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Dreißigstes Kapitel.
Gefangenschaft, Verurteilung und Tod des Herrn von Migurac

Herr von Migurac blieb mehrere Wochen im Gefängnis, ehe er vor Gericht kam. Der Grund dieser Verzögerung lag vielleicht darin, daß man ihn wie so viele andre vergaß. Wahrscheinlicher ist es aber, daß die jakobinische Polizei, durch sein Attentat beunruhigt, fürchtete, er möchte Helfershelfer haben, und daß sie, trotzdem er dies im Vorverhör verächtlich in Abrede stellte, doch hartnäckig allen Umständen der Verschwörung, deren Seele er war, nachforschte.

Diese wenigen Wochen waren eine letzte Rast von unendlicher Lieblichkeit am Abschluß der so ereignisreichen Laufbahn des Herrn von Migurac. Da die Gefängniszellen nicht ausreichten, mußte man ihm wohl oder übel erlauben, unter den andern Gefangenen zu leben. Er hatte die Freude, sich dort in sehr guter Gesellschaft zu befinden. Mehrere, die früher seine Gesellschaften besucht hatten, kamen am ersten Tage zu ihm und umarmten ihn mit großer Herzlichkeit. Die Seltsamkeit seines Lebens machte ihn allen interessant, und der verdienstvolle Versuch, den er soeben gemacht hatte, umgab ihn mit dem Nimbus des Märtyrers selbst in den Augen derer, die seine philosophischen Ansichten nicht geteilt hatten. Und so sah er in diesem auserlesenen Kreise eine Königswürde sich zufallen, wie er sie so unbestritten selbst in den schönsten Zeiten seines Ruhmes nicht gekannt hatte.

Wenn man im Gefängnishof jeden Nachmittag eine gesellige Zusammenkunft hatte, um sich durch witzige oder erhabene Gespräche zu zerstreuen, indes die Damen die Risse ihrer Kleider und die Herren ihre durchlöcherten Strümpfe stopften, so wurde für Herrn von Migurac ein Ehrensessel, der noch alle vier Beine hatte, freigehalten. Stundenlang hielt er hier die Anwesenden im Zauberbann seiner Rede. In dem erbärmlichen Friesrock, den er am Tage seiner Verhaftung trug, erschien er mit unglaublicher Majestät. Seine Züge, die die Sonne des Aequators nicht hatte entstellen können, hatten ihre Vornehmheit und Regelmäßigkeit wiederbekommen; eine gewisse Magerkeit und die matte Hautfarbe hoben ihre Feinheit noch hervor. Das ganze Gesicht wurde von dem klaren Glanz seiner blauen Augen erleuchtet. Auf seiner reinen, hohen Stirn ringelten sich die grauen, fast weißen Haare in kindlichen Locken, so daß sein reifes Alter mit edler, lauterer Schönheit geschmückt war und er niemals bezaubernder gewesen war, als an der Neige seines Lebens.

Wir verraten kein Geheimnis, wenn wir anführen, daß er im Kerker die höchsten Wonnen der Liebe hätte genießen können, wenn ihn die Laune dazu angewandelt hätte.

Wir können in der Tat das Zeugnis des Herrn von Jal, seines Mitgefangenen, nicht in Zweifel ziehen. Dieser hat in aller Form ausgesagt, daß Madame Desportes, die Frau des Kerkermeisters, nicht nur mehr Fleisch in seine Suppe tat und ihm einen doppelten Strohsack verschaffte, sondern ihm auch gleichzeitig ihr Herz und die Möglichkeit zu entfliehen bot. Doch Herr von Migurac schlug die Freiheit aus, weil er nichts damit anzufangen wußte, und die Frau, weil sie rothaarig war, was er niemals hatte ausstehen können.

