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Sechstes Kapitel.
Die Jahre nach dem Tode des Marquis Henri

Der Tod seines Herrn Vaters hatte auf Louis Lycurgue keineswegs die Wirkung, die die Marquise und der Abbé Joineau befürchteten. Da sie wußten, mit welch ausschließlicher Liebe er an dem Marquis hing, so besorgten sie, daß eine derartige Erschütterung der geistigen und leiblichen Gesundheit des Knaben schädlich sein möchte, und fürchteten namentlich, daß ihn seine kindliche Anhänglichkeit dazu treiben möchte, verderbliche Lehren aus den Büchern zu schöpfen, die dem Verblichenen teuer waren. Deshalb war es die erste Sorge der Marquise, sie in einem alten Koffer zu verstecken, nachdem sie erwogen hatte, ob sie nicht besser täte, sie sämtlich zu verbrennen.

Nach einigen Tagen der Niedergeschlagenheit jedoch gewann die kräftige, gesunde Natur Louis Lycurgues die Oberhand, und selbst seinen Frohsinn fand er mit solcher Schnelligkeit wieder, daß die Marquise daran Anstoß nahm. Denn sie vertrat die Ansicht, daß der Christ sich zwar bemühen solle, seinen Schmerz zu bemeistern und sich dem Willen der Vorsehung ohne Auflehnung zu unterwerfen; aber anderseits fand sie es auch schicklich, durch gemessene Haltung, ein bleiches Gesicht und schwarze Kleidung dem Toten die ihm gebührende Ehre zu erweisen. Deshalb sah man sie auch zwei Jahre lang nie Rot auflegen, ein farbiges Band tragen oder laut lachen. Und weil Louis Lycurgue die Ausbrüche seiner Heiterkeit nicht mäßigte, war sie nahe daran, ihn für entartet zu halten, doch täuschte sie sich darin, denn die Erinnerung an seinen Vater war für ihn unauslöschlich; aber seine feurige Jugend schrak vor dem Leiden zurück wie das Kind vor der Nacht. Die peinliche Vorsicht, mit der er die immer blutende Wunde zu berühren vermied, ja selbst die Heftigkeit, mit der er Vergnügungen zu suchen schien, hätten jedem, der die Triebfeder seiner Seele erkannt hätte, den sicheren Beweis seiner kindlichen Treue gegeben.

Die Marquise und der Abbé taten also alles, was sie konnten, um Louis Lycurgue den soeben verlorenen Erzieher zu ersetzen, und Madame Olympia hegte innerlich keinen Zweifel am Gelingen. Sie hatte sich von dem Einfluß des Vaters auf seinen Sohn von jeher mehr Schlechtes als Gutes prophezeit, da sie fürchtete, daß er ihn der Religion und den Ansichten, die einem Edelmann geziemen, abwendig machen möchte. Sie bedurfte jedoch kaum eines Monats, um ihren Irrtum zu ermessen und einzusehen, daß ohne die Hilfe des seligen Marquis weder sie noch Herr Joineau den Heranwachsenden genügend zügeln und unter ihren Willen bringen konnten.

Ersichtlich fing Louis Lycurgue schon früh an, die Unterweisungen, mit denen seine Mutter ihn fortgesetzt überschütten wollte, widerwillig zu ertragen, obwohl er zu gut geartet war, um ihr ungehorsam zu sein. Sein erwachender Verstand verachtete ihre Lehren, und sein männlicher Stolz empörte sich gegen jeden von einer Frau ausgehenden Zwang. Durch seine Anfälle von Kälte oder Heftigkeit zurückgeschreckt, mußte Madame Olympia von einem Monat zum andern die Zügel mehr lockern. Das Mißvergnügen, das sie darüber empfand, war nicht ganz ohne geheime Freude. Denn gerade die Ungeduld des Jünglings, selbständig zu werden, bewies ihr, daß er aus ihren Lehren Nutzen gezogen hatte.

