß auch sie, bebend unter diesem neuen Erlebnis, und fühlte dumpf das Große in ihr bis dahin traulich umhegtes Dasein treten. Sie empfand dieses Hand-in-Hand, dieses stumme Sitzen und diesen ganz seltsamen Vorgang wie eine Verlobung, von deren Sinn und Wesen sie oft gehört, die sie sich aber niemals deutlich vorgestellt hatte. Es war zu viel für ein Mädchen, das sich noch nie so lange und unter so ungewöhnlichen Verhältnissen von der Mutter entfernt hatte. Unversehens fing Leonie an zu weinen. Und ihre Tränen rollten auf Addys Brief und die Waldblumen des Steintals.

Jetzt legte Viktor zart den Arm um das gute Kind und sagte innig: »Liebe Leonie.« Weiter nichts. Er strich ihr die Tränen aus den Augen und wiederholte noch zarter und inniger: »Liebe, liebe Leonie.« Sie blieb einen Augenblick an seine Schulter gelehnt; in ihrer vertrauenden Kindlichkeit überließ sie ihm gänzlich die Führung; der Duft ihres Haares und ihres sommerlich warmen Körpers wehte kräftigend in seine Sinne. »Gott sei Dank,« sang es in ihm, »ich bin noch lebendig – und ein Lebendiges hat mich lieb!« Doch löste sie sich, tastete mit nassen Augen nach ihrem Taschentuch und wischte sich die Augen. Er steckte den Brief wieder ein. Leonie aber erhob sich, schüttelte die Reste der Blumen ab und wischte, von ihm abgewandt, immerzu mit dem Taschentuch die tränenvollen Augen.

Auch er stand auf und sagte, ihre Tränen in bewußter Ablenkung der Trauer um Addy zuschreibend:

»Leonie, wir wollen nicht mehr um Addy traurig sein, nicht wahr? Vielmehr wollen wir uns nun erst recht lieb haben, so wie sie hier in ihrem Briefe schreibt. Einverstanden? Hand drauf, Leonie!«

Er sprach es mit etwas absichtlich frischer Stimme und hielt ihr die Hand hin. Sie reichte ihm die ihrige, behielt aber, halb verlegen lächelnd, halb weinend, das Tuch vor den Augen.

Viktor hielt ihre Hand fest und fuhr fort:

»Das liebe Kind hatte wahrlich keinen Grund zur Angst oder Eifersucht. Denn wir waren ja alle untereinander eine einzige Familie.«

»Wie konnte sich Addy nur darüber ängsten!« sprach endlich Leonie. »Hätt' ich doch das geahnt! Es ist ja doch selbstverständlich, daß Sie Addy immer lieber hatten als uns andere. Im Gegenteil, ich hab' mich oft weggeschlichen, wenn ich euch beisammen wußte, um Addy recht ungestört mit Ihnen plaudern zu lassen. Und dann hattet ihr ja auch die Mutter. Ich war ja nie so wichtig ober nötig. Die gute Addy, wie konnte sie grade um meinetwillen sich ängsten! Ich dachte es gut zu machen, als ich mich so zurückhielt, und nun hat sie dennoch gelitten!«

»Leonie,« beruhigte Viktor, »Addys Eifersucht – wenn man das so nennen darf – galt dem Leben, galt den Gesunden, von denen sich das arme Kind ausgeschlossen wußte. Aber auch das war nur anfangs und nur selten bei ihr. Der Brief ist ja so voll Güte, daß ich etwas Rührenderes nie gelesen habe.«

»Sie war besser als ich«, erwiderte die immerzu leise weinende Leonie. »Wär' sie doch am Leben geblieben! Ach, ich wär' so gern statt ihrer gestorben.«

»Warum, Leonie?«

»Dann wären Sie beide glücklich gewesen.«

»Ich, Leonie? Mit Addy?«

Die Weiblichkeit in Leonie brach durch. Nur ein Weib konnte dem Gespräche diese überraschende Wendung geben. Die letzten Worte, rasch herausgesagt, waren halb Natur, halb Herausforderung. Es brach in ihr etwas durch, was wohl schon lange in ihr geschlummert hatte; nicht Eifersucht, das Wort wäre zu hart gewesen, aber doch Ungewißheit, ob der brüderliche Freund nicht doch Addy unendlich viel lieber gehabt habe, und daß er vielleicht niemals Leonie beachtet hätte, wenn jenes liebreizende Wesen noch am Leben wäre.