Rührender noch war sein Abenteuer mit der Herzogin von Cabry, einem entzückenden, übermütigen Kinde, deren achtzehn Lenze die Republik beunruhigt hatten, weil ihr Gemahl in Koblenz war und sie das Bildnis Marie Antoinettes auf dem Herzen trug. Eines Nachmittags hatte Herr von Migurac der ganzen Gesellschaft Tränen entlockt, als er demütig erzählte, wie grausam er gegen Madame Isabella und wie grausam Marie Agnes gegen ihn gewesen sei. Infolge dieser Erzählung war Madame von Cabry, einen Augenblick des Alleinseins benutzend, auf ihn zugegangen, hatte seine Hand in der ihren gedrückt und ihn mit einem ausdrucksvollen Blick angesehen. Da hatte er begriffen, daß sie sich ihm anbot, um ihm die Freuden zu geben, die er noch nicht kennen gelernt hatte. Sein Herz erzitterte trotz seiner Jahre und war bewegt. Vielleicht wäre er unterlegen, wenn er nicht in einer Spiegelscherbe, die an der schmutzigen Mauer aufgehängt war, seine weißen Haare neben dem rosigen Gesichtchen der Madame von Cabry erblickt hätte. Da hatte er sich, von der Häßlichkeit einer greisenhaften Liebe zurückgeschreckt, über ihre zarten Finger gebeugt, und die kleine Herzogin hatte einen Kuß und eine Träne darauf gefühlt, die zärtlich nein sagten.

Welcher Reiz indessen auch für Herrn von Migurac in der Rücksicht seiner Umgebung lag, so schöpfte er doch den besten Teil seiner Heiterkeit aus seinem eignen Gewissen. Es war ein unaussprechlicher Genuß für ihn, am Ende der stürmischen Lebensreise mit Muße Einkehr in sich selbst zu halten. Er ließ die mannigfachen Ereignisse seiner Laufbahn eines nach dem andern an seinem Geiste vorüberziehen, von seiner Kindheit bis zu den Abenteuern in Neuguinea. Mit Vorliebe verweilte er bei den sonnigen Freuden der Kinderjahre, bei den Unterhaltungen mit seinem Vater, den abenteuerlichen Neigungen seiner ersten Jugend, der melancholischen Erinnerung an Isabella, den wechselvollen Schicksalen seiner Reisen, der harmlosen und durchtriebenen Anmut von Marie Agnes und bei allem, was er gedacht, geschrieben und gewollt hatte. Das Gute schien ihm zu fern, um sich danach zu sehnen, zu fern auch das Böse, um noch darunter zu leiden. Gewiß hatten seine Taten oft mehr Schlimmes als Gutes gezeitigt, und er hätte viele Seiten aus dem Buche seines Lebens herausreißen mögen. Aber diese Betrachtung erzeugte keine Verzweiflung bei ihm. Denn zurückblickend mußte er sich die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß niemals das Laster in ihm vorgeherrscht und daß all seinen Handlungen etwas Edles zugrunde gelegen hatte. Und wenn er ermaß, wie wenig der Mensch ist, dünkte es ihn, daß er seine Aufgabe als Atom tapfer erfüllt hatte.

Alles in allem würde sein Tod eine ausreichende Sühne für seine Irrtümer sein. Und so war es gerade die Aussicht auf sein Ende, die ihn in seiner Heiterkeit bestärkte.

Erst in der ersten Woche des Mai wurde Herr von Migurac vor das neuerdings eingesetzte Revolutionstribunal geladen. Wie gewöhnlich waren die Gefangenen im Gefängnishof vereinigt und plauderten lebhaft über die öffentlichen Angelegenheiten. Marats siegreiche Freisprechung entlockte ihnen Verwünschungen und Klagen. Da öffnete sich die Tür. Mehrere Munizipalgardisten blieben unbeweglich in der Türöffnung stehen, während der Kerkermeister mit einem zerknitterten Stück Papier in der Hand vortrat. Die Verhafteten, deren Namen verlesen wurden, sollten vor dem Tribunal erscheinen. Er nannte ihrer fünf, darunter Herrn von Migurac und die Herzogin von Cabry. Die kleine Herzogin erblaßte, biß sich auf die Lippen, lächelte und erhob sich. Herr von Migurac, der gerade mit Herrn von Senarmont beim Häkchenspiel war, machte eine verdrießliche Bewegung mit dem Kopf und entschuldigte sich höflich, daß er die Partie nicht zu Ende spielen könne. Alle Gefangenen grüßten entblößten Hauptes und voller Ehrerbietung die Aufgerufenen.