Der Leser wird sich nicht darüber wundern, daß Herrn Joineaus Aufgabe ebenfalls leichter geworden war. Am Tage nach dem Tode des Marquis hatte Louis Lycurgue ihn von selbst im Studierzimmer wieder aufgesucht und sich mehrere Wochen lang mit ungewöhnlichem Eifer dort eingefunden. Aber ach, sein Eifer erlahmte bald. Die in einer Stunde der Trübsal gefaßten Vorsätze waren schnell verflogen, und das ausgelassene Temperament des Jünglings lockte ihn zu einem weniger gesetzten Zeitvertreib. Vergebens ermahnte ihn der Abbé schüchtern zu etwas mehr Beharrlichkeit. Nach und nach wurden die Vormittage selten, an denen Louis Lycurgue bereit war, mit halbem Ohr der Geschichte der Kirchenväter oder der Zusammensetzung des anapästischen Versfußes ein paar Minuten zuzuhören. Der Abbé, der jedem Zwang und Kampf abhold war, bestand nicht darauf und machte sich ein vorsichtiges, kluges Verfahren zur Regel, das den Pflichten seines Amtes und dem ausdrücklichen Willen seines jungen Herrn und Schülers gleichermaßen entsprach. Sobald er die Messe gelesen hatte, setzte er sich ins Arbeitszimmer und vertiefte sich eine Zeitlang zur Beruhigung seines Gewissens in das Studium einiger gehaltvoller Stellen. Dann stellte er fest, daß sein Zögling nicht erschien, sondern sich durch langen Schlaf von den Anstrengungen des letzten Tages erholte oder im Gegenteil mit Tagesgrauen aufgebrochen war, um Ringeltauben zu schießen. Dann nahm er seinen Hut und begab sich in den Park. Hier vertrieb er sich den Vormittag auf angenehme Weise, indem er auf den ländlichen Bänken einige Pfeifen schmauchte und mit den Mägden des Hauses oder irgendeinem Gärtner freundliche Reden tauschte. Oder er machte einen Spaziergang nach dem Hühnerhof oder dem Küchengarten und betrachtete mit wohlwollenden Blicken das Geflügel in den Verschlägen, das bald auf der Tafel erscheinen würde, und das Wachstum der Früchte und Gemüse, die seinem Gaumen munden sollten. Zuweilen wurde er bei Tisch von Gewissensbissen gepackt und befleißigte sich dann, seiner Unterhaltung eine gelehrte Wendung zu geben, oder frischte das Gedächtnis seines Schülers durch ein Zitat aus der Georgika oder aus Seneca auf. Dann kehrte er selbstzufrieden zu seinem Müßiggang zurück, und seine Gesundheit hielt damit so gut Schritt, daß er Jungfer Seraphine bitten mußte, seine sämtlichen Soutanen weiter machen zu lassen. Sein Hauptvergnügen war, in einen weichen Lehnstuhl behaglich hingegossen, seinem Schüler mit der fleischigen Hand einen nachsichtigen Abschiedsgruß zuzuwinken und ihm mit gerührtem Blick nachzusehen, wenn er auf einem guten tarbischen Pony, von der kläffenden Meute umringt, rasch und graziös davonsprengte.

Kurz, kaum über die Kindheit hinaus, machte Louis Lycurgue dem Unterricht von mehreren seiner Lehrer Ehre. Wenn er einen widerspenstigen Renner bändigte oder einen Hirsch hetzte, entfaltete er dieselbe jugendliche, bescheidene und selbstbewußte Leichtigkeit wie beim Tanzen eines Menuetts oder wenn er einer Dame die Hand küßte. Und Madame Olympia, die sich eines gewissen linkischen Wesens erinnerte, das der Marquis Henri nie hatte abschütteln können, schwoll die Brust vor Stolz, wenn sie sah, was sie aus ihrem Sohn gemacht hatte.

Uebrigens war sie nicht die einzige, die seine guten Manieren anerkannte. Je mehr Louis Lycurgue sich dem Mannesalter näherte, um so weniger erpicht war er auf bäuerlichen Verkehr, vielmehr fühlte er sich zur vornehmen Welt hingezogen und ließ sich darum nicht lange bitten, seine Mutter bei mehreren Besuchen in den Schlössern der Nachbarschaft zu begleiten. Mit einem Schlage löschte er alle die schlimmen Erinnerungen aus, die sein kindisches Ungestüm zurückgelassen hatte. Da er gefallsüchtig war, so sparte er nichts, um Gefallen zu erlangen, und ehe man sich's versah, waren alle Edelfräuleins und Witwen von Stand auf zehn Meilen in der Runde in ihn vernarrt. Nicht nur, weil er so artig und hübsch war und liebenswürdig in der Unterhaltung, sondern wegen eines gewissen persönlichen Zaubers, der seiner frischen Jugend die schärfere Würze der Kühnheit, des Lasters und des Ungewöhnlichen gab. Jedesmal, wenn die alte Herzogin von Brantillet, die dem Regenten sehr nahe gestanden hatte, den kleinen Marquis durch ihr viereckiges Augenglas aufs Korn nahm, lächelte sie gerührt und mit Kennermiene, leckte sich die Lippen und meckerte dabei, daß dieser Knabe ganz sicher etwas von Philipp von Orleans habe.

So von allen Seiten verzogen, wurde Louis in kürzester Frist einer der bekanntesten Kavaliere der Provinz. Er war noch nicht fünfzehn Jahre alt, als er schon zu allen Festen, Jagden, Picknicks und andern gesellschaftlichen Vergnügungen der Nachbarschaft gebeten wurde. Alles das ging nicht ohne einen gewissen Luxus in Kleidung und Marstall vonstatten; mehr als ein Pferd wurde zu Tode geritten, und die Schneiderrechnungen häuften sich. Aber Madame Olympia erhob keinen Einspruch dagegen. Solche Ausgaben waren dem Rang des jungen Mannes angemessen und brachten den Namen der Migurac zu Ehren. Es konnte nichts schaden, wenn die Bauernjungen, mit denen er ehemals Püffe ausgetauscht hatte, erfuhren, daß der Vicomte von Aubetorte Marquis von Migurac geworden war, und wenn sich in den Schlössern der Ruf seiner feinen Manieren und seines Aufwandes verbreitete. Und wenn sie manchmal versucht gewesen wäre, die Schnüre ihrer Börse fester zu ziehen, wie hätte sie der unbezwinglichen Anmut des hübschen Marquis widerstehen können! Die Haare mit dem Brenneisen gekräuselt und von Wohlgerüchen duftend, saß er wie ein Adonis in seinem pflaumenfarbenen, goldgestickten Samtwams ganz allein in der großen Familienkarosse. Ehe er aus dem Haupttor fuhr, versäumte er nicht, sich umzuwenden und ihr zuzulächeln und seinen kleinen Dreispitz zu lüften, während seine feinen Finger ihr unter den Spitzenmanschetten hervor eine Kußhand zuwarfen.


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