Viktor verstand. Er überlegte einen Augenblick, dann sprach er frei heraus:

»Liebe Leonie, ich will Ihnen etwas anvertrauen. Addys Mutter hatte sich in ihrer Not und Verlassenheit sehr leidenschaftlich zu mir gehalten; Addy selber aber war mir nie mehr als eine liebe, liebe Schwester und wäre auch als gesundes Mädchen nie etwas anderes geworden. So wie sich Braut und Bräutigam lieben, habe ich Addy nie geliebt. Ich war ihr Bruder und Beschützer, Das wußte Addy. Und sie wußte auch, daß ich Leonie anders lieben würde und Leonie vielleicht auch mich, nicht wie Bruder und Schwester, sondern – wie Bräutigam und Braut, wie Mann und Frau. ›Ihr gehört zusammen‹ hat sie oft zu mir gesagt. Und ich weiß nicht, Leonie, ob ich – ohne dich und deine Mutter jemals glücklich sein kann. Glaubst du mir das?«

Es war herausgesprochen. Das hohe Mädchen stand vor ihm, heftig atmend, mit gesenktem Kopf und an beiden Seiten herunterhängenden Armen. Sie lieh es geschehen, als er beide Arme um ihre Schultern legte und mit großer Innigkeit in ihr Ohr sagte:

»Ich hab' dich lieb, Leonie. Du mich auch?«

Es bedurfte keiner Antwort. Sie ließ den Kopf auf seine Schulter sinken und verharrte in dieser Lage, stumm verwirrt und bebend vor Glück und Empfindungsfülle.

Dann löste er sich. Er küßte sie nicht. Er bückte sich, hob ihr Strauß, Hut und Mantille auf und rief heiter:

»Leonie, und nun ein fröhlich Gesicht! Wir wollen als neue Menschen aus diesem Walde springen! Nicht wahr!«

Und noch einmal die kleine Waldlichtung überschauend, fügte er munter und herzlich hinzu:

»Bitte, Leonie, halten Sie 'mal die Sachen fest! Ich muß eine Gedenktafel schreiben.«

An die Birke tretend, unter der sie gesessen hatten, schnitt er das Datum dieses bedeutungsvollen Tages und darunter ihren Doppelvornamen Louise-Leonie nebst seinem eigenen Rufnamen in die Rinde ein und zog eine Herzform um die Inschrift. Als er sich bei diesem etwas hastig vorgenommenen Werk den Finger ritzte, so daß ein winzig Blutströpfchen sichtbar wurde, erschrak er, dachte jäh an einen ähnlichen Vorgang, ließ sich aber nichts merken und sog den Tropfen rasch hinweg. Er vollendete die Schrift, steckte das Messer ein und sagte feierlich zu seiner Gefährtin:

»Leonie, wir wollen uns diese Stelle merken. Denn unter dieser Birke haben sich Leonie Frank und Viktor Hartmann verlobt. Nicht wahr, ich darf es so nennen?«

Er schaute sie wartend an, sie nickte errötend und wandte sich ab.

»Und übermorgen, liebes, liebes Mädchen, sind wir in Barr; dann bitt' ich unsre Mutter in aller Form um deine Hand. Und am Weihnachtsabend steck' ich meiner Braut auch diesen zweiten Ring an den Finger, den Verlobungsring meiner Eltern. Leonie, wie viel Segen sammelt sich auf dich, grade auf dich, du Stillste von allen!«

Er zog sie, die in ihrer bräutlichen Hoheit vor ihm stand, in einem Sturm von Glück ans Herz. Dann verließen sie miteinander den Bergwald.

Und als ihr gelehrter Freund fortan mit »wir« lebhaft von seinen Zukunftsplänen sprach, hörte die junge Braut mit einer neuen und starken Anteilnahme zu und schaute ihn mit Blicken einer herrlich herausstrahlenden unverbrauchten Liebe an. So hatte Viktor niemals das Lebensfeuer ihrer glänzenden Augen leuchten sehen.

* * *

Im Dörfchen Bellefosse rauschten die starken Brunnen. Eine junge Frau saß vor der Haustüre und nährte ihr Kind. Und inmitten eines ganzen Schwalles von eben aus der Schule strömenden Kindern stand, ein Felsen zwischen spielenden Wellen, Oberlins Gestalt und hatte für jeden der Kleinen ein freundlich Wort.