Herr von Migurac wurde als letzter vor das Tribunal geführt, das in einem niedrigen, wie gewöhnlich mit Piken, Fahnen und roten Mützen ausgeschmückten Saal tagte. Ueber der Eingangstür befand sich eine Büste der Freiheit. Die Neugierigen drängten sich in Menge auf den hölzernen Bankreihen. Im Hintergrund saßen an einem mit Wachstuch bezogenen Tisch ein Dutzend Männer. Der öffentliche Ankläger stand zur Rechten. Herr von Migurac wurde vor die Schranke gezogen und warf durch sein Stielglas einen neugierigen Blick auf seine Richter, wandte ihn aber bald voller Ekel ab. Ihre Mienen waren finster, ihre Kleidung schmutzig, die Haare zerzaust und die Nägel gemein. Er verzog den Mund und blinzelte nach dem Saale, wo er zwei oder drei leidlich hübsche Frauenzimmer gewahrte.

Auf ein Glockenzeichen trat Ruhe ein. Der Präsident, ein schwächlicher, knochiger junger Mensch von etwa dreißig Jahren, erhob sich, hustete und fragte Herrn von Migurac nach Namen und Vornamen. Der Marquis lächelte und sagte höflich, aber ironisch zu ihm:

»Ich nehme an, mein Herr, daß Sie darüber unterrichtet sind. Wenn nicht, müßten Sie an meiner Stelle sein, weil Sie einen unbekannten Menschen gefangen gehalten haben.«

Auf eine ungeduldige Handbewegung sagte er herablassend:

»Ich will Ihnen indessen gern bestätigen, daß ich Louis heiße, wie der erlauchteste unter den Königen von Frankreich, und Lycurgue, wie der weiseste aller Gesetzgeber; und seit vierhundertundzweiundneunzig Jahren haben meine Vorfahren den Titel eines Marquis von Migurac, den ich trage, vom Vater aus den Sohn vererbt.«

»Ihr Alter?«

»Ein Alter, um füglich von den Schmerzen des Lebens geheilt zu werden. Zweiundfünfzig Jahre.«

»Ihr Wohnsitz?«

»Gestern die freie Natur, heute Ihr Kerker, morgen ohne Zweifel das Unendliche.«

»Ihr Beruf?«

»Märtyrer, wie mir scheint.«

»Aber außerdem?«

»Du warst noch nicht geboren, als ich schon mein Leben der Sache der Menschheit geweiht hatte. Jetzt ist die Stunde da, um meinen Schwur zu halten.«

Auf Befehl des Präsidenten stotterte ein verschnupfter Gerichtsdiener mit dunkelrotem Gesicht den Bericht der Polizeioffiziere herunter, die Herrn von Migurac verhaftet hatten.

»Haben Sie einige Bemerkungen zu machen?«

»Ich möchte den Wunsch aussprechen, daß dieser Mensch aufgefordert wird, sich zu schneuzen, falls er wieder das Wort ergreifen soll. Wenn es nötig ist, werde ich die Kosten des Schnupftuchs tragen.«

Unter den Anwesenden erklang hier und da Gelächter. Der Präsident wurde rot und schrie gereizt:

»Haben Sie die Güte, die Verhandlung nicht aus dem Gleise zu bringen. Ich frage Sie, ob Sie etwas in bezug auf diesen Bericht zu bemerken haben!«

»Mein Herr, er enthält wie jede von Menschen verfaßte Urkunde eine recht seltsame Mischung von Irrtum und Wahrheit.«

»Wünschen Sie die Einzelheiten zu erörtern? Der Gerichtsdiener wird ihn uns zum zweitenmal vorlesen …«

Herr von Migurac wehrte mit graziöser Handbewegung ab: »Lassen Sie diesen Herrn in Frieden. Die Wiederholung würde unnütz und unerträglich sein.«

»Es wird Ihnen gestattet, die Zeugenaussagen zu widerlegen. Lassen Sie die Zeugen vortreten.«

Drei Gendarmen, zwei Frauen, die in der Menge neben Herrn von Migurac gewesen waren, und einige Neugierige machten abwechselnd ihre Aussagen. Aus ihren ziemlich wirren Reden ergab sich, daß der Angeklagte die Verurteilung des Königs heftig getadelt und das Volk aufgestachelt hatte, die Hinrichtung zu verhindern. Er selbst hatte Miene gemacht, sich auf die Wagentür zu stürzen. Der Präsident fragte:

»Haben Sie Bemerkungen zu machen?«

»Ich mache ziemlich merkwürdige,« sagte Herr von Migurac, »über die Sonderbarkeiten menschlicher Beweise, und meine Achtung vor den Geschichtschreibern nimmt infolgedessen zu. Aber ich erachte es für unnütz, sie Ihnen mitzuteilen.«

»So geben Sie also zu,« sagte der Präsident, »den Versuch gemacht zu haben, den Tyrannen der Volksjustiz zu entziehen?«

»Das,« sagte Herr von Migurac mit Ruhe, »ist ohne Zweifel eine der plumpsten Lügen, die Sie ausgesprochen haben, obwohl Ihr Handwerk Sie zu häßlichen Irrtümern verleiten muß.«

Der Präsident trocknete sich erschöpft die Stirn.