»Dort steht unser ruhiger Freund!« rief Viktor. »Leonie, er soll unseren Bund segnen.«

Sie traten zu ihm. Und man plauderte zunächst von den Kindern, die nach allen Seiten in ihre abendlichen Hütten auseinanderliefen.

»Ich entsinne mich eines Maientages,« sprach Vater Oberlin im Weiterwandern, »ganz im Anfang meiner hiesigen Tätigkeit, da lief drüben in Belmont gleichfalls solch ein Rudel Kinder um mich herum. An jenem Tage konnte ich mich der Tränen nicht erwehren, als ich die damals noch so verwahrloste Jugend sah, die zu Hause mehr mit Schelten, Fluchen, Schwören und Prügeleien gefüttert wurde als mit nahrhaftem Brot. Ich bat den lieben Heiland inständig, auch ihnen eine Aufseherin zuzuführen. Denn was kann es Heiligeres geben als die Kinderpflege! Es war da eine gewisse Marie Bohy; sie schien mir wohlgeeignet. Aber ihre Mutter wollte sie nicht hergeben. Das hat mir sehr zu schaffen gemacht, und ich habe heftig zu der störrischen Frau gesprochen. Umsonst, ich ging nach Hause, ohne daß mein Gebet erhört war. Zu Hause ließ ich eine Frau Loux aus Waldersbach kommen und begehrte auf dieselbe Art ihre Tochter für den Schuldienst. Und siehe, diese Frau, früher recht weltlich, war ganz vor kurzem durch einen Gottesdienst ergriffen worden, gab ihr Kind mit Freuden und ließ sich trotz ihrer Armut nur mit Mühe eine Entschädigung aufreden, damit sie sich eine Magd halten konnte. Ihr Mann, der gleich nachher vorbeikam und dem ich's erzählte, war zu Tränen gerührt ob der veränderten Denkart seiner Frau. Tags darauf – was geschieht? Schon um fünf Uhr früh steht Marie Bohy draußen, strahlt übers ganze Gesicht und sagt: »Einen schönen Gruß von der Mutter und sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen, so sehr bereut sie ihr unchristliches Benehmen, und ist gestern nach Solbach, um mit dem Vogt zu sprechen, und ich darf mich nun dem Schuldienst widmen!« Wohlan, da hatten wir nun gleich zwei für eine! Und ich konnte die eine nach Solbach tun, die andere nach Belmont.«

So plauderte Oberlin von seinen Kleinkinderschulen. Und kam dann überhaupt auf die Schwierigkeiten zu sprechen, die sich ihm anfangs, aus den Gemeinden heraus, entgegenstellten. Legten ihm doch wüste Burschen einmal sogar einen Hinterhalt, um ihn zu mißhandeln! Er aber ging erst recht zu Fuß durch jenen Hohlweg, ließ sich das Pferd nachführen und schaute den bösen Gesellen mit freundlichem Gruß fest und ruhig ins Gesicht. Und ging ein andermal stracks in das Haus, in dem sie ihr Komplott schmiedeten, und sprach dort so eindringlich und so liebreich, daß er sie aus Feinden umschmolz in treue Freunde. »Eine herrliche Tätigkeit!« rief Viktor. »Ich wollte, auch ich könnte dies mit allen Feindseligkeiten des Lebens fertig bringen: in ehrlicher Arbeit sie umzuschmelzen in Freundschaften!«

Und seine Dankbarkeit brach durch.

»Lieber Herr Pfarrer,« sprach er, »man nennt Sie hier im Steintal ›papa‹ oder auch ›le cher papa‹, den lieben Vater Ihrer Gemeinden. Gestatten Sie auch mir, gestatten Sie uns beiden, mit diesem dankbaren und ehrerbietigen Worte ›Vater‹ Ihrer zu gedenken. Und segnen Sie uns, bitte! Segnen Sie uns, lieber Vater Oberlin, als Kinder Ihres Geistes und Herzens: Leonie ist meine liebe Braut!«

Überrascht blieb der Pfarrer stehen.

»Du stilles, junges Menschenkind,« sprach er zur erglühten Leonie und zog sie ans Herz, »willst du wirklich als ein freundlicher Schutzgeist neben diesem aparten, gewissenhaften und treuen Menschen einhergehen? Wie mich das freut, du liebes Geschöpf! Seid gesegnet, ihr beiden!... Ich habe demnach nicht mehr nötig, Viktor, deinen Namen an meine Tür zu schreiben, wenn er auch in meinem Herzen bleibt; dieses Mädchen wird ihn fortan täglich in ihr Gebet schreiben. Und so gesellt sich die Unschuld der ersten Kindheit zur neu errungenen Unschuld einer zweiten Kindheit, so gesellt sich Leonie zu Viktor. Euer Vater? O, wie gern will ich das sein! Wie tief das Wort, daß nur Kinderseelen in das Himmelreich einziehen! Kinder schreiben nichts sich selber zu, sie empfangen es vertrauend und dankbar von den Eltern, sie machen sich keine Ängste um die Zukunft, denn sie wissen, daß ihre Eltern alles wohlmachen. Und so ist es mit der neuen Kindschaft; die Kinder Gottes haben ein unerschütterlich Vertrauen zu ihrem himmlischen Vater, von dem sie alles empfangen, auch wenn es manchmal bitter scheint; in ihrer dankbaren Hand verwandelt sich alles in Licht und Gold, da sie die verklärenden Augen der Gottesliebe darauf richten. Es hat dir, mein Viktor, an dieser sieghaften Kindlichkeit in deinen mannigfachen Unsicherheiten und Angstzuständen oft gefehlt. Es waren Entwicklungszustände; es war die Wiedergeburt in das Reich Gottes, die unter Schmerzen vor sich geht. Nun aber soll diese hoch und sicher schreitende Jungfrau fortan deine Begleiterin sein; und du selbst hast gehen gelernt und wirst auch noch das freudige Lachen lernen.«

Leonie trug ihren umfangreichen Waldstrauß und hatte den Bänderhut an den Arm gehängt. In ihren rosig leuchtenden Wangen, die von starker Haarfülle überschattet waren, in dem strahlenden Glück, das über dem jungfräulich befangenen Antlitz lag, schien sie von idealer Schönheit. Etwas Überirdisches schwebte in dieser Jungfrau neben den beiden Männern einher.

Und Viktor, der selten ohne Buch und Botanisierbüchse ausging, griff in die Tasche und entnahm ihr Goethes »Iphigenie«.

»In diesem Buche«, sprach er, »steht mein Lieblingswort vom ruhigen Freund. Sie, lieber Vater Oberlin, waren mein ruhiger Freund. Sie waren und sind es durch Ihr bloßes Dasein. Wenn ich verwirrt war, so dacht' ich an Sie und habe mich an Ihnen wieder zurechtgefunden.«

Und er sprach die ihm teuren Worte:

»Denken die Himmlischen
Einem der Erdgebornen
Viele Verwirrungen zu,
Und bereiten sie ihm
Von der Freude zu Schmerzen
Und von Schmerzen zur Freude
Tief erschütternden Übergang:
Dann erziehen sie ihm
In der Nähe der Stadt
Oder am fernen Gestade,
Daß in Stunden der Not
Auch die Hilfe bereit sei,
Einen ruhigen Freund.
O segnet, Götter, unsern Pylades
Und was er immer unternehmen mag!
Er ist der Arm des Jünglings in der Schlacht,
Des Greises leuchtend Aug' in der Versammlung:


Denn seine Seel' ist stille; sie bewahrt
Der Ruhe heil'ges unerschöpftes Gut,
Und den Umhergetrieb'nen reichet er
Aus ihren Tiefen Rat und Hilfe«. .

Diese schönen Worte hatte Viktor auswendig gesprochen. Er fühlte sich selber als ehedem umgetriebener und nunmehr beruhigter Orest. Und dann schlug er das Buch auf und sprach weiter:

»Und wie ich' heute morgen zufällig in dieses Buch schaue, auf welche Stelle stoße ich?

›So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter
Des größten Vaters, endlich zu mir nieder!‹

Ich hab' es wie ein Schicksalswort der Herrnhuter Losungen aufgefaßt und habe beschlossen, am heutigen Tage mit Leonie zu sprechen und diese Epoche der Unruhe zu beenden, falls dieses Mädchen so denken würde wie ich. Und sie hat gedacht wie ich. Leonie, was sagt hier Iphigenie?«

Sie blieben stehen, und er hielt ihr das Buch hinüber.