»Wohlan,« sagte er in versöhnlichem Ton, »leugnen Sie irgendeine der ausgesprochenen Tatsachen? Ansprache an das Volk und Versuch des Attentats?«

»Nein,« erwiderte Herr von Migurac, »das ist buchstäblich wahr.«

»Aber wie können Sie alsdann wagen,« schrie der arme Mensch aufgebracht, »mir zu widersprechen, wenn ich behaupte, daß Sie den Tyrannen der Volksjustiz entziehen wollten?«

»Weil dies, wie ich bereits die Ehre hatte Ihnen zu bemerken,« erwiderte Herr von Migurac mit derselben Ruhe, »gänzlich falsch ist. Ich habe nur versucht, die Volksjustiz vor der verbrecherischen Tat zu bewahren, zu der blutdürstiger Wahnsinn sie hinriß.«

Ein zorniges Murren ging durch die Richter. Herr von Migurac erinnerte sich, wie die Schakale in Neuguinea ihn mit den Augen verschlangen, während sie die Lefzen fletschten. Er gähnte und machte sich ein Vergnügen daraus, einen der schmutzigen Männer zu fixieren, bis er die Augen niederschlug.

»Sie betrachten also den Mord eines Tyrannen als ein Verbrechen?«

»Ich verabscheue die Tyrannei. Hätten doch meine Bücher mehr gegen sie ausrichten können, als euer Wahnsinn ausrichtet. Jeder König ist schuldig. Der Mensch Capet ist unschuldig. Indem ihr ihn straftet, habt ihr Louis XVI. zum Märtyrer gekrönt.«

Zwei der Richter gaben dem Präsidenten ein Zeichen, und er ging auf etwas andres über. Er fragte:

»Haben Sie keine Mitschuldigen?«

Der Marquis zuckte die Achseln.

»Das ist eine einfältige Frage. Glauben Sie, wenn ich wirklich welche hätte, ich würde sie auf der Folter nennen? Nun ist ja die Folter durch Ihre Menschlichkeit abgeschafft, und ich will Ihnen gern Glück dazu wünschen.«

»Bürger und Richter, ihr werdet die Ansichten des Angeklagten nach Verdienst schätzen. Ich erteile dem öffentlichen Ankläger das Wort für die Anklagerede.«

Das Verbrechen wäre erwiesen. Der Ankläger höbe seine Redekunst für eine bessere Gelegenheit auf. Herr von Migurac wäre offenbar des Royalismus, des Hochverrats und des Angriffs auf den Volkswillen schuldig. Die beantragte Strafe wäre der Tod.

Während er Herrn von Migurac mit seiner Beredsamkeit andonnerte, blickte dieser durch ein Fenster des Gerichtssaales in den blauen Himmel; ein Kastanienzweig schien schon grün zu werden.

»Haben Sie nichts zu bemerken?« fragte der Präsident.

»Dieser arme Teufel,« sagte Herr von Migurac, ohne die Augen abzuwenden, »hat seine Sache sehr gut gemacht. Er hat ein ordentliches Maul und braucht es zum Beißen und Geifern.«

Nachdem der Präsident die Hauptpunkte der Verhandlung kurz zusammengefaßt hatte, legte er den Richtern zwei Fragen vor:

»Ist Migurac überführt, einen verbrecherischen Plan gegen die Volkssouveränität geschmiedet zu haben? Ist er überführt, mit dessen Ausführung begonnen zu haben?«

Die Geschworenen zogen sich zurück. Eine Beratung von fünf Minuten genügte, um den Wahrspruch zu ergeben. Mit Einstimmigkeit war Herr von Migurac in den beiden Hauptpunkten für schuldig erklärt. Folglich war die über ihn verhängte Strafe Tod und Einziehung seiner Güter.