Lieblich verlegen las sie das Wort: »Mein Schicksal ist an deines fest gebunden.«

Er schwieg bewegt. Grade ihre Stimme tat ihm immer so wohl; ihre Stimme und der Blick der Augen; beides war voll beruhigender Wärme. Recht hörbar klappte er das Buch zu und steckte es ein, mit einer gleichsam abschließenden Bewegung; das eherne Tor einer Lebensepoche war fernabdonnernd hinter ihm zugefallen....

Oberlin nahm das Gespräch auf und leitete es weiter.

»Mein guter Viktor,« sagte er in seiner Wahrhaftigkeit, die jeder Eitelkeit oder Pose entbehrte, »ich möchte nicht haben, daß du den Pfarrer von Waldersbach als eine Art Mustermenschen überschätzest. Daß dir meine Welt und mein Wesen von Nutzen geworden sind, das ist göttliche Fügung, worin ich nur Werkzeug war. Jeder Mensch ist begrenzt und hat seine mannigfaltigen Seiten und Eigenarten, worin er an den Begrenztheiten der menschlichen Natur teilnimmt. Behalte Fühlung mit den Gelehrten in Jena, mit den großen Dichtern Deutschlands, mit den heiligen Männern aller Zeiten und obenan mit dem Mittler Jesus, dem Meister aller Meister! Ich selbst habe viele Charaktere studiert, viele Schattenrisse gezeichnet und führe über die Seelen meiner Gemeinden ein geheimes Buch. Aber ich muß sagen, daß ich nicht einmal über mich selber eine runde, klare Charakteristik aufstellen könnte. Sieh, ich bin von Natur Soldat, ein Bewunderer militärischer Zucht: und doch bin ich Prediger der Liebe geworden. Ich bin heftig und jähzornig, habe mich aber durch Selbsterziehung in einer festen Milde geübt, wenn ich so sagen darf, und verliere selten die Fassung. Ich bin einsichtsvoll, treibe viele Studien und besitze doch nur beschränkte Geisteskräfte; ich bin vielleicht klüger und politischer als viele Amtsbrüder und doch schweren Übereilungen ausgesetzt. Ich bin aufrichtig und redlich, aber auch gern jedermann gefällig, daher nicht immer ganz treuherzig. Widerstand ruft in mir Stolz und Festigkeit hervor; aber Großherzigkeit entwaffnet mich sofort. Ich habe lebhafte Einbildungskraft, aber kein sachliches Gedächtnis; daher mein Notizenkram. Ich schriftstellere nicht und werde kein Buch hinterlassen: und doch mach' ich mir Auszüge aus Büchern, schreibe meine Randglossen, disponiere Predigten, entwerfe Lehrpläne – kurz, ich habe gleichwohl ein gestaltendes, schriftstellerisches Bedürfnis. Ich bin immer geschäftig und tätig, habe aber in mir eine Sehnsucht nach Bequemlichkeit und nach den Freuden des Himmels. Ich nehme an den kleinsten Sorgen des Haushalts und der Gemeinde teil – und sehne mich nach einem höheren Zustande, der das alles abwirft. Ich habe achtungsvolle Verehrung für das weibliche Geschlecht, und doch ist mir mein Weib frühe schon genommen worden, und ich werde durch ein vielleicht noch langes Leben allein wandern.... So könnt' ich fortfahren, liebe Kinder. Das Leben ist vielfältig, und jeder Mensch ist ein Vielfältiges. Aber es kommt darauf an, daß man in aller Vielheit den innersten Blick stetig und stark auf das Eine richtet, was über allen Wechsel erhaben ist.« Sie hatten Waldersbach erreicht. Aus den Kaminen erhob sich der abendstille Rauch. Oberlin hatte in einem Hause zu tun, worin man ihn bald mit einem leichtlebigen Schuldenmacher ziemlich zornig schelten hörte; und die beiden Verlobten warteten so lange an einem Brunnen.

»Ich werde die Wasser des Steintals nicht vergessen«, sagte Leonie im Verlauf des Gespräches. »Und Oberlins Worte auch nicht.«

»Und auch nicht die Birke dort oben, nicht wahr, Leonie?« ergänzte Viktor lächelnd. »Ich liebte früher besonders die dunkle Bergtanne. Aber die weiße Birke gehört dazu wie das Weib zum Manne, wie die Freude zum Ernst – wie Leonie zu Viktor.«


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