Herr von Migurac hörte den Wahrspruch schweigend an. Nicht nur, daß auf seinem Gesicht keine Bewegung zu lesen war, sondern seine Haltung war so ungezwungen, daß man hätte glauben können, daß er nichts gehört hätte. Er betrachtete immer noch mit friedlichem Gesicht den grünen Zweig, das freundliche Zeichen des Frühlings.

»Haben Sie nichts zu bemerken?« fragte der Präsident zum letztenmal.

»Er treibt Knospen,« sagte der Marquis, den Blick auf den Kastanienzweig geheftet.

Dann, sich besinnend, setzte er ruhig hinzu:

»Meine Herren, ich bescheinige Ihnen den Empfang dessen, was Sie ohne Zweifel Ihre Gerechtigkeit nennen. Aber verschleiern Sie wenigstens dies Bild aus Schamgefühl.«

Er zeigte mit dem Finger auf die Büste der Freiheit, die den Gerichtshof aus leeren Augen ansah. Dann erhob er sich und grüßte die finstern Männer höflich.

»Nachdem dies abgetan ist, meine Herren, wünsche ich so schnell wie möglich Abschied von Ihnen zu nehmen. Erlauben Sie mir, mich wegen einiger Scherze zu entschuldigen, die ich mir habe entschlüpfen lassen, und deren Witz ich nicht immer sorgfältig habe wählen können. Es ist wichtig, daß der Angeklagte an dieser Stätte einen Beweis von ein wenig Geistesfreiheit gibt. So sind doch die Versammlungen, die Sie veranstalten, nicht ganz ohne moralische Größe.«

Herr von Migurac machte kehrt und setzte sich in Marsch, von den Gardisten gefolgt. Wo er vorbeikam, machte ihm das Publikum ehrerbietig Platz. Mehrere Frauen weinten. Unter den Zuhörern erkannte er Herrn von Clunet und einen andern der Verschworenen, die flehende Blicke zu ihm hinüberschickten. Er verzieh ihnen durch ein freundschaftlich gleichgültiges Augenzwinkern.

Als Herr von Migurac das Gefängnis wieder betrat, strömte die Menge der Gefangenen ihm entgegen. Beim Anblick seines lächelnden Gesichtes wurden sie von Hoffnung belebt. Er streifte mit graziöser Handbewegung seinen Hals und sagte gelassen:

»Morgen um neun Uhr, falls die Diener der Republik pünktlicher sind, als es meine Lakaien waren … Aber die andern?«

Drei Freisprechungen. Madame von Cabry allein war verurteilt. Ein Hauch von Trauer verdunkelte die Augen des Marquis. Indessen rief ihn der Gefangenwärter, denn er hatte gebeten, seine letzte Nacht in eine Zelle gebracht zu werden, um sich sammeln zu können. Er zog sich zurück und schob das letzte Lebewohl für den nächsten Tag auf.

In seiner Zelle begann Herr von Migurac mit gutem Appetit die Mahlzeit zu verzehren, auf die Madame Desportes' Tränen gefallen waren. Dann tauchte er die Feder in die Tinte, füllte mehrere weiße Bogen mit seiner raschen, regelmäßigen Handschrift und schrieb auf einen Umschlag Herrn Joineaus Namen. Herr Joineau hat diese Seiten, die in gewisser Weise das Testament seines Herrn vorstellten, sein lebelang als etwas Kostbares aufgehoben und einen Teil davon in seinen Memoiren angeführt.

Herr von Migurac benachrichtigte seinen Freund und Erzieher in maßvollen Ausdrücken von seiner Verurteilung. Er setzte ihn und Maguelonne zu gleichen Teilen zu Erben seines ganzen Vermögens ein und drückte den Wunsch aus, daß das Urteil, wie es häufig geschah, in bezug auf die Gütereinziehung nicht ausgeführt werden möge. Er verhehlte nicht ein leises Bedauern, daß seine Leiche nicht bei denen seiner Eltern ruhen sollte. Aber es war ihm ein Trost, daß sein Körper ohne Zweifel zu medizinischen Untersuchungen dienen würde, die der Wissenschaft zugute kämen. Insbesondre machte er sich Hoffnung, daß die Sektion seines Gehirns und seines Herzens wunderbar nutzbringend sein würde. Er bat den Abbé um Verzeihung für alle seine Beleidigungen und vertraute ihm die Aufgabe an, sein Andenken gegen jede verleumderische Anschuldigung zu schützen. Er schloß folgendermaßen:

»O mein Lehrer, o mein Freund! Von den Ufern des Styx richte ich dieses ewige Lebewohl an Sie und sende Ihnen den letzten Schrei meines Bewußtseins. Ich sterbe voller Zärtlichkeit für die Menschheit, voller Zuversicht in den Fortschritt. Und wenn der Chirurg, der morgen in mein Inneres sehen wird, nicht blind ist, so wird er dies Wort darin eingegraben finden: ›Liebe‹.«

Darauf legte Herr von Migurac sich nieder und schlief friedlich ein paar Stunden. Er erwachte beim ersten Schein einer fahlen Morgendämmerung. Es war kalt. Der Tag war gekommen, an dem er aufhören würde zu sein. Dieser Gedanke schien ihm ernster. Sein Geist wandte sich mit Macht der dunkeln Zukunft zu, die ihn so oft beschäftigt hatte, und das große Ausruhen vom Irdischen schien ihm beneidenswert. Aber plötzlich erinnerte er sich seiner Kindheit und bekam Furcht vor dem Teufel und der Hölle und besann sich, daß alle Opfer der gegenwärtigen Drangsale als Katholiken starben.

Er erhob sich und kleidete sich in größter Bestürzung an. Plötzlich fand er in seiner Hosentasche ein vergessenes Zweisousstück. Er schlug sich vor die Stirn, als wenn ihm plötzlich ein Licht aufginge, und beschloß, das Schicksal zu befragen, wie er es in schwierigen Lebenslagen zu tun pflegte. Er warf es also in die Luft, und als es zu Boden gefallen war, bückte er sich, um es aufmerksam zu betrachten. Mit Genugtuung richtete er sich wieder auf, und als der Kerkermeister eintrat, um ihm sein Frühstück zu bringen, verlangte er nach einem Beichtvater.

Nach einigen Minuten stellte sich ein kleiner, schläfriger Priester ein. Voll kindlicher Einfalt beichtete Herr von Migurac und nahm das heilige Abendmahl.

Wie seine körperliche Vorbereitung, war nun auch seine seelische vollendet, und fortan wartete der Gefangene mit einer Art Ungeduld, daß die Feststunde schlüge. Man war pünktlich. Um ein Viertel vor Neun wurde die Tür der Zelle geöffnet. Durch eine Vergünstigung, die zu dieser Zeit nicht selten war, erreichte er, daß die Hände ihm nicht gefesselt wurden.

Das Volk der Gefangenen drängte sich entblößten Hauptes im Hof und Herr von Migurac schritt mitten hindurch und neigte den Kopf nach rechts und nach links, wie ein Monarch, der von seinen Höflingen Abschied nimmt. Beim Ueberschreiten der Portalschwelle blieb sein Fuß stecken, und er wäre beinahe gestürzt.

»Meiner Treu,« sagte er lächelnd zu dem Offizier, der ihn führte, »das ist eine böse Vorbedeutung. Vor Mitternacht wird mir ein Unfall zustoßen.«

Mittels eines Schemels bestieg er den offenen Karren, der seiner harrte. Er befand sich dort nicht allein; Madame de Cabry stand bereits darin und der Beichtvater neben ihr. Hinter ihm schwang sich ein schwarzer Mann hinauf: der Henker. Der Anblick der jungen Frau, die unter ihrem Batisthäubchen so entzückend weiß, blond und rosig aussah, preßte ihm das Herz zusammen. Madame de Cabry reichte ihm die Hand und merkte, wie er zitterte.

»Wohlan,« sagte sie, »wir werden im Tode vereint sein!«

Der Karren setzte sich in Bewegung. Die kleine Herzogin wäre fast gefallen und stützte sich gegen seine Schulter. Er fühlte die sanfte Wärme ihres lieblichen Körpers. Die Luft war frühlingslind, und eine ausgelassene Sonne tanzte am azurblauen Himmel. Die Gärten hauchten Duftwellen.

Als er inmitten dieser heiteren Natur die junge Frau betrachtete, diese zarte, auserlesene Blume, die abgemäht werden sollte, fühlte Herr von Migurac seinen Mut einen Augenblick sinken. Das Sterben schien ihm plötzlich empörend, und daß sie sterben sollte. Ihm schwebte die unaussprechliche Süßigkeit einer zärtlichen Verbindung vor, in der er friedlich, Herz an Herz neben einer Frau wie diese hier gelebt hätte. Sein Leben, mit dem er gestern noch zufrieden, auf das er fast stolz gewesen war, dünkte ihn abgeschmackt, sinnlos oder wohl gar schädlich. Nach den Grundsätzen, die er gepredigt, sollte ihm jetzt der Kopf abgeschlagen werden. Er lachte verächtlich, daß er die Menschen hatte bessern und beglücken wollen. Der Gedanke kam ihm, daß nichts schlimmer geworden wäre, wenn er nicht gelebt hätte, und daß er im Gegenteil, wenn er anders gelebt hätte, vielleicht Kinder und ein teures Andenken hinterlassen, und daß man ihm nachgeweint hätte. Es deuchte ihn schrecklich, nicht beweint zu werden. Und plötzlich faßte ihn ein maßloses Verlangen, dem Kutscher zuzuschreien: »Halt an! Kehr um! Ich muß mein Leben von neuem beginnen; ich habe etwas vergessen. Die Karten sind falsch verteilt; dies zählt nicht mit! Alles ist eitel, nur nicht eine einfache Liebe.«

Da flüsterte Madame de Cabrys holde Stimme:

»Was ist Ihnen?«

Er fuhr aus seinem Traume auf und strich sich mit der Hand über seine weißen Haarlocken.

»Ich mache Pläne für die Zukunft.« Und seine Augen auf die Menge richtend, seufzte er. Etwa dreißig zerlumpte Frauen und schmutzige Strolche liefen heulend hinter dem Wagen her; Trunkenheit lag auf ihren Gesichtern, und der Schaum stand ihnen vorm Munde; sie waren scheußlicher als die menschenfressenden Papuas. Einer von ihnen hob die Faust und schleuderte einen Kohlstrunk. Herr von Migurac beugte mechanisch den Kopf und der Unrat fiel auf die junge Frau. Der Marquis wurde zornrot und sagte zu dem schwarzen Mann:

»Man schädigt Sie! Sie allein haben ein Recht an uns. Verteidigen Sie Ihre Beute.«

Und während er den rasenden Pöbel betrachtete, der ihn mit Hohngelächter, Drohungen und unanständigen Gebärden beschimpfte, dachte er daran, daß er den gut und frei gewollt hatte, und entsann sich der Vögelchen, die er befreit hatte, und die gestorben waren. Was war denn Freiheit? Und von neuem krampfte eine gewaltige Angst, umsonst gelebt zu haben, sein Herz zusammen.

Doch als er aufblickte und das klare Gesicht von Madame de Cabry sah, entschwand sein Schmerz. Ein Menschendasein war gar wenig, und es war Eitelkeit, sich zu hoch einzuschätzen. Was bedeutete er? Oder ein andrer? Er hatte rechtschaffen gehandelt, wie es sein Herz ihm eingab. Er konnte dem Tod ins Gesicht sehen. An diesem Gedanken fand er einen Halt und verscheuchte die finstern Schatten.

Beide blieben den Rest der Fahrt hindurch unbeweglich; nur beim Anblick der Straßen und bekannten Läden tauschten sie verständnisvolle Blicke und einige Worte freundlicher Erinnerung aus.

Unter dem blauen Himmelsdom erschien der Platz; er war schwarz von Menschen. Ein Schrei aus zwanzigtausend Kehlen begrüßte den Karren. Herr von Migurac wechselte den Platz, um einen bretternen Gegenstand, der sich vor ihnen erhob, zu verdecken.

»Lassen Sie,« sagte Madame de Cabry, ohne zu erbleichen, »ich will sehen.«

»Pah,« entgegnete der Marquis, »es sieht aus wie eine Leiter.«

»Die zum Himmel führt,« sagte die Herzogin.

Herr von Migurac blickte mit unschlüssiger Miene nach oben. Das Firmament war so schön, daß es ihm unmöglich schien, daß Gott nicht existieren sollte; und von nun an glaubte er fest an ihn bis zu seinem Tode. Und aus Freude über diesen unerschütterlichen Glauben schnalzte er leise und befriedigt mit der Zunge. Der schwarze Mann musterte ihn verblüfft und fürchtete einen Ausbruch von Wahnsinn. Die bestürzte Miene des Folterknechtes entlockte Madame de Cabry ein Lächeln, das sie jedoch unterdrückte.

Der Wagen hielt an. Der schwarze Mann stieg ab und nach ihm der Beichtvater. Herr von Migurac folgte, und die beiden beiseite schiebend, beugte er das Knie vor Madame de Cabry, die sich darauf stützte und leicht wie ein Vogel auf die Erde hüpfte. Sie verneigte sich zum Dank. Der schwarze Mann ging vorwärts. Sie hielt ihn zurück.

»Ebenso wie in Versailles,« sagte sie, »haben die Damen hier den Vortritt.«

Sie machte ein trotziges Mäulchen, um ihren Willen zu haben.

»Da Sie es wünschen,« sagte Herr von Migurac.

»Danke,« entgegnete sie. »Umarmen Sie mich.«

Sie neigte ihren Hals, und plötzlich streifte sie mit ihren Lippen die des Marquis; dann nahm sie ihren Rock auf und sprang rasch die Holztreppe hinauf.

»Sie werden ihn mir im Paradiese wiedergeben,« rief sie.

Im Volk wurde ein anhaltendes Murren hörbar, einige schwere Tritte, ein dumpfes Geräusch wie von etwas Fallendem und dann ein stärkeres Murren, das sich bis ins Unendliche fortpflanzte.

Der Beichtvater trat vor Herrn von Migurac, um ihn seinerseits zu umarmen.

»O, nein!« sagte der Marquis.

Ohne sich zu beeilen, stieg er die Treppe hinauf, noch den Duft der rosigen Lippen auf den seinen spürend. Eine leise Freude legte Balsam auf sein Herz und blühte auf seinem Gesicht. Im Glanz der Maisonne tauchte er so strahlend schön und heiter vor der Menge empor, daß ein Schauer des Staunens sie durchlief. Und er empfand voller Wonne die Bewunderung der Menschen, die Liebe eines Weibes und Gottes Güte.

Aber der Henker übereilte sich. Er blieb an einem Pfosten hängen und war im Begriff zu fallen. Herr von Migurac hielt ihn am Arm fest.

»Zum Glück war ich da,« sagte er. »Was hätten Sie ohne mich angefangen?«

Der Mann war verwirrt, suchte sich zu fassen und sagte mechanisch:

»Haben Sie nichts mehr zu sagen?«

Herr von Migurac dachte eine Sekunde nach. Nein, ihn dünkte, daß er nichts mehr zu sagen hatte, nur noch zu sterben. Jedoch mit plötzlicher Bewegung legte er beide Hände auf die Lippen und breitete die Arme zu einer letzten Umarmung aus, in der er ohne Zweifel alles Leben und das segensreiche Werk der ganzen Natur umschloß. Dann überließ er sich dem Henker und streckte sich folgsam hin. Das Fallbeil fiel mit dumpfem Laut, und das Blut schoß in zwei Strahlen hervor. Der Mann faßte den Kopf an den weißen Locken und zeigte ihn der Menge, die keinen Beifall klatschte. Der Mund war zu einem Lächeln halb geöffnet.

Das war das Hinscheiden des Herrn von Migurac. Wir schließen mit Herrn Joineau:

»Ich werde mir nicht erlauben, über diesen unvergleichlichen Edelmann ein Urteil zu fällen. Möge es mir genügen, ihn in eine Reihe mit den ersten Geistern seines Jahrhunderts zu stellen. Denn ich zögere nicht, zu sagen, daß sich in ihm außer dem Ehrenmann, der er war, noch Stoff zu mehreren jener Ausnahmswesen fand, die die Griechen als Heroen bezeichneten, oder die die Päpste unter dem Namen Heilige kanonisierten. Keine Niederträchtigkeit befleckte seine Seele, in der der Kultus der Tugend blühte. Deshalb ist es mir auch ein Anlaß zum Staunen und zu immerwährendem Bedauern, daß es schwierig ist, nach dem Abschluß eines solchen Lebens eine dauernde Lehre daraus zu ziehen. Darin liegt ohne Zweifel eine geheime Absicht der Vorsehung, die da wollte, daß der Name des Marquis von Migurac als eigenartiges Beispiel der hohen Tugenden und der unglaublichen Wechselfälle seiner Zeit übrigblieb.«

Es ziemt uns, die Bescheidenheit des Abbé nachzuahmen. Und so nehmen wir denn von unsern Lesern Abschied, indem wir ihnen für ihre lange Geduld danken.